Georg Weissel, Johannes Daniel Falk und Johann Hinrich Wichern – drei hochbegabte Männer, die unsere Adventsund Weihnachtszeit bis heute prägen. Georg Weissel schrieb das Lied »Macht hoch die Tür«, Johannes Falk »O du fröhliche« und Johann Wichern erfand den Adventskranz. Alle drei Männer hatten ein Herz für Menschen in Not, alle drei schöpften aus ihrem Glauben die Kraft, sich für Veränderung einzusetzen. Teilweise wurden sie sogar zur Inspiration füreinander: Johannes Falk dichtete sein allseits bekanntes Weihnachtslied, um die unzähligen Waisenkinder zu erfreuen, die er bei sich aufgenommen hatte. Und es war unter anderem sein Vorbild, das Johann Wichern dazu inspirierte, sich Kindern aus schwierigen Verhältnissen anzunehmen, für die er dann den Adventskranz erfand.
Elisabeth Eberle erweckt in ihrem literarisch ausgereiften Stil die Geschichten
dieser Männer zum Leben und zeigt das Wirken Gottes über die Jahrhunderte hinweg auf.
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Das weite Tor
Die Geschichte eines Adventsliedes
Sturm
Er hatte sich nicht zu lange bei den Leuten aufgehalten. Während der letzten Tage hatte die Sonne auch nur bleich und sehr fern am Himmel gestanden, aber es war trocken und einigermaßen mild geblieben. Doch bereits am Morgen, als er sein Zuhause verlassen hatte, spürte er, dass das Wetter umschlagen würde. Trotzdem war er aufgebrochen, denn er hätte es sich nicht verzeihen können, wenn der Kranke, dessen Besuch der Grund seiner Wanderung gewesen war, sterben würde, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben.
Er wusste genau, wie lange einem der Rückweg werden konnte, schließlich ging man eine solche Strecke zweimal innerhalb nur weniger Stunden.
Aber er versüßte sich diese Anstrengung für lange Zeit mit Singen. Was wäre er nur ohne seine Musik?! Sie war eine wunderbare Gefährtin, eine Freundin. Eine, die erfrischte, wenn man müde war und neue Gedanken brauchte. Eine, die ermutigte, wenn man festzustecken schien und keine Lösungen in Aussicht waren. Und schließlich eine, die tröstete, wenn Trauer und Angst nach einem griffen. Zudem konnte man sie überallhin mitnehmen und trug so leicht an ihr.
Schon als Kind hatte er die Musik geliebt, und als er mit elf Jahren ohne Eltern in die Stadt gekommen war, um das Pädagogium zu besuchen, war dem Kapellmeister seine Singstimme aufgefallen. So wurde er früh in den Chor aufgenommen und lernte von Grund auf, musikalische Studien zu betreiben und später das Musikstudium aufzunehmen. Nicht zuletzt, weil es an manchen Tagen unablässig sang und dichtete in seinem Kopf, hatte er sich auch heute auf diesen langen Weg alleine gefreut. Beim strammen Gehen konnte er seinen Gedanken ungestört freien Lauf lassen, das weite Land vor Augen, das einen von nichts ablenkte.
In drei Wochen würde sein Kirchlein geweiht werden, am zweiten Adventssonntag, und er würde so gerne diesem für ihn und Agnes so wichtigen Beginn ein Lied widmen. Zuvorderst sollte es ein Ausdruck des Dankes und der Freude an Gott werden, die er tief in sich trug und die er nicht für sich behalten wollte. Er wünschte es sich so sehr, die nun vor ihm liegende Zeit als Seelsorger und Hirte einer eigenen Gemeinde nutzen zu können, um Glauben und Gottvertrauen zu stiften. Die Menschen brauchten Hoffnung und Trost! Wie froh waren sie, dass die Pestzeit überwunden war. Es war so furchtbar gewesen, dass alles zu entgleiten schien; in dieser Not hatten die Menschen zu Gott gerufen und gefleht. Aber nun, da die Krankheit und das sinnlose Sterben gebannt waren, verflüchtigte sich die Hinwendung zu Gott bereits wieder deutlich. Es schmerzte ihn und er würde es so gerne verändern. Aus diesem Grund hatte er auch den weiten und beschwerlichen Weg hinaus ins Haff auf sich genommen, um eines Menschen willen, der ihm am Herzen lag und der vielleicht sterben musste ohne Hoffnung auf ein ewiges Leben bei Gott. Es war doch nicht alles zu Ende mit diesen wenigen Jahren hier auf der Erde, von denen man nie wusste, wie lange sie dauern konnten.
Die ersten beiden Stunden war der Wind nicht auffällig gewesen, aber seit geraumer Zeit gewann er an Kraft. Er hatte sofort zur Kenntnis genommen, dass er aus einer anderen Richtung kam. War es nicht gerade noch Herbst gewesen? Der Apfel, den Agnes ihm als Proviant zugesteckt hatte, befand sich noch in seiner Tasche. Bestimmt war jetzt ein guter Zeitpunkt, ihn zu verzehren. Der Blick an den Himmel verhieß nichts Gutes. Die Wolken gingen immer tiefer, als zöge sie eine unsichtbare Hand erdwärts. Sie würden ihre Last nicht mehr lange zurückhalten, das war bereits deutlich zu erkennen. Es war eben einer dieser ostpreußischen Winter, der erneut über dem Land stand. Wer hier lebte, wusste, wie unerbittlich und lang diese Winter sein konnten. Auch er kannte sie, seit seiner Kinderzeit. Doch Kinder konnten ihnen genügend abgewinnen, um vergnügt zu sein. Wenn der Schnee sich türmte und das Land einhüllte, als hätten tausend Waschfrauen alles voller weißer Laken und Tücher gelegt. Wenn Flüsse und Teiche zufroren und man auf ihnen eislaufen konnte. Da ließen sich sogar die Erwachsenen hinauslocken – auch er liebte es immer noch, auf dem Eis dahinzugleiten. Zusammen mit Agnes war es noch schöner!
Er schlug ein schnelleres Tempo an, beförderte den Apfel zutage und biss herzhaft hinein. Eine köstliche Frucht! Er war so dankbar, dass er regelmäßig auch in Naturalien bezahlt wurde, denn hätte er diese Äpfel für bare Münzen kaufen müssen, würde er sie sich niemals leisten.
Nur zwei Jahre hatte er nach seinem ersten Studium als Rektor einer Lateinschule gearbeitet, aber das war nicht das, was seine Leidenschaft entfachte. Sein Feld waren die Wissenschaften. Also hatte er ein zweites Studium hier in Königsberg aufgenommen. Das Einzige, was ihm sehr zusetzte, waren die Lehrstreitigkeiten seiner Zeit. Schon während seines ersten Studiums hatten ihn die Zwistigkeiten zwischen den Lutherischen und Reformierten manchmal richtiggehend krank gemacht. Für Streit war er nicht geschaffen, seine Natur war wohl zu sanft dafür. Trotz dieser Unannehmlichkeiten hörte und arbeitete er sich tapfer durch alle Seminare und Vorlesungen.
Er liebte die Universität, nur die Bibel durfte sie ihm nicht verleiden. Dagegen kämpfte er an. Seine Mutter hatte in ihn den Grundstock eines tiefen Vertrauens in Gott gelegt. Sie lehrte ihn das ungekünstelte und kindliche Beten und brachte ihm die biblischen Erzählungen als das persönliche Reden Gottes mit den Menschen nahe. Christus war der Mittelpunkt, um den sich alles drehte und an dem sich wohl auch alles schied. Er war doch der Alleinige, auf den man sehen sollte und an dessen Wesen man wiederum ablesen konnte, was es bedeutete, geliebt zu werden und zu lieben.
Eines Tages hatte er beschlossen, die Universität zu verlassen und sich nach einer Pfarrstelle umzusehen. Er war dreiunddreißig Jahre alt geworden, bis er eine zugeteilt bekam, allerdings mit einer Kirche, die erst noch gebaut werden musste. Es war bis jetzt nur kleines sakrales Gebäude vorhanden, dessen Einweihung nun für den zweiten Advent vorgesehen war.
Obwohl er jetzt eine richtige Anstellung hatte, war sein Verdienst noch immer sehr gering, und einen ausbezahlten Lohn musste man für drei Monate einteilen, bevor der nächste kam. Nach großen Reichtümern gelüstete es ihn nicht, doch ein wenig mehr hätte er schon gerne für sich und Agnes gehabt. Sie wollten ja so gerne auch Kinder haben. Ein Pfarrhaus ohne solche schien ihnen ein wenig zu leblos zu sein.
Umso dankbarer war er seinem kurfürstlichen Landesherrn, dass ihm von diesem neben manchen Lebensmitteln auch die Amtskleidung zur Verfügung gestellt wurde.
Er aß den Apfel bis auf den letzten Rest. Nur den Stiel warf er weg. Noch einmal zog er sein Tempo ein ganzes Stück an. Die ersten kaum sichtbaren Flocken mahnten ihn dazu. Der Wind nahm mit jeder Minute zu und leider kam er nun wirklich aus der falschen Richtung – ihm entgegen. Die Umrisse der Stadt hatte er im flachen Land schon ahnen können, doch je dichter der Schleier des fallenden Schnees wurde, umso ferner rückten sie, auch wenn er wusste, dass es nur eine Täuschung war. Ihm war längst klar, dass keine Aussicht mehr bestand, auf so angenehme Weise zu seinem Zuhause zu gelangen, wie er es verlassen hatte. Er hoffte nur, dass Agnes sich nicht zu große Sorgen machen würde.
Es wurde ein Sturm, wie ihn niemand erwartet hatte. Draußen auf dem Land pfiff der Wind durch die strohgedeckten Katen; vorsorglich schloss man die Fensterläden und dennoch ging in manchen sogar das Herdfeuer aus. Das Federvieh war längst in seine Unterstände geflohen, während sich Kühe, Ziegen und Schafe eng aneinandergedrückt auf dem Boden niederließen und sich zusammenkauerten. Sträucher und Bäume bogen sich unter den gewaltigen Böen, die zwischendurch klangen wie ferner Kanonendonner.
Mit einer Schnur, die er in seiner Tasche fand, hatte er sich diese mitsamt seinem Umhang, so fest es ging, um die Taille gebunden. Die Hand, mit der er jeweils für einige Augenblicke seine Kapuze unter dem Kinn umklammerte, hatte er mit einem Taschentuch umwickelt, aber als er die Hände einmal zu wechseln versuchte, war das Tuch weggerissen worden und davongeflogen wie ein leichtes Stück Papier. Seitdem stachen die Schneeflocken auf dem Gesicht, in den Ohren, und der Wind wirbelte ihm so durch die Haare, dass es schmerzte. Um die Kapuze wieder über den Kopf ziehen zu können, musste er sich hinter einem Baumstamm stehend mit dem Rücken dorthin wenden, wo das Blasen herkam.
Erst nach langer Zeit fiel ihm auf, dass er ganz alleine war. Keine Menschenseele außer ihm schien unterwegs zu sein. Kein Fuhrwerk war auf der Straße, der er folgte, weder ein streunender Hund noch eine Krähe waren weit und breit zu entdecken. Er keuchte und rang um jeden Meter, den er sich der Stadt näherte. Und es wurde schon deutlich dunkel. Trotz seiner Anstrengung begann er langsam zu frieren. Doch so, wie er vorwärtskam, würde es ihn schätzungsweise noch eine halbe Stunde kosten, bis er die Stadt erreichte. Ob er doch Agnes’ Bedenken hätte ernster nehmen und den Besuch verschieben sollen? Er hatte den Kranken in einer besseren Verfassung vorgefunden, als er erwartet hatte, aber wie hätte er es wissen sollen? Der Tod war ein unberechenbarer Geselle, und das, was hier eben vor sich ging, ließ auf einen zeitigeren Wintereinbruch schließen als sonst. Denn oft waren gerade die Wochen vor Weihnachten eher die noch milderen. Also wollte er keine Reue aufkommen lassen wegen seiner Entscheidung. Er war es diesem Menschen schuldig, bei ihm gewesen zu sein.
Er kämpfte sich weiter vorwärts. Zu singen war ihm nicht mehr möglich, dazu reichte sein Atem nicht. Doch er hörte seine Melodien in seinen Gedanken und sang sich über diese guten Mut zu. Seine Erschöpfung fühlte er allerdings mehr und mehr.
Auch im Schutz der Stadt heulte und trieb der erste Winterbote die Schneeflocken wild zwischen den Mauern der Gassen und Häuser hindurch und sammelte sich in den Ecken und Eingängen der Gebäude. Er zerrte an Türen und Fenstern und riss schnell die letzten Blätter, die bis jetzt noch eisern standgehalten hatten, von den Bäumen in den Gärten. Längst hatte man die Kinder von den Straßen geholt. Die Marktleute hatten ihre Körbe in Sicherheit gebracht und die Kutscher Wagen und Pferde in die Ställe geführt. Die offenen Feuer der Schmiede waren gelöscht. Wer nicht unbedingt gezwungen war, nach draußen zu gehen, blieb in dem Haus, in dem er sich gerade befand. Alles, was nicht ordentlich befestigt war, schlug irgendwo dagegen; Gegenstände wie Eimer oder losgerissene Schilder wirbelten und schossen unberechenbar in der Luft herum. Es knallte und krachte mitunter ohrenbetäubend.
Die Schiffe waren zusätzlich vertäut worden, so gut es ging, doch es war ein schauerliches Heulen, Klagen und Krachen, das zwischen ihre Planken und Masten fuhr, über die Pregelmündung und das Hundegatt an den hohen Wänden der Waren- und Lagerhäuser entlanglief und laut über ihre Dächer hinweg schallte.
Der Spuk wollte nicht enden. Als Georg die ersten Häuser der Vorstadt erreichte und ein lautes „Gottlob!“ ausstieß, hätte er am liebsten aufgegeben, so kraftlos fühlte er sich. Seine Kapuze hielt er schon lange nicht mehr fest, zu klamm waren die Hände geworden.
Allein die Tatsache, dass er die Einsamkeit der Landschaft draußen überwunden hatte und unter Häusern und Menschen war, spornte ihn neu an. Es war niemand zu sehen, die Straßen waren menschenleer. Hätten nicht hinter den Fenstern die Lichter der Zimmer und Stuben geflackert, wäre es unheimlich und gespenstisch gewesen. Aber das Leuchten der Lampen zeugte von Leben und nahender Geborgenheit. Doch noch war er nicht zu Hause, im Gegenteil – bis zum Roßgarten war es noch weit. Zu weit, wie es ihm erschien. Es drängte ihn sehr danach, Agnes zu sehen und sie von ihrer Sorge um ihn zu erlösen, denn dass sie diese hatte, war ihm wohl bewusst. Sie war erst zwanzig Jahre alt und hielt so tapfer zu ihm, dem mittellosen Pfarrer, dass er am liebsten alle Schwierigkeiten von ihr abhalten und sie vor so manchen Widrigkeiten beschützen würde. Im Moment fühlte er zu seiner eigenen Erschöpfung zudem ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber. Er hätte noch etwas früher am Morgen aufbrechen sollen, doch das konnte er nicht mehr ändern. Nun, er würde seinen Weg über den Kneiphof nehmen, um ihn abzukürzen. Vielleicht konnte er ja eine kurze Rast ...
Zuflucht
Und dann sah Georg den ersten Menschen seit den letzten vergangenen Stunden. Für einen Moment fragte er sich, ob er fantasierte, denn er spürte sein Gesicht und seine Beine schon fast nicht mehr, es schien allein ein Mechanismus, der ihn trieb. Doch dieser Mensch, der da eben mit sichtlicher Anstrengung vor seinen Augen in Erscheinung trat, war echt. Er war in einen großen Umhang gehüllt, aber sein Kopf war wie der von Georg ohne Bedeckung. Und in diesem Moment erblickte dieser wohl auch ihn. Er winkte. Georg war, als würde er die letzten Meter fliegen.
Wenige Augenblicke später sank er auf einer der Bänke des Königsberger Doms nieder, die Worte und tiefe Stimme des kräftigen Glöckners noch im Ohr, als wären sie himmlische Musik: „Nur herein, egal ob Sie ein Kaufmann oder Tagelöhner sind. Das Haus des Königs aller Könige steht allen offen!“
Mit dem Einbruch der Nacht hatte sich der Sturm gelegt. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis Georg wieder durch und durch warm geworden war. Natürlich war Agnes in großer Sorge gewesen. Sie hatte ein gutes Herdfeuer gemacht und ihm mit heißem Wasser die Füße gewaschen. Er konnte es kaum erwarten, die warme Suppe, für die sie sogar ein paar winzige Stücke der würzigen Räucherwurst geopfert hatte, zu genießen. Er fühlte sich königlich reich und sehr wohl. Nach dem Essen überfiel ihn schlagartig eine schwere Müdigkeit. Doch bevor sie schlafen gehen wollten, bat er Agnes noch, ihm sein Notizbuch und den Federkiel an den Küchentisch zu bringen.
Unter dem Datum des Jahres 1623 notierte er: „Gewaltiger Wintersturm. Beschwerlicher Weg nach Hause.“ Darunter schrieb er ein paar Worte aus dem 24. Psalm:
Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist, der Erdboden und was darauf wohnt. Denn er hat ihn an die Meere gegründet und an den Wassern bereitet. Wer wird auf des Herrn Berg gehen, und wer wird stehen an seiner heiligen Stätte? ... Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehren einziehe! Wer ist derselbe König der Ehren? Es ist der HERR Zebaoth; er ist der König der Ehren.
Dann fielen ihm die Augen wie von selbst zu und Agnes schob vorsichtshalber ihren Arm unter den seinen, als sie zu ihrer Kammer hinaufstiegen. Was war sie glücklich, dass er heil nach Hause gekommen war! Er drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel und lachte. „Aber ein so ganz alter Mann bin ich noch nicht, oder?“
Einsamkeit
Der Kaufmann Sturgis wanderte in dem Saal umher, hinter dem seine Präsentierstube lag, in der er für gewöhnlich Kaufmannskollegen und Geschäftspartner empfing, wenn er in speziellen Fällen darauf Wert legte, dies außerhalb seines Kontors zu tun. Verärgerung machte sich in ihm breit. Am Vormittag war ihm endgültig ein Geschäft entglitten, dem er wochenlang auf der Spur gewesen war und das ihn viel Mühe, vor allem aber gesellschaftliche Anstrengung gekostet hatte. Er scheute diese und wusste auch, warum. Die Patrizier konnten ihn nicht leiden. Sein Familienstammbuch war nicht voll gespickt mit ehrwürdigen Namen, so wie die ihren. Er hatte sich emporarbeiten müssen, die goldenen Münzen waren in seiner Wiege nicht zu finden gewesen – wohl aber Hartnäckigkeit. Mit viel Fleiß und dem Glück, ein paar gute Handelsabschlüsse zur richtigen Zeit getätigt zu haben, hatte er es dennoch zu beachtlichem Wohlstand gebracht und konnte, was das anbetraf, ihnen allen schon lange das Wasser reichen.
Er gehörte zu ihrem Stand zumindest dem Reichtum nach und das musste er ihnen begreiflich machen. Er war nun einmal nicht mehr zu übergehen und schon gar nicht zu übersehen. Dass ihm der Platz verweigert worden war, auf den er so lange ein Auge geworfen hatte, um sich ein Haus darauf zu errichten, das seinem Vermögen entsprach, nahm er dem Rat der Stadt bis heute übel. Nur musste man ja immer freundlich tun, um dessen Gunst nicht zu verlieren – und genau das erregte seinen Unmut. Er hasste es, Kratzfüße zu machen und sich anzubiedern. Und wenn dann, wie vor ein paar Stunden, doch nur eine Niederlage dabei herauskam, konnten die Pferde mit ihm durchgehen. Meist hielt er seine Wut einigermaßen im Zügel, bis er daheim war, doch dann? Nun! Knechte und Dienstmägde gab es genug. Sogar Hausdiener und Köchinnen – was machte es schon, wenn er in seinen Zornesausbrüchen den einen oder anderen von ihnen in hohem Bogen hinauswarf! Die normale Bevölkerung schwamm in diesen Zeiten nicht gerade in fettem Öl und es wurde immer Arbeit gesucht.
Abgesehen davon: Das war noch etwas, was seiner Laune keinerlei Aufschwung verlieh. Diese Hungerleider, die sich für seinen Geschmack viel zu nahe in seiner Nachbarschaft befanden. Denn eines der Roßgärter Armen- und Siechenheime lag so, dass dessen Bewohner stets an seinem Haus vorbeikamen. Das Heim grenzte an ein Stück Land, über das ein Weg in die Stadt führte. Weil dieser Weg eine Abkürzung bedeutete, wurde er immer von den Armenhäuslern genommen, wenn sie Besorgungen machten. Aber er mochte nun einmal ihren Anblick nicht täglich vor Augen haben. Es war schon schlimm genug, dass sie so lebten; was musste es einem dauernd vorgeführt werden? Im vorigen Jahr hatte er das Wiesenstück vor seinem Haus kurzerhand gekauft und im Frühjahr daraus einen Park anlegen lassen. Nun umgab ein Zaun den Grund, den er mit einem großen, reich verzierten Tor auf der Vorderseite hatte abschließen lassen, der Repräsentation halber. Dagegen führte nur ein kleines, unscheinbares Türchen zu seinem rückwärtigen Hausgarten, von dem aus er selbst unauffällig sein Grundstück verlassen und schnell zu Fuß in die Stadt verschwinden konnte.
Natürlich war ihm sofort zu Ohren gekommen, dass die Armenhäusler sich bitter beklagt hatten über diese neuen Umstände. Der Umweg, den sie ab jetzt nehmen müssten, sei für die meisten von ihnen nun viel zu lang und beschwerlich! Er hatte nur gelacht, als man ihm dies vor einigen Wochen alles vorgetragen hatte. Nun, mit der Beschwerde waren sie wohl gerade richtig bei diesem Pfarrer, der seit Neuestem in der kleinen Kapelle hinter dem Gelände der Hungerleider residierte, die sich zwar schon Kirche nannte, aber doch eigentlich keine war. Ha!
Doch selbst die Bitten einiger angesehener Bürger, den Weg wenigstens für die Alten und besonders Fußkranken freizugeben, beschied er ablehnend. Würden sie etwa dieses Gesindel täglich auf ihren Grundstücken sehen wollen? Nein! Er blieb dabei: Der Weg ging von nun an draußen vorbei. Sollten sich diese Menschen doch nicht so haben!
In regelmäßigen Abständen gab er etwas für die Mittellosen und Kranken; das konnte jedermann nachlesen. In keinem Jahr fehlte sein Name auf den öffentlichen Listen der Spender. Und als ob dies nicht genug des Beweises für seine Großzügigkeit war, lud er diese Leute auch noch in sein Haus ein, wenn sie alljährlich an den Adventssonntagen in Begleitung des Kirchenchores in einem langen Zug durch die Stadt zogen und vor den Häusern ihrer Wohltäter sangen. Dieser Dank wog natürlich keinen Bruchteil dessen auf, was er es sich kosten ließ, diese Leute zu bewirten. Außerdem war der Gesang für sein Urteil manchmal reichlich dünn und schief und klang nicht sehr erhaben. Genauso jämmerlich eben wie diese Gestalten. Doch er ließ sich nicht lumpen, wenn sie bei ihm einkehrten. Er tischte ihnen die erlesensten Speisen auf, deren Namen sie nicht einmal kannten, und ließ sein ganzes Haus weihnachtlich ausstaffieren. Was also verlangten sie noch von ihm?
Sturgis’ Blick blieb an seinem Porträt hängen, welches er vor wenigen Monaten für einen stattlichen Betrag von einem Maler hatte anfertigen lassen. Wenigstens sah er auch stattlich aus, wie er so dastand und aus dem kunstvoll gefertigten Rahmen sah, selbstsicher und stolz. Für den nächsten Sonnabend hatte er zu einem vorweihnachtlichen Empfang geladen; dieser war von höchster Wichtigkeit, was seine gesellschaftliche Akzeptanz anbetraf. Ach, er hasste es! Doch möglicherweise ließe sich auch kurz vor Ende des Jahres noch ein gutes Geschäft herausschlagen, bevor die Bilanzen gemacht wurden, und darauf spekulierte er auch bei diesen Gelegenheiten. Man musste immer auf der Hut sein!
Es musste alles noch geschmückt werden. Warum war eigentlich nicht schon längst etwas davon zu sehen? Das Haus war still, zu still. Er lauschte angestrengt. Aber da war nichts. Es war alles wie immer. Wie immer – nichts. Niemand. Das Zimmer war dunkel. Dunkel und still. Wenn er ehrlich war, war es unerträglich still. Unheimlich still. Er begann wieder, auf und ab zu gehen.
Dann nahm er für ein paar Momente an seinem mächtigen Tisch Platz und ließ seinen Blick an den Wänden entlanggleiten. Draußen schneite es, was sogar durch die gewölbten Buntglasfenster zu erkennen war. Seit diesem Sturm vor vierzehn Tagen hatte der Winter Stadt und Land nicht mehr losgelassen. Es war empfindlich kalt und auch hier drinnen war es kühl, zu kühl. Genauso unerträglich kühl, wie es unerträglich still war. Er spürte, wie ein leichtes Schauern über seinen Nacken fuhr, dann straffte er seine Schultern und erhob sich wieder.
Diese ungeheure Ruhe im Haus erregte seinen Verdacht und ließ seinen Ärger wegen des verpatzten Geschäftes und wegen der Armen erneut aufflammen. War er etwa für einen Moment rührselig gewesen? Er, Sturgis?
Dieser Reglosigkeit, die im ganzen Haus zu herrschen schien, musste er unverzüglich auf den Grund gehen. Nichts lief von allein, wenn man sich nicht selbst kümmerte. Was war er nur von einem Haufen von Taugenichtsen umgeben! Das Siechenhaus war dort draußen und nicht hier drinnen. Hier gab es etwas zu tun! Er erhob sich und ging entschlossenen Schrittes zur Tür.
Weder die Köchin noch den Hausdiener musste er hi- nauswerfen. Sie hatten das Haus schon vorgestern verlassen, sagte das Küchenmädchen, freiwillig. Sturgis hätte beinahe dem Mädchen geradewegs ins Gesicht geschlagen, aber irgendetwas wollte ihn davon abhalten. Als seine Hand schon verdächtig zuckte, hatte er auf einmal das Gesicht seines Porträts vor sich, oben im Saal, das ihm direkt in die Augen sah.
Er stürmte nach draußen und lief zu den Stallungen, wo seine beiden Pferde und sein Wagen standen. Er würde anspannen lassen und für eine Stunde hinausfahren. Diesem vermaledeiten Haus entfliehen, wo einen die eigenen Bediensteten einfach so verließen und man von seinem eigenen Porträt angestarrt wurde, als wäre man noch immer ein dummer Schuljunge. Doch auch der Kutschknecht war verschwunden. Allein die Pferde dampften vor sich hin und sahen ihn aus ihren großen Augen stumm an. Sturgis griff sich an seinen Kragen und lockerte ihn. Dann sah er sich um und entdeckte die Forke. Eine Weile arbeitete er wie ein Wilder. Dann hatte er die Pferdeäpfel und das nasse Stroh mit der Mistkarre auf den Haufen befördert und frisch eingestreut. Augen und Ohren der beiden Rappen gingen während dieser Minuten unruhig hin und her, sie trafen ihren Herrn höchstselten in ihrem Stall an und seine Geschäftigkeit schien ihnen nicht ganz geheuer. Aber sie verhielten sich still. Sturgis war heftig ins Schwitzen geraten, solche Arbeit war er längst nicht mehr gewohnt. Allerdings, so registrierte er nach einer Weile, als er einige Male zwischen Stall und Mistecke hin und her gegangen war, beherrschte er sie noch – ohne nachzudenken. Wie lange war das her, seitdem er ein Junge gewesen war und als Stallbursche im Haus von Löwenicht gearbeitet hatte? Es musste ein anderes Leben gewesen sein. Aber er liebte es, bei den Pferden zu sein, und hatte sich damals so sehnsüchtig gewünscht, selbst welche zu besitzen.
Nun hatte er sie. Sie und noch viel mehr. Ein Haus, das sich wahrhaftig sehen lassen konnte. Speicher, die gefüllt waren, und Bücher voll schwarzer Zahlen.
Ohne Zweifel, er war das geworden, was er sich irgendwann geschworen hatte: ein reicher Mann. Doch das war es auch schon. Sonst fühlte er nichts mehr von dem schlichten Glück seiner Knabenzeit in den Pferdeställen und unter den Handwerkern der Hansestadt.
Er knüpfte sein weißes Tuch vom Hals und wischte sich die Stirn. War er etwa gerade zum zweiten Mal an diesem Tag rührselig geworden? Was sollte das?
Er stopfte das Tuch in seine Rocktasche und fuhr den beiden Rappen über die Nüstern.
„Bis morgen!“, hörte er sich sagen und erschrak ein wenig über den Klang seiner eigenen Stimme. Irgendetwas war an der Zeit, geändert werden zu müssen, dachte er. Wenn er nur wüsste, was.
Er verließ Stall und Pferde und stapfte zurück zum Haus. Zuallererst würde er sich jetzt das Küchenmädchen vorknöpfen. Vielleicht würde es ihm helfen können, neues Personal zu finden. Er brauchte eine neue Mamsell und einen Hausdiener. Unmöglich würde er sich am Sonnabend vor seinen Handelskollegen und den Ratsherren blamieren können, indem der Empfang nur mittelmäßig ausfiel. Diese Freude würde er ihnen bestimmt nicht gönnen! Niemals!
Sturgis betrat durch einen Seiteneingang die riesige Diele. War denn niemand imstande, hier ein Licht anzuzünden? Wo musste er nur nach diesem Küchenmädchen suchen? Als wäre es nicht schon genug, fiel ihm genau in diesem Moment ein, dass am Sonntag bereits auch der vierte Advent war, an dem für gewöhnlich der Kirchenchor und die Armenhäusler auftauchten und bewirtet werden mussten. Also musste unverzüglich etwas getan werden.
Er holte Luft. „Babette!“ Der Hall war schauerlich. „Oder wie du auch immer heißt!“
„Ida, Herr Sturgis“, hauchte das Wesen, das wie ein Flaschengeist urplötzlich erschienen war, während es einen so tiefen Knicks machte, dass er schon befürchtete, es ginge ganz zu Boden.
Hatten sie hier denn alle Angst vor ihm?
Elisabeth Eberle
Elisabeth Eberle arbeitete nach einer Ausbildung im Bibliothekswesen im Buchhandel und machte sich dann als Autorin selbstständig. Seit einigen Jahren betreibt sie einen literarischen Salon, in dem sie Vorträge aus dem Bereich Literatur, Kunst und Geschichte hält, und ist mit diesen Vorträgen auch auf Reisen. Sie ist verheiratet, zweifache Mutter und lebt in Süddeutschland.
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