1. Brüderzoff
Von Josef lernen heißt Demut lernen
(1. Mose 37)
Seht, da kommt der Träumer!
Die bekannte Josefserzählung (1. Mose 37-50) ist ein in sich geschlossener Bericht über das Leben und Ergehen von Josef, dem Sohn Jakobs. Literarisch ist sie ein Kunstwerk mit einem enormen Spannungsbogen.
Bemerkenswert ist an der Erzählung, dass zwar immer wieder auf Gott Bezug genommen wird – so heißt es wiederholt: »Der Herr war mit ihm« –, ansonsten kommt Gott selten unmittelbar vor. Vielmehr scheint der Erzähler den Eindruck vermitteln zu wollen, dass das Leben des Josef ein Beispiel für einen verschlungenen Lebensweg über Höhen und Tiefen ist, auf den Gott seinen Segen gelegt hat, aber nicht unbedingt an jeder Weggabelung durch dramatische oder eindeutige Führung seine Weisung gibt. Das Leben von Josef ist ein Beispiel für eine Biografie mit vielen Unbekannten, bei der sich erst im Rückblick die geheimen Fügungen Gottes erweisen. So kann Josef schließlich sagen: »Und nun, ihr habt mich nicht hergesandt, sondern Gott.« (1. Mose 45,8)
Die Josefserzählung gibt einen Einblick in eine Familiengeschichte, die so typisch für viele andere Geschichten ist, dass sie im Grunde auch in unserer Zeit stattgefunden haben könnte. Es geht um Neid und Eifersucht, um Bevorzugung, um Eitelkeit und um Rache. Um Eltern, die sich nicht richtig verhalten, und scheinbar blind sind für einen fairen Ausgleich unter den Kindern. Und um einen kleinen, recht eingebildeten Jungen, der zu Recht den Ärger seiner Brüder auf sich zieht:
Josef lebte mit seinen Brüdern und seinen Eltern als junger Schafhirte in Kanaan. Sein Vater bevorzugte ihn und schenkte ihm einen bunten Rock. Mit seinen Träumen provozierte Josef nicht nur seine Brüder, sondern auch seinen Vater. In den Träumen kam zum Ausdruck, dass sich einst alles vor ihm verbeugen würde, sogar Sonne, Mond und die Sterne.
Seine Brüder wurden daraufhin sehr ärgerlich und als sich die Gelegenheit bot, verkauften sie ihn an eine Karawane von ismaelitischen Händlern, die ihn mit nach Ägypten nahmen und dort weiterverkauften. Die Brüder täuschten seinen Tod vor, was den Vater fast um den Verstand brachte.
Wie begegnet uns dieser kleine Junge Josef? Nun, zunächst einmal nicht sehr sympathisch. Er verpetzt seine Halbbrüder, die sich fehlerhaft verhalten hatten, bei seinem Vater. Sie werden es sich gemerkt haben und seine richtigen Brüder vermutlich ebenfalls, weil sich so etwas herumspricht. War er der kleine Streber, der sich bei seinem Daddy lieb Kind machte? Es liegt nahe, denn Jakob hatte ihn lieber als alle seine anderen Söhne. Dass dies explizit ausgesprochen wird, ist ein eindeutiger Hinweis dafür, dass das für alle sichtbar und erlebbar war. Josef war dem Jakob noch im hohen Alter von seiner Lieblingsfrau Rahel geboren worden und somit war er so etwas wie der glänzende Höhepunkt seiner Nachkommenschaft, der Sohn des Alters, der Kronprinz. Ausdruck findet diese Bevorzugung in dem Geschenk des Vaters, einem bunten Rock, das für einen Junghirten ein völlig unbrauchbares Kleidungsstück darstellt. Man stelle sich das einmal bildlich vor, ein Jüngling in einer glanzvollen Tunika mit kostbaren Farben gefärbt, wie er sich im Kreis dreht und seinen Vater anstrahlt, die Ärmel vermutlich noch etwas zu lange. Kein Wunder, dass an dieser Bevorzugung die geschwisterlichen Beziehungen zerbrochen sind. Der bunte Rock war sicherlich kein Beitrag zum »Schalom« im Hause Jakob, sondern vielmehr Grund für Neid und Eifersucht, aber auch für die Eitelkeit des jungen Josef.
Damit nicht genug. Nach den zwei Träumen des jungen Josef steigerte sich der Hass der Brüder bis zu dem Wunsch, sich seiner zu entledigen. Die Botschaft beider Träume war klar: Josef würde eines Tages der Herr über seine ganze Familie sein. Sonne und Mond stehen für die Eltern, die elf Sterne für die Brüder. Träume wurden im Altertum immer als sichere Vorzeichen für etwas angesehen, was eintreffen wird. Sie wurden als Vorausschau auf die Realität gedeutet. Joseph war also im Begriff, alle anderen zu überholen, und das war selbst seinem Vater zu viel. Er wurde äußerst ungehalten mit Josef, verwarf aber interessanterweise nicht das Gesagte, sondern bewahrte es in seinem Herzen.
Der Rest ist schnell erzählt. Die Brüder entledigten sich des Jüngsten, indem man ihn zuerst dem sicheren Tod überlassen wollte, sich dann aber eines Besseren belehren ließ und ihn schließlich in die Sklaverei nach Ägypten verkaufte. Eine dramatische Familiengeschichte mit einem vorläufigen tragischen Ende.
Bemerkenswert an diesem ersten Teil der Geschichte sind zwei Tatsachen, die auch für uns eine Botschaft enthalten.
Jede Familie, auch wenn sie noch so fromm ist, hat ihre dunklen Ecken
Die Bibel schildert uns hier eine Großfamilie mit allen ihren Stärken und Schwächen. Da ist ein Vater, der seinen Liebling bevorzugt und offensichtlich kein Gespür für die Gesamtheit seiner Familie hat. Da sind die Geschwister, die Rache üben, weil sich durch die andauernde Zurücksetzung so viel an Verletzung und Wut angestaut hat, dass man auch bereit war, zum Äußersten zu gehen.
Wir kennen sicher Ähnliches aus den Erzählungen von Freunden und Bekannten, vielleicht auch aus der eigenen Ursprungsfamilie. Der kleine Bruder war der Liebling des Vaters, der ersehnte Nachkomme nach drei Mädchen. Immer und immer wieder wurde er ins Zentrum des Geschehens gerückt. Oder es war ein Geschwisterteil, das sehr musikalisch war, dem alles leicht von der Hand ging und das dazu noch gut in der Schule war. Da war der Erstgeborene, der zunächst die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern erhielt und dann plötzlich entthront wurde, als sich ein Geschwisterchen ankündigte. Später wurde er vielleicht als verlängerter Arm der Eltern missbraucht und machte sich dadurch wieder beliebt, dass er die Aufpasserrolle für die jüngeren Geschwister übernahm.
Es wundert nicht, dass ungleiches oder ungerechtes Verhalten von Eltern ihren Kindern gegenüber zu gestörten Geschwisterbeziehungen führen kann. Zugunsten der Eltern muss an dieser Stelle aber auch erwähnt werden, dass niemand fehlerfrei ist und die Erziehung von Kindern ein anspruchsvolles und komplexes Unterfangen ist, das keinem perfekt gelingt.
Jede Familie hat ihre dunklen Ecken. Das anzuerkennen, ist zunächst einmal entlastend, denn die perfekte Familie gibt es nicht. Es wäre sicher hilfreich, wenn wir den Versuch einstellen würden, perfekte Familie zu spielen, und stattdessen einsehen, dass bei allem aufrechten Bemühen Fehler passieren, die man auch noch im Rückblick eingestehen kann. Wie entlastend könnte es sein, wenn Eltern mit ihren nun erwachsenen Kindern einmal in Ruhe über ihr Erleben als Kinder im Verhältnis zu ihren Eltern sprechen würden. Es könnte eine Befreiung sein, sich auszusprechen, sich zu vergeben. Denn die christliche Botschaft von der Versöhnung entfaltet gerade in fehlerhaften oder gescheiterten Beziehungen ihre Strahlkraft. In der Versöhnung liegt eine ganz besondere Stärke, sie ist eines der großen Geheimnisse des Glaubens. Versöhnung bedeutet, dass Vergangenes seine negative Macht verlieren kann und ein Neuanfang möglich ist. Dafür ist es nie zu spät.
Aneinander schuldig werden führt zu Entfremdung
Konflikte und Krisen in Familien kommen vor, wenn sie aber unbearbeitet liegen bleiben, beginnen sie ein Eigenleben zu führen. Auch dunkle Ecken zu haben, ist noch kein Grund, sich dafür zu schämen. Wenn dies alles aber nicht bearbeitet wird, wenn man die Brüche und Konflikte verdrängt, dann entfremdet das uns Menschen voneinander. Entfremdung bedeutet, dass ein ursprünglich guter Zustand, etwa eine gute und harmonische Beziehung, gestört, zerstört oder gar ganz aufgehoben wird. Es gibt gut gehütete Familiengeheimnisse, die vielen innerhalb einer Familie zwar bekannt sind, über die man aber nicht spricht. Man breitet dann die Decke des Schweigens über dieses oder jenes Thema aus. Es gibt Ehen, in denen man sich entfremdet hat, weil sich der eine Partner irgendwann einmal kräftig danebenbenommen hat. Nie hat man das aufgearbeitet, nicht einmal darüber geredet. Und so begann ein schleichender Prozess der Distanzierung, des Nebeneinanderher-Lebens, der inneren Migration. Und manchmal ist es ganz profan die Erbschaft, bei der die eine Seite die andere über den Tisch gezogen hat, und nun zieht man sich beleidigt und gekränkt zurück. Man ist »mit denen« fertig und man fühlt sich ja schließlich im Recht. Und doch bleiben zerstörte Beziehungen zurück, über die niemand glücklich sein kann.
Es muss nicht so weit kommen, denn das alles ist ja kein Gottesurteil. Im Gegenteil, Entfremdung hat in der Regel ihre Ursache in schuldhaftem Verhalten und fängt meist im Kleinen an – mit unguten Reibungen, Verletzungen und Übersehen-Werden.
In diesem Licht betrachtet sind auch in der Josefsgeschichte viele Dinge schiefgelaufen. Jakob hätte als Vater seinen Liebling nicht so bevorzugen dürfen. Josef hat das gefallen und er war offensichtlich nicht in der Lage, seine Eitelkeit zu zähmen. Die Brüder sind vor Zorn fast geplatzt und haben irgendwann ihre Konsequenzen gezogen. Alle sind in gewisser Weise schuldbehaftet, und dies resultierte in einer Entfremdung innerhalb der Familie mit fatalen Folgen.
Unsere Geschichte geht aber weiter. Josef stieg in Ägypten im Hause von Potifar, einem hohen Beamten des Pharaos, auf. Dann aber fiel er zu Unrecht in Ungnade. Er widerstand den unangemessenen Avancen der Frau des Potifar und landete im Gefängnis. Aber auch dort bewährte er sich und gewann schließlich sogar die Gunst des Pharaos, der ihn zum Vizekönig und Landwirtschaftsminister erhob. Durch kluge Haushaltung wurde Josef zum Retter des ägyptischen Volkes in Notzeiten und zum angesehenen Politiker. Er heiratete und gründete eine Familie, aber er vergaß seine Wurzeln nicht. Und so kam es am Ende seines Lebens zu einem Happy End. Er sah seine Brüder wieder und auch seinen alten Vater und konnte sie vor einer großen Hungersnot retten. Er versöhnte sich mit ihnen und zog schließlich das ehrliche Resümee: »Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.« (1. Mose 50,20)
Von Josef lernen heißt Demut lernen
In der Retrospektive sind viele Einzelheiten im Leben des Josef verwunderlich und bemerkenswert zugleich. Da ist sein beispielloser Aufstieg und Fall im Haus des Potifar und sein erneuter Aufstieg im Haus des Pharaos. Es ist ein Auf und Ab mit Höhen und Tiefen, die er durchleben muss. Seine Aufrichtigkeit bringt ihn an den Rand des Ruins und sicher wird er mit der Welt und seinem Schicksal gehadert haben, dass ihm das alles widerfährt. Es scheint, als bleibe ihm keine Krise erspart. Wie ein roter Faden zieht es sich durch sein Leben, dass Menschen es nicht gut mit ihm meinen und dass er dadurch immer wieder gebeutelt wird.
Aber immer wieder leuchtet inmitten seiner Lebensgeschichte auch der Satz auf: »Aber der Herr war mit ihm.«
Bemerkenswert ist auch, dass Josef das, was ihm in seinem Leben widerfahren ist, als schwierig empfindet und dem bei der Geburt seines ersten Sohnes Manasse offen Ausdruck gibt: »... denn Gott, sprach er, hat mich vergessen lassen all mein Unglück und mein ganzes Vaterhaus«. (1. Mose 41,51) In seinem Leben blieb offenbar diese eine große Wunde, die nie ganz verheilte, auch nicht angesichts seiner Erfolge. So gewinnt man den Eindruck, dass aus einem übermütigen und leicht eingebildeten Jüngling ein vom Leben mit all seinen unvorhersehbaren Windungen geprägter Mensch wurde – einer, der Demut lernte und in allem am Gott seines Vaters festgehalten hat. Josef durchlief diese Lebensschule wahrscheinlich, um zu dem zu werden, der er später war. Demütig konnte er dann vor seine Brüder treten, Gott für sein Leben die Ehre geben und seiner Familie verzeihen, wo sie an ihm schuldig geworden war. Dankbar konnte er seinen Vater wieder in die Arme nehmen und seiner ganzen Sippe, die aufgrund der Hungersnot in Kanaan dort nicht weiterleben konnte, eine gute Zukunft in Ägypten sichern. Josef versorgte seine Brüder mit Brot, obwohl sie selbst ihm als jungem Mann jede Lebensgrundlage entzogen hatten.
Wer am Ende seines Lebens so handelt, hat seine Lektionen gelernt und offensichtlich auch Eigenschaften abgelegt, die nicht förderlich sind.
Josef wurde mit der Zeit zu einem offenen, bescheidenen und dankbaren Menschen. Und so steht uns schließlich eine andere Person gegenüber als zu Beginn unserer Geschichte. All das ging aber nicht ohne Krisen und Konflikte vonstatten.
Die Josefsgeschichte hat weite Kreise gezogen. Sie fasziniert, weil sie so realistisch und lebensnah ist. Weil auch wir nicht an jeder Weggabelung Gottes Führung sichtbar vor Augen haben und oft erst im Rückblick erkennen, warum es so sein sollte und nicht anders. Menschen, die sich Gott anvertrauen, machen nicht ständig unmittelbare Erfahrungen, sondern müssen auch Wegstrecken zurücklegen, die einsam und angefochten sind. Aber, und auch das ist festzuhalten, Josef machte seine Erfahrungen und er wusste sie auch zu deuten. Die Deutungshoheit über unsere Lebenswege liegt ja immer bei uns und nicht in den Händen des Schicksals. Auch hier bewahrt sich der Satz Søren Kierkegaards: »Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber leben muss man es vorwärts.«