Um seinen Betrieb vor der Pleite zu retten, geht Zimmermann Simon Kepler aufs Ganze. Ein Großauftrag muss her. Das riesige Kirchdach wäre genau das Richtige, doch wer sponsert so etwas? Simon kann sein Glück kaum fassen, als sein Bekannter Heinrich einwilligt. Der wohlhabende Fabrikant stellt allerdings eine Bedingung:
Die alte Tradition der weihnachtlichen Krippenspiele muss wiederbelebt werden und er selbst liebäugelt mit der Rolle des Josef. Nun, da hilft alles nichts. Kurzerhand mutiert der Zimmermann Simon zum Regisseur.
Doch bald geht es um so viel mehr als nur ums liebe Geld ...
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Kapitel 1
Es war im Herbst, Ende September oder Anfang Oktober, als die Geschichte ihren Anfang nahm.
Ich hatte beim Sägewerk mit unserem LKW Balken geholt und fuhr auf den Hof unserer Zimmermannswerkstatt, doch merkwürdigerweise arbeitete dort niemand oder wartete darauf, die Balken mit mir zusammen abzuladen.
Ich hielt den Wagen an und stieg aus.
Dann sah ich sie. Alle. Alle – das heißt: meinen Vater Georg in seinem Rollstuhl, meine Frau Tina mit unserer Tochter Klara und meine zwei Mitarbeiter, Herkules und Sokrates.
Die beiden heißen natürlich nicht wirklich so. Aber Tina nennt sie immer so, weil Karl so groß und stark ist wie Herkules und Thomas so schlau wie Sokrates. Wobei ich allerdings vermute, dass die Vergleiche nicht ganz passen, denn Herkules war ja nicht nur stark, sondern auch listig.
Und List oder Schläue ist so ziemlich das Letzte, was man mit Karl in Verbindung bringt. Allerdings ist das mit der Kraft durchaus zutreffend, denn Karl trägt einen Balken alleine, den sonst zwei Mann heben müssen. Darum freue ich mich, dass ich ihn habe.
Und Thomas ist natürlich auch kein echter Philosoph wie der alte Sokrates. Obwohl er zum Grübeln und Philosophieren neigt – besonders, wenn es ums Arbeiten geht. Immerhin ist er aber sehr genau und zuverlässig. Tina sagt manchmal, er sei ein Pedant. Ich würde es zwar nicht so ausdrücken, aber es kommt durchaus vor, dass er mit seiner Umständlichkeit nervt.
Die fünf standen also alle in einer Reihe auf dem Hof und kehrten mir den Rücken zu.
Was gab es denn da so Spannendes zu sehen? Das alte Haus, in dem früher oben meine Eltern und Großeltern gewohnt hatten, konnte es ja nicht sein. Die Räume standen jetzt leer, nur im Erdgeschoss und im ersten Stock hatten wir Material gelagert.
Dann sah ich es: Oben im zweiten Stock war das kleine Toilettenfenster offen und heraus guckte mein Sohn Philipp, vier Jahre alt. Er weinte.
„Was ist denn hier los?“, fragte ich, als ich neben den anderen stand.
„Philipp ist da oben“, antwortete Tina.
„Das sehe ich. Und?“
„Er kann nicht raus. Er hat sich im Klo eingeschlossen. Unfreiwillig. Ich war schon oben und habe ihm durch die geschlossene Tür zu erklären versucht, was er machen muss, um die Tür wieder aufzukriegen, aber er begreift es anscheinend nicht. Oder … er kriegt es jedenfalls nicht hin.“
„Wieso ist er überhaupt da oben? Wenn er mal muss, gibt es doch hier unten einfachere Möglichkeiten.“
Als Tina nicht antwortete, sagte mein Vater: „Das ist eine längere Geschichte. Die können wir später erzählen. Jetzt sollten wir erst einmal zusehen, dass wir ihn da rausholen.“
Inzwischen hatte Herkules eine lange Leiter gebracht. Sokrates half ihm, sie an die Hauswand zu lehnen und wollte nun hinaufsteigen.
„Moment!“, hielt ich ihn zurück. „Das ist meine Aufgabe. Ich bin schließlich der Vater von diesem Bengel.“
Sokrates alias Thomas machte bereitwillig Platz und ich begann die Sprossen hinaufzusteigen.
„Sei vorsichtig!“, rief Tina mir zu. Diese Bemerkung schien mir keines Kommentars würdig zu sein. Glaubte sie etwa, ich würde unvorsichtig auf der Leiter herumturnen? Oder gar Philipp fallen lassen?
Mein Vater überlegte laut: „Vielleicht sollten wir doch lieber die Tür aufbrechen! Sie wäre sowieso kein großer Verlust, weil keiner mehr da oben wohnt.“
Aber auch zu diesem Vorschlag sagte ich nichts, sondern stieg einfach weiter. Er hatte zwar nicht ganz unrecht, aber wie sähe das denn aus, wenn ich mich jetzt, auf halber Strecke, anders besinnen und wieder herunterklettern würde! Als ob ich Angst hätte. Ich, der Zimmermann, der sein halbes Leben auf Leitern und Balken in luftiger Höhe zugebracht hat!
Oben angekommen, redete ich beruhigend auf Philipp ein. „Keine Angst, mein Junge, ich hole dich da raus! Ich kann nicht zu dir reinkommen, dafür ist das Fenster zu klein. Aber du kannst rauskrabbeln und ich nehme dich hier in Empfang. Das klappt schon, du wirst sehen! Keine Angst, du fällst nicht, ich halte dich!“
Philipp stieß zwischen herzerweichenden Schluchzern hervor: „Ich hab … hab doch … keine Angst, dass ich … dass ich runterfalle. Nur, dass ihr mir böse seid.“
Ach ja, die Vorgeschichte, die ich noch nicht kannte, aber später erfahren sollte.
„Moment!“, hörte ich hinter mir jemanden rufen. Sokrates war mir nachgeklettert und brachte die Gurte, mit denen wir uns auf den Dächern in gefährlichen Situationen sichern.
„Danke, Thomas!“ Ich legte den Gurt an und befestigte das dafür vorgesehene Stück an der Leiter. „So, und jetzt wieder runter mit dir! Es müssen ja nicht drei Personen auf der Leiter stehen.“
Sokrates stieg hinab und teilte sich anschließend mit seinem Kollegen die Aufgabe, unten im Hof den Stand der Leiter zu sichern.
Ich schlug auch einen Gurt um Philipp, der mit dem Schluchzen aufgehört hatte und nun an der Aktion Gefallen zu finden schien. Ich zog ihn aus der engen Fensteröffnung und nahm ihn auf den Arm.
„Halte dich gut an mir fest!“
Gemeinsam stiegen wir hinunter.
Unten angekommen, riss Tina mir den Jungen buchstäblich aus dem Arm – jedoch ohne die Sicherungsverbindung zwischen uns zu lösen, sodass ich notgedrungen auch in ihre Arme stürzte. Sokrates eilte uns zu Hilfe und befreite uns.
„Philipp, mein Liebling! Wie gut, dass ich dich wiederhabe! Was machst du denn auch für Dummheiten! Dass du so was nie wieder machst, hörst du!“
Der Junge hielt es wohl instinktiv in dieser Situation für angebracht, noch einmal in lautes Weinen auszubrechen – in dem unbestimmten Gefühl, dass ihm Weinen unser Mitleid einbrachte und dies wiederum eine eventuelle Strafe milder ausfallen ließ.
„So“, sagte ich energisch, „jetzt möchte ich aber die Vorgeschichte hören!“
„Gehen wir rein“, schlug Tina vor.
„Und ihr beide ladet den LKW ab!“, wies ich meine Mitarbeiter an.
Sogleich machten sich Herkules und Sokrates ans Werk, Papa rollte zu seiner Wohnung und ich ging mit meiner Frau und den zwei Kindern in unser trautes Heim.
Dann saßen Tina, Klara, Philipp und ich am Tisch.
„Jetzt erzähl du mal Papa, was war!“, sagte Tina zu ihrem Sohn.
„Erzähl du!“, bat der.
„Nein, du!“
Philipp rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. „Ich hab eine Kerze angemacht“, sagte er schließlich.
Damit schien sein Bericht abgeschlossen zu sein, denn nun schwieg er.
„Ja, und?“
„Dann bin ich damit rumgegangen.“
Klara ergänzte: „Durch die Werkstatt und das Holzlager!“
Tina sagte: „Sei du mal still, Klara! Und, Philipp? Was war dann?“
„Ich hab dazu gesungen: Ich bin der Engel Gabriel.“
Ich verkniff mir angestrengt das Lachen. Tina warf mir einen strengen Blick zu, wie um sich vom Erfolg meiner Bemühungen zu überzeugen.
„Auf einmal haben alle furchtbar geschimpft. Und da hab ich einen totalen Schreck gekriegt.“
Tina fügte hinzu: „Sokrates rief laut: Was machst du denn da! Mach sofort die Kerze aus! Das lockte alle anderen herbei, auch mich und sogar Vater in seinem Rollstuhl. Alle schimpften, außer Herkules. Der lachte, dass es nur so dröhnte. Ich weiß nicht, ob Philipp sich durch das Lachen beleidigt fühlte oder durch das Geschrei der anderen erschreckt und geängstigt. Jedenfalls rannte er los, mit der Kerze in der Hand, die dabei aber glücklicherweise ausging. Er flüchtete ins Haus, wo er ja manchmal oben ganz allein spielt. Und als ich hinterherrannte, schloss er sich im Klo ein.“
„Und konnte dann nicht mehr raus?“
„Ich weiß nicht, ob er den Schlüssel abgezogen hatte und ihn dann nicht mehr ins Schloss bekam, oder ob er ihn nach der verkehrten Seite gedreht hat, oder was sonst.“
„Aber Philipp!“, empörte ich mich pflichtschuldig. „Du kannst doch nicht mit einer brennenden Kerze rumlaufen, wo überall Holz und Hobelspäne liegen! Wie schnell kann da ein Feuer entstehen und alles verbrennt!“
„Ich hab doch gespielt, ich wäre ein Engel …“
„Der Engel Gabriel, ich weiß. Aber das geht nicht! Stell dir vor, unsere ganze Werkstatt und das Haus dazu wären abgebrannt! Wir hätten keine Wohnung mehr! Und am Ende hätte es noch sein können, dass du auch verbrannt wärst. Es ist ja schön, wenn du einen Engel spielen willst, aber so etwas hätte der echte Engel Gabriel niemals getan!“
„Entschuldigung!“, murmelte Philipp leise vor sich hin.
Tina knurrte noch leiser, sodass nur ich es verstehen konnte: „Es sei denn, der Engel Gabriel wüsste, dass unsere schlecht laufende Zimmermannswerkstatt gut versichert ist, und wollte uns etwas Gutes tun.“
„Tina!“, stieß ich hervor.
Klara fragte: „Was hast du gesagt, Mama?“
Ich antwortete: „Schon gut. Wenn du verstanden hättest, was sie gesagt hat, würdest du es hoffentlich doch nicht verstehen.“
„Das verstehe ich nicht.“
Ihre Mutter antwortete: „Ist nicht so wichtig. Ihr beide könnt jetzt gehen und draußen spielen. Aber nicht mit Feuer!“
Unsere Kinder verließen die Küche, Philipp sehr eilig, froh, so glimpflich davongekommen zu sein, und die zehnjährige Klara langsam, tief versunken in ihre Überlegungen, was ihre Eltern da wohl Geheimnisvolles besprochen hatten.
„Tina“, sagte ich noch einmal, als wir allein waren. „So was wollen wir nicht einmal denken!“
„Nein, nein“, antwortete sie. „Ich will es ja auch nicht denken. Aber du kennst ja den Spruch, angeblich von Luther, den dein Vater so gern zitiert, wenn es um die schlechten Gedanken geht: Man kann nicht verhindern, dass die Vögel über unsere Köpfe fliegen, aber man kann verhindern, dass sie darauf Nester bauen.“
„Unser Betrieb! Wenn sich so etwas nicht schon aus juristischen oder gar moralischen Gründen verbieten würde, dann wenigstens darum, weil er schon seit drei Generationen im Familienbesitz ist. Die Werkstatt gehört sozusagen zu uns. Zimmermann und Kepler – das gehört einfach zusammen!“
Tina nickte nur schweigend.
Schon mein Großvater hatte die Werkstatt gegründet. Dann hatte mein Vater sie übernommen, bis er die Arbeit wegen seines kaputten Rückens nicht mehr fortführen konnte.
Von Angehörigen der früheren Generation wurde erzählt, dass mein Vater nur ungern den Beruf des Zimmermanns ergriffen hatte und lieber Schriftsteller geworden wäre. Er hatte schon als Kind gern Geschichten erzählt und zum Teil auch aufgeschrieben. Einige seiner literarischen Fingerübungen, in kindlicher Handschrift festgehalten, liegen noch in einer Schublade in meinem Zimmer. Mein Vater wollte sie wegwerfen, aber ich habe sie gerettet. Von zwei Romanen, die wahrscheinlich spannend geworden wären, gab es jeweils schon eine ausführliche Inhaltsbeschreibung. Eine große Zahl von Zetteln mit Gedichten belegte seine frühe poetische Ader – lustige Verse eines dreizehn, vierzehn oder fünfzehn Jahre alten Jungen.
Doch leider wurde es nichts mit der Schriftstellerei. Außer einem ausführlichen Bericht aus den Tagen seiner Walz hat er sein Talent in späteren Jahren nicht mehr ausgelebt. Seine Aufgaben als Zimmermann ließen ihm keine Zeit dafür.
Dann war ich an der Reihe, die Werkstatt zu übernehmen, ich, Simon Kepler. Ich war gerade von der Walz zurückgekehrt. Genauso, wie es in unserem Gewerbe üblich ist, in der schwarzen Weste mit der Doppelreihe silberner Knöpfe.
Die frommen Frauen in meiner Familie, meine Oma und meine Mutter, waren zwar dagegen gewesen. „Wer weiß, in welch finstere Gesellschaft der Junge geraten kann!“ Die Männer – Vater und Großvater – hatten nicht nur argumentiert, dass dies nun mal zu dem Beruf gehöre, sondern dass auch Jesus ein Zimmermann gewesen und im Land Israel umhergezogen sei. Dass seine Wanderungen in Israel eigentlich nichts mit dem Zimmermannsberuf zu tun hatten, ging in der hitzigen Debatte unter.
Jedenfalls hatten die Männer sich durchgesetzt und ich ging auf die Walz. Und war anschließend verantwortlich für unseren Betrieb. Die Großeltern und auch meine Mutter lebten inzwischen nicht mehr. Nur Vater fährt mit seinem Rollstuhl immer noch über unser Gelände und sieht überall nach dem Rechten, vor allem, wenn ich nicht da bin. Doch leider nicht nur dann.
In diesem Moment klopfte Sokrates an die Tür. Schon am Klopfen war zu erkennen, dass es Thomas war, der vor der Tür stand. Denn alle anderen, einschließlich Herkules, pflegten in die Küche zu kommen ohne anzuklopfen.
„Chef, das Auto ist abgeladen. Ich hab’s schon wieder nach hinten gefahren. Sollen wir die Leiter wieder wegbringen? Sie lehnt noch an der Hauswand.“
„Ja, natürlich!“
„Ich dachte nur, du wolltest noch mal rauf.“
„Ich? Noch mal die Leiter rauf? Wieso das denn? Der Junge ist doch glücklich gerettet.“
„Um die Klotür von innen aufzuschließen. Sonst müssen wir sie doch noch aufbrechen und dann wäre die ganze Rettungsaktion umsonst gewesen.“
„Ach so. Ja, du hast recht. Hm. Aber ich passe nicht durch das Fenster. Das ist viel zu schmal. Du auch nicht und Karl erst recht nicht.“
Tina mischte sich ein: „Brecht die Tür auf! Die alte Toilette da oben benutzt doch eh keiner. Und sollte mal wieder jemand in die Wohnung einziehen, müsste sowieso einiges renoviert werden.“
„Sicher“, überlegte ich laut, „aber Thomas hat recht. Dann wäre die ganze Sache mit der Leiter umsonst gewesen.“
„War sie dann wohl auch. Aber wenn wir zu blöd waren, vorher daran zu denken, können wir unserer unsinnigen Aktion nicht nachträglich einen Sinn geben.“
„Es sei denn …“, meinte unser verhinderter Philosoph, der Tinas Gedankengang schneller begriffen hatte als ich, „wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Chef?“
„Bitte!“
„Klara könnte raufklettern. Die passt sicher durch das Fenster.“
„Kommt gar nicht infrage!“, empörte sich Tina. „Viel zu gefährlich!“
„Unsinn“, entgegnete ich. „Ich kann ja mit ihr bis vor das Fenster steigen. Wenn wir uns sichern, so wie vorhin mit Philipp, ist das völlig gefahrlos.“
Tina schwieg, was ich als Zustimmung nahm. Ich stand auf, rief Klara, und wir machten uns an die Vorbereitungen. Bald waren wieder alle – Vater, Tina, Philipp, Thomas und Karl, der die Leiter sicherte – im Hof versammelt und sahen uns zu.
Ehe wir die ersten Sprossen nahmen, murmelte Sokrates mir leise zu: „Das ändert natürlich auch nichts daran, dass wir vorhin blöd … also, unüberlegt gehandelt haben. Denn wir hätten ja da schon Klara hinaufschicken können, damit sie die Tür von innen öffnet und Philipp rauslässt.“
Damit hatte er wahrscheinlich auch recht, aber darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken.
Es klappte alles reibungslos. Klara passte gerade so durch das Fenster, sie fand den Schlüssel im Schloss – anscheinend hatte Philipp ihn in seiner Aufregung nur verkehrtherum gedreht – und kam die richtige Treppe herunter.
„Danke, Klara!“, sagte ich. „Man sieht, dass du die mutige Tochter einer Zimmermannsfamilie bist.“ Sie grinste breit, das Lob tat ihr offenbar gut.
Vater klopfte seiner Enkelin auf den Rücken, während diese von ihrer Mutter umarmt wurde. Dann fragte er: „Funktioniert eigentlich noch die Spülung in der Toilette? Da war doch so ein hoch angebrachter Wasserkasten, wie man das früher hatte, mit einer langen Kette, an der ein Porzellangriff hing.“
„Natürlich ist der Spülkasten noch da. Vielleicht ist er verkalkt oder funktioniert aus anderen Gründen nicht mehr richtig“, antwortete ich. „Warum fragst du?“
„Da habe ich früher mal ein Gedicht drüber gemacht“, sagte Vater stolz. „Ich glaube, ich war damals dreizehn, oder so.“
„Wie?“, fragte Tina. „Ein Gedicht über die Klospülung?“
„Ja. Weißt du, wir hatten damals ja kein Toilettenpapier.“
„Kein Papier?“, fragte Klara erschrocken. „Aber wie habt ihr denn …?“
„Wir hatten Zeitungspapier, in Achtel oder Sechzehntel geschnitten. Das war natürlich ein guter Lesestoff, wenn man dasaß …“
„Musst du das gerade jetzt erzählen?“, fragte Tina. Manchmal schienen sie Vaters Berichte in epischer Breite aus früheren Zeiten etwas zu nerven.
„Doch, erzähl weiter, Opa!“, verlangte Klara. Und nach ihrer heldenhaften Rettungsaktion konnte dieser ihr die Bitte natürlich nicht abschlagen.
„Wenn jemand zu lange saß, weil er sich festgelesen hatte, und gewisse Gerüche durch die Ritzen der Tür nach draußen in den Flur drangen, rief meine Mutter immer: „Zieh ma!“ Vater wandte sich erklärend an Karl, der aus Süddeutschland stammt: „Das heißt: Zieh mal! Das ‚L‘ wird bei uns meist verschluckt.“
„Ich weiß“, nickte Herkules.
„Und so ging das Gedicht, in dem ich damals diese Erfahrung verarbeitet habe:
Ich saß mit frierendem Popo
die Zeitung lesend auf dem Klo.
Denn dieses mach ich immer so,
denn Zeitungen gibt’s da en gros.
Las vom Regierungssturz in Lima.
Ab Montag wieder warmes Klima.
Na, dacht’ ich grad, das ist ja prima!
Auf einmal tönt der Ruf: „Nun zieh ma!“
Alle lachten. Am lautesten Herkules, der so laut und herzhaft lachen konnte, dass man beinahe den Eindruck gewinnen konnte, der Boden zittere wie bei einem Erdbeben. Sogar Philipp lachte, obwohl er den Auslöser unserer Heiterkeit mit Sicherheit nicht vollständig begriffen hatte. Aber wenn alle lachten, bemühte er sich immer mitzuhalten, was dann allerdings immer etwas künstlich klang.
„Wisst ihr eigentlich“, sagte mein Vater zu den beiden Kindern, „dass euer Urgroßvater mit seinen Gesellen das Haus selbst gebaut hat? Sie waren gute Zimmerleute, wovon man sich heute noch überzeugen kann.“
Alle blickten bewundernd zu dem Haus hinüber, dem Spielplatz des jüngsten Abenteuers.
„Den Spruch über der Tür habe ich damals selbst angebracht.“
„Ach“, meinte Klara, „den habe ich bisher noch gar nicht richtig bemerkt.“
„Lies ihn mal!“
Die alte Schrift war zwar etwas verwittert, aber noch gut zu erkennen.
„Früher haben die Zimmerleute oft Sinnsprüche in die Balken geschnitzt. Das kannst du auch heute noch an mittelalterlichen Fachwerkhäusern sehen, Bibelverse oder Ähnliches. Das hier war eine etwas neuere Form.“
Klara las laut vor, was ihr frommer und poetischer Großvater damals geschrieben hatte:
„In Christus haben wir Genüge.
So segne er nun dies Gefüge
aus Balken, Platten und Tapeten,
und alle die, die es betreten.“
„So“, sagte ich energisch, „jetzt aber alle wieder an die Arbeit!“ Und so geschah es.
Eckart zur Nieden
Eckart zur Nieden arbeitete nach seiner theologischen Ausbildung in einem Missionswerk und dann 35 Jahre beim Evangeliums-Rundfunk (ERF) in Wetzlar. Er schrieb viele Bücher für Kinder und Erwachsene.