Kindersklaven, Flüchtlingswellen, Zwangsprostitution – die Nachrichten über die großen Probleme dieser Welt drängen sich in unser Leben. Sie erschüttern und machen betroffen. Doch gerade als Christen wollen wir dabei nicht stehen bleiben, sondern uns für Hoffnung, Menschenrechte und Gerechtigkeit einsetzen. 20 erfahrene Expertinnen und Experten beschreiben in diesem Buch, wie das praktisch aussehen kann. Ausgehend von einem biblischen Menschenbild erläutern sie die komplexen Zusammenhänge von Armut und Gewalt und liefern konstruktive Lösungsvorschläge, wie wir als Christen und Gemeinden einen Unterschied machen können.
Eines der herausforderndsten Bücher dieses Jahres.
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Vorwort
Wie die Globalisierung unser Leben verändert
Es vergeht kaum ein Tag, an dem die globalen Geschehnisse dieser Welt nicht in unser Leben treffen. Sei es durch die Produkte, die wir möglichst günstig von allen Enden der Erde zu uns in die Wohnung schaffen, durch Internet und Fernsehen oder durch die neuen Nachbarn, die als Flüchtlinge aus Syrien gerade versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen. Keine Frage, die Welt hat sich verändert und „das globale Dorf“, von dem Marshall McLuhan 1962 in seinem Buch „Die Gutenberg-Galaxis“ schrieb, ist tatsächlich wahr geworden.
Erst hielten wir es nicht für möglich, dann haben wir es nicht geglaubt und jetzt leben wir mittendrin. Die globalen Verschiebungen bringen eine Menge Chancen, Möglichkeiten, Herausforderungen und Ungerechtigkeiten mit sich.
Und darum soll es in diesem Buch gehen. Wir wollen die globale Welt mitten unter uns wahrnehmen und fragen, was dies für uns bedeuten kann. Denn auch für Christen und Gemeinden hat sich viel verändert. Der gesellschaftliche Wandel hat längst große Auswirkungen und das einst so gelobte „christliche Abendland“ ist bereits Vergangenheit.
Postsäkularisierung und Respiritualisierung sind die neuen Zauberwörter der Gegenwart. Sie beschreiben, dass sich das institutionell verfasste Christentum in Deutschland in einer Krise befindet – obwohl immer mehr Menschen irgendwie an irgendetwas glauben. Nur oftmals nicht mehr an den Gott der Bibel. Andere haben das längst erkannt und schicken Missionare nach Deutschland. Sie kommen aus Brasilien, Tansania oder Indien, um den Deutschen die gute Nachricht von Christus zu bringen. „Reverse mission“ – umgekehrte Mission – nennt man das. Und dieser Prozess ist erst der Anfang einer Entwicklung, die sich schon heute in einer neuen Weltkarte des Christentums zeigt, auf der Europa künftig kaum noch eine Rolle spielen wird. Manche dieser neuen Missionare werden von ihren Heimatgemeinden ausgesandt und finanziell unterstützt. Aber Gott sendet auch Flüchtlinge und Asylsuchende zu den Menschen, die es nötig haben; das hat er schon immer getan.
Flucht und Asyl als biblisches Handeln Gottes?
So war es schon oft in der Bibel und in der Kirchengeschichte. Deshalb sollte es uns nicht überraschen, dass Gott heute immer noch so handelt. Ja, eigentlich müsste man sagen, dass die ganze Bibel ein Buch von Flüchtlingen und ihrer Flucht und Vertreibung ist. Schon der Verlust des Paradieses kann als Migration bezeichnet werden und gibt eine Art Motto vor: „Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden!“ (1. Mo 4,12), lautet Gottes Ankündigung für das Leben von Kain, der seinen Bruder Abel umbrachte. Abraham, der Stammvater des Volkes Israel (1. Mo 12), zog als Nomade ein Leben lang umher. Mose war auf der Flucht, weil er wegen Mordes gesucht wurde, bevor er später das ganze Volk als Flüchtlinge aus Ägypten herausführte, woran sich das Volk Israel bis heute mit dem Laubhüttenfest erinnert. Nach dieser Flucht irrte das Volk 40 Jahre in der Wüste umher, bis es endlich Heimat fand (Jos 11). Aber auch danach war die Geschichte Israels geprägt von Flucht, Vertreibung und Exil sowie von Sehnsucht nach Identität und Heimat. Vielleicht weil das Volk Israel das selbst so erlebt hat, hat Gott ihnen aufs Herz gelegt und in Gebote geschrieben, dass Fremde und Migranten unter einem besonderen Schutz stehen (2. Mo 23,1-9; Jes 58,1-12; Sach 7,1-14; Mal 3,1-5).
Das Thema prägte auch Jesu Leben. Er immigrierte in diese Welt hinein und lebte mit seinen Eltern eine gewisse Zeit als Migrant in Ägypten, bevor die Familie ins von den Römern besetzte Heimatland zurückkehren konnte. Später zog er in guter jüdischer Tradition drei Jahre ohne festen Wohnsitz umher, lebte und lehrte die gute Nachricht vom Reich Gottes und teilte sein Leben mit seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern (Mt 16,24-28). Diese trugen das Evangelium dann weit in die damalige Welt hinaus, teils freiwillig, teils weil sie in der Heimat verfolgt wurden. Der Lohn dieser Nachfolge geht über das Irdische hinaus und spiegelt, dass Christen wissen, dass alles Leben auf der Erde nur das Vorletzte ist (Mt 19,27-30). Auch bei den ersten christlichen Gemeindegründungen war dies nicht anders. Die ersten christlichen Missionare wurden verfolgt und mussten fliehen (Apg 8,1-4). Aus der Gruppe von Flüchtlingen wurde die Keimzelle einer weltweiten Ausbreitung des Evangeliums. Später wurden diese Migrationsgemeinden im römischen Reich von Paulus besucht und betreut.
Was aus diesen wenigen Zeilen schon deutlich wird, ist das universale Handeln Gottes in dieser Welt. Gott hat von Anfang an alle Menschen und alle Völker im Blick seines Handelns. Besonders im Alten Testament wird dies exemplarisch deutlich an der Erwählung des Volkes Israel. Gott nimmt sich dieses Volkes an, weil es das kleinste unter den Völkern ist, und geht mit ihm durch alle nur vorstellbaren Krisen dieser Welt. Das Verhältnis zwischen Israel und Gott wird nicht umsonst als Beispiel und Liebesbeziehung (Hosea) in der Bibel bezeichnet, denn so wie Gott an Israel handelt, so will er an allen Menschen handeln.
Gottes Wesen ist Gerechtigkeit
In dieser Geschichte Gottes mit den Menschen spielt der Begriff Gerechtigkeit eine zentrale Rolle, sowohl im Alten als auch im Neuen Testament. Gerechtigkeit ist im biblischen Sinne immer untrennbar mit Gott selbst verknüpft (Ps 7,1: „Gottes Wesen ist Gerechtigkeit“). Es geht also nicht um eine Randerscheinung, sondern um eine zentrale Aussage der Bibel – im Kern um ein Wesensmerkmal Gottes. Gott steht dabei für die Notleidenden ein und identifiziert sich mit ihnen (Ps 103,6, Amos 5,11f). Das Alte Testament geht sehr realistisch mit der Situation von Ungerechtigkeit um (5. Mo 15,11). Soziale Gerechtigkeit wurde im Alten Testament mit einem Ausgleich über den Zehnten von allem Geernteten (5. Mo 26,12) eingeführt. Die Armenpflege wurde, weil schon im Gesetz vorgeschrieben, zum Alltagsgeschehen der Israeliten (5. Mo 15,7; 5. Mo 24,14).
Aber nicht nur die Sorge um die Armen war im Gesetz festgelegt, auch Ausländer wurden mit Gastfreundschaft bedacht: „Der Fremdling soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer“ (3. Mo 19,34). Fremdheit sollte überwunden und Ausländer sollten in die Mitte des Volkes aufgenommen werden. Die Gerechtigkeit Gottes zieht sich wie ein roter Faden durch das Heilshandeln Gottes an den Menschen und wird an den universalen Bünden deutlich (etwa dem Bund Gottes mit Noah oder dem mit Abraham). Gottes Gerechtigkeit begründet sich in seiner Treue und seiner Verpflichtung gegenüber seinen Bundesversprechen. Gott befreit (2. Mo 20), verurteilt (Amos 2) und vergibt (Jes 46). Dabei ist er nicht parteilos, sondern setzt sich für seinen Bundespartner ein. In diesem Sinne bedeutet Gerechtigkeit immer auch Solidarität Gottes, er hält zu seinem Volk und steht ihm zur Seite, Gott selbst hält sich zu den Unterdrückten und Entrechteten und will ihnen zu ihrem Recht verhelfen. Das Ziel des Handelns Gottes ist immer, das Heil und die Gerechtigkeit des Bundesvolkes zu erlangen. Ganz praktisch wird dies immer wieder dadurch deutlich, wie Gott die Schreie der ungerecht Behandelten hört und erhört.
Gott hört den Schrei der Entrechteten
Und Gott reagiert dabei oftmals auf das Schreien und die Not der Menschen. Er rettet die Ägypterin Hagar, die vor ihrer Herrin Sara in die Wüste flieht (1. Mo 16,1ff) und heilt den Syrer Naaman, der an Aussatz leidet (2. Kön 5). So führt Gott, ähnlich wie Israel aus Ägypten, die Philister aus Kuta oder Syrer aus Kir (Amos 9). Gott errettet die Völker Lo-Ruhama und Lo-Ammi und spricht ihnen zu, dass sie sein Volk werden (Hos 2,25). Er errettet die heidnische Stadt Ninive (Jona) und spricht Gericht und Heil an alle Nationen dieser Erde (Jesaja, Joel, Micha). So ist es nicht verwunderlich, dass Gott seine Nachfolger in seinen Auftrag, das Schreien der Menschen zu hören, mit einbezieht. Israel soll ein „Licht für die Völker sein“ und durch sein Vorbild die anderen Völker auf Gott hinweisen.
Auch im Neuen Testament wird diese Linie des gerechten Gottes konsequent weitergezogen. Jesus identifiziert sich in seiner großen Rede vom Weltgericht ganz praktisch mit den Ausgegrenzten und Entrechteten, wenn er sagt: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht“ (Mt 25,42). Das fordert uns heraus und stellt unser Leben, unser Handeln und unsere Gottesbeziehung infrage. Hören wir die Schreie der Unterdrückten noch? Oder sind wir zu sehr mit den Stimmen der Konsumgesellschaft beschäftigt? Es geht also bei der Frage nach Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit immer auch um uns, und nicht nur um die Notleidenden. An ihnen können wir erkennen, wie es um unsere eigene Gottesbeziehung bestellt ist.
Menschenrecht und Ermächtigung
Deshalb geht es in diesem Buch nicht um Aktionismus aufgrund von Notsituationen. Wir wollen vielmehr eine Haltung vermitteln, die allen Menschen gilt, unabhängig von ihrem Status, ihrer Herkunft oder ihrem Handeln. Eine Haltung, die die Botschaft des Evangeliums widerspiegelt und uns selbst gilt, die uns verändert und durch uns sichtbar wird für die Menschen um uns herum. Es geschieht, wie so oft in der Bibel, eine Ermächtigung der Machtlosen, bekannter ist in diesem Zusammenhang der englische Ausdruck: empowerment of the poor.
Gott hat sein Reich immer schon durch die Außenseiter, Unterdrückten und am Rande Stehenden gebaut. In den Schwachen wird Gott mächtig und verherrlicht. So leben wir als Christinnen und Christen heute nicht aus unserer Kraft, unserer Vision und unserem Engagement, sondern aus der Auferstehungskraft Christi, die die Hoffnung Gottes hier auf Erden aufleben lässt. Das bedeutet für Menschen einzustehen und mit ihnen aufzustehen, weil Gott sie liebt und weil er Hoffnung für sie hat. Papst Franziskus hat in seiner historischen Rede im Washingtoner Kapitol die amerikanischen Politikerinnen und Politiker ermahnt, in den Flüchtlingen nicht nur eine wirtschaftliche oder kulturelle Herausforderung zu sehen, sondern in jedem einzelnen einen Menschen, ja eine Schwester oder einen Bruder zu erkennen. Dabei greift er auf das Gleichnis vom Weltengericht zurück. Dort wird deutlich, dass wir in den Hungernden, Dürstenden, Fremden, Nackten, Kranken und Gefangenen Jesus selbst begegnen (Mt 25,31-46). Die Gottesebenbildlichkeit, die uns von der Schöpfung her zuerkannt ist, gilt allen Menschen – nicht nur den Gesunden, sondern auch denen, die hungrig, durstig, nackt, fremd, krank oder gefangen sind.
Gott stellt sich vor allem an die Seite der Notleidenden, und wenn wir ihm begegnen und an seiner Seite leben wollen, dürfen wir sie nicht übersehen. Dies sprengt unsere menschlichen Kategorien. Durch Gott bekommt der Arme eine neue Würde und hat denselben Wert und Stellenwert wie wir selbst. Deshalb ist „Almosen geben“ keine Tat des herablassenden Mitleids, sondern ein wesentlicher Teil des Reiches Gottes. In jedem Bereich des Lebens ist der „Schalom“ der Zustand, der dem Reich Gottes entspricht. Im Bild des Leibes Christi (1. Kor 12) sind wir beides, Empfänger und Täter von guten Taten. Wie ernst es Gott mit dem richtigen Umgang mit Armen und Notleidenden ist, wird daran deutlich, dass Jesus diese Frage im Kontext des Weltengerichtes verhandelt. Es ist nicht in unser Belieben gestellt, ob wir hier und da etwas Gutes tun wollen. Es ist vielmehr das entscheidende Kriterium, nach dem Gott das menschliche Handeln beurteilt (Mt 25,31-46; Lk 16,19-30). Gott offenbart sich auf ganz unterschiedliche Weise in dieser Welt, auch durch unser Handeln. Sein Wirken gilt der ganzen Welt, die er als Schöpfer erschaffen hat, in allen Beziehungsebenen und bis in die letzten Systeme hinein. Christi Tod ist deshalb nicht nur ein Akt der individuellen Seelenrettung, sondern bringt Heil für die gesamte Welt (Kol 1,15-21; Gal 3,28).
Die Chancen und Grenzen dieses Buches
Die Autorinnen und Autoren dieses Buches wissen, dass sie weder die Welt noch die Menschen in Not retten können. Sie verstehen sich eher als Helfer und Helfershelfer in einem größeren Ensemble, welches seit Anbeginn der Zeit hier auf Erden spielt. Der Dirigent ist Gott selbst, der seine missio Dei mitten in all den Unruhen und Veränderungsprozessen der Jahrhunderte spielt. Gott möchte die Welt verändern und tut dies auch. Nicht durch Gewalt und Macht, sondern durch das Wirken des Heiligen Geistes und die Ausbreitung des Reiches Gottes.
Dieses Reich, welches durch Christus begonnen hat und sich seitdem durch die Gemeinschaft von Christen mitten in der Welt ausbreitet, ist das sichtbare Zeichen Gottes auf Erden. Es zeichnet sich durch die „bessere Gerechtigkeit“ aus, die Jesus seinen Nachfolgern gelehrt und vorgelebt hat, indem er die Maßstäbe der damaligen Welt auf den „Kopf“ gestellt hat. Er kümmerte sich um die Armen und sozial Ausgegrenzten, legte sich mit den Theologen und Gelehrten an und mischte sich in die öffentlichen Diskussionen ein. Dabei war Jesus nicht der klassische „Revolutionär“, sondern hatte immer das „Heil“ von Land und Leuten im Blick. Ihm ging es darum, dass Menschen ganzheitlich gesund wurden, an Leib, Seele und Geist, dass sie am öffentlichen Leben teilnehmen konnten und ein respektierter und anerkannter Teil der Gesellschaft waren.
Leben bedeutet bei Jesus immer menschenwürdiges Leben. Dabei war Jesus und meist auch seinen Nachfolgern klar, dass es dabei nicht um das „Paradies auf Erden“ geht, nicht um den frommen Wunsch, dass endlich alles gut wird, sondern um das Ringen um Gerechtigkeit mitten in einer gefallenen Welt. In einer Welt, in der Liebe und Hass, Schönheit und Krieg, Kreativität und Egoismus, Entdeckungen und Machtmissbrauch eng miteinander verknüpft sind. Dies zeigt sich auch in den großen Veränderungsprozessen, in denen wir aktuell stehen, seien es globale Transformationen im ökonomischen Bereich (Klimawandel, Wirtschaftskrise), im gesellschaftlichen Bereich (Individualisierung, Pluralisierung), im Bildungsbereich (Ökonomisierung der Bildung) und im religiösen Bereich (Postsäkularisierung) oder in lokalen Prozessen wie der Heimat- und Identitätssuche (Entwurzelung), Kirchen- und Gemeindekrise (stagnierende oder rückläufige Mitgliederzahlen), der größer werdenden Kluft zwischen Reichen und Armen (insbesondere Kinderarmut) und einer zunehmenden Verunsicherung im alltäglichen Lebensvollzug (Optionsgesellschaft). Gott baut sein Reich mitten in dieser Welt, heute genauso wie in der Vergangenheit, und wir wollen unseren Teil dazu beitragen, so wie es viele Mütter und Väter des Glaubens in den letzten 2000 Jahren vor uns getan haben.
Worum es in diesem Buch geht und wie es aufgebaut ist
Die eben genannten Veränderungsprozesse machen die Breite der Herausforderungen deutlich, mit denen wir uns heute bei der Frage nach Gerechtigkeit beschäftigen müssen. Die Autorinnen und Autoren dieses Buches wollen Denkanstöße geben und Wege zum Handeln zeigen.
Nach grundsätzlichen Überlegungen zum biblischen Verständnis von Gerechtigkeit, Menschenrechten und dem Auftrag von Christen im ersten Kapitel, werden im zweiten Kapitel beispielhaft Initiativen von Christen vorgestellt, die sich in der Vergangenheit für Gerechtigkeit eingesetzt haben. Es wird deutlich, dass der Einsatz für die Menschenrechte kein neues Thema ist, sondern eines, das Christen bereits in den vergangenen Jahrhunderten bewegt hat.
Die folgenden Kapitel geben Einblicke in Bereiche, in denen die Menschenrechte heute eklatant verletzt werden. Dabei werden auch konkrete Initiativen vorgestellt, die als Beispiele dafür stehen, wie sich einzelne Christen oder ganze Gemeinden für mehr Gerechtigkeit einsetzen können. Es geht dabei um Gewalt gegen Arme, deren Rechte beschnitten oder missachtet werden. Dies ist besonders extrem in den Ländern des globalen Südens zu beobachten, hat durch die globalen Wirtschaftsverflechtungen aber auch mit uns zu tun. Als Bürger haben wir Möglichkeiten, uns für die Achtung ihrer Rechte einzusetzen.
Eine besondere Form des Unrechts ist die Sklaverei. Im vierten Kapitel wird gezeigt, dass dies kein Phänomen vergangener Jahrhunderte ist. Es gibt heute mehr Sklaven als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Sklaverei hat heute verschiedene Gesichter, dazu zählen Arbeitsbedingungen, die die Grundrechte der Arbeiterinnen und Arbeiter verletzten, indem sie als Eigentum wie ein Investment behandelt werden. Sie müssen unter Bedingungen produzieren, die ihre Gesundheit und ihr Leben gefährden – damit Konzerne Profit machen und wir günstig einkaufen können.
Auch die oben beschriebene Flüchtlingsproblematik ist Ausdruck ungerechter Verhältnisse. Neben Unterdrückung und Bürgerkriegen in den Herkunftsländern ist auch der große Unterschied im Wohlstand zwischen dem globalen Süden und den Industrieländern des Nordens dafür verantwortlich. Der durch die Industrialisierung verursachte Klimawandel erschwert die Lebensbedingungen in vielen Ländern zusätzlich. Im fünften Kapitel geht es deshalb darum, wie wir mit Flüchtlingen und Migranten umgehen, sie als Menschen würdigen und ihre Rechte achten.
Die globale Ungleichheit und Ungerechtigkeit, eine der Ursachen der Flüchtlingsströme, wird in Kapitel sechs thematisiert. Seit mehr als einem halben Jahrhundert gibt es Entwicklungszusammenarbeit. Aber lassen wir uns dabei wirklich auf die Menschen ein, denen wir angeblich helfen wollen, oder ist diese Beziehung von Überheblichkeit und Eigeninteressen geprägt? Das Kapitel beschreibt diese Problematik, zeigt aber auch, wie Eigeninitiative und Selbstverantwortung gestärkt und schon im Kindesalter die Grundlagen für eine ganzheitliche Entwicklung gelegt werden können.
Auf die Frage, wie Gerechtigkeit in unserem persönlichen Alltag und Konsumverhalten zum Zug kommt, geht das siebte Kapitel ein. Nach einem Einblick in das System des fairen Handels wird an konkreten Beispielen gezeigt, wie wir verantwortungsvoll leben und konsumieren können. Es wird deutlich, dass Gerechtigkeit auch mit ganz alltäglichen Entscheidungen zu tun hat. Zum verantwortungsvollen Handeln soll auch der Anhang mit Anregungen und Ressourcen ermutigen.
Die Beiträge der verschiedenen Autorinnen und Autoren verdeutlichen die Breite und Vielfalt sowie die Aktualität der Frage nach Gerechtigkeit. Obwohl die Menschenrechte heute auf vielfältige Weise missachtet werden, können Christen voller Hoffnung handeln, denn Gerechtigkeit ist Gottes ureigenes Anliegen.
Die Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren für ihre engagierten und ermutigenden Beiträge, der Lektorin Rabea Rentschler, die diese Beiträge in eine einheitliche und gut lesbare Form gebracht hat, und dem Verlag der Francke-Buchhandlung, der sich mit diesem Buch für die Verwirklichung von Gerechtigkeit einsetzt.
Tobias Faix, Thomas Kröck, Dietmar Roller im Herbst 2015
Kapitel 1
„Die dringendste Aufgabe ist es, den Mythos zu zerstören, dass die Anhäufung von Reichtum und die Schaffung von Komfort die vordringlichste Beschäftigung des Menschen sein müssten.“
Abraham Heschel, Theologe
„‚Macht euch die Erde untertan‘ heißt nicht, ruiniert sie im Namen eines gottlosen Egoismus.“
Dr. Michael Staikos, Theologe
Globale Herausforderungen und der biblische Auftrag
Wir leben in einer Konsumgesellschaft, das ist kein Geheimnis. Sämtliche Umfragen werden das bestätigen. Das Lebensmotto heute heißt oft: Ich kaufe, also bin ich. Und auch, wenn wir uns immer wieder dagegen sträuben, prägt das „Habenwollen“ auch immer wieder unsere Gedanken, das Streben nach Materiellem prägt unser Tun. Wir glauben falschen Ratgebern, die uns sagen, dass unser Wohlstand nur durch Fortschritt und schnelles Wachstum gesichert sei, dass unsere Gelassenheit durch Besitz und Konsum steige und dass stabile Preise allein durch Wettbewerb garantiert seien. Und ja, dabei gibt es Gewinner, aber es sind wenige. Und es gibt Verlierer, und zwar viele. Und wer schreit auf? Wer wehrt sich gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung?
Christinnen und Christen wie Dorothy Day, Mutter Teresa, August Hermann Francke oder William Wilberforce standen immer wieder auf und setzten sich für die Armen und Entrechteten ein. Die Bibel war dabei leitend für sie. Wir wollen ihnen nacheifern und fragen zu Beginn dieses Buches, wie der biblische Auftrag lautet und was er in einer globalisierten Welt bedeutet. Den Anfang macht Tobias Faix und stellt in seinem ersten Beitrag die Frage, was sich Gott unter einem würdigen Leben vorgestellt hat und was es bedeutet, dass alle Menschen in seinem Ebenbild geschaffen wurden. Daniel Rentschler führt diese Gedanken fort und beschreibt, wie Gottes Gerechtigkeit auf dieser Erde aussehen kann. Dietmar Roller schließt sich an und erläutert, wie eine ganzheitliche Armutsbekämpfung in einer aus den Fugen geratenen Welt aussehen kann. Abgeschlossen wird das erste Kapitel von Johannes Reimer und Frank Heinrich, die aufzeigen, wie der öffentliche und politische Auftrag Gottes in Kirchen und Gemeinden sowie als Privatperson gelebt werden kann.
Tobias Faix
Gottes globale Idee
vom würdigen Leben
Christliche Hoffnung im Angesicht von Ungerechtigkeit und Globalisierung
Klar, es wurde in den letzten Jahrzehnten viel über Globalisierung gesprochen. Und ich nehme die globale Welt auch wahr. Als ich letztens meinen Computer aufgeklappt habe, bestellte ich mir in wenigen Sekunden ein englischsprachiges Buch, vereinbarte mit meinem Kollegen in Südafrika einen Prüfungstermin und sprach mit Freunden in Argentinien via Skype. Die Welt als globales Dorf im Internet. Aber das ist nur eine Seite der Globalisierung, vielleicht die Angenehmste, denn die Globalisierung bestimmt längst unseren Alltag, vom privaten Einkauf bis zur Gestaltung des Arbeitsplatzes. Die Auswirkungen des globalen Umbruchs, nicht nur auf wirtschaftlicher Ebene, sondern ebenso in der Politik und schließlich auch im Privatleben und in den Gemeinden, sind kaum abzusehen.
Das Leben birgt mehr Risiken – und zwar nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch im Familienleben. So ist uns der amerikanische Präsident schon näher als mancher unserer Nachbarn. Doch 975 Millionen hungernde Menschen bleiben uns fern, trotz Globalisierung. Wir können in Ländern Urlaub machen, über deren Geschichte und Kultur wir so gut wie nichts wissen, essen dort aber bei McDonald und trinken deutsches Bier. Alles scheint erreichbar zu sein, nur einen Steinwurf entfernt. Diese grenzenlosen Möglichkeiten entgrenzen uns.
Wo alles möglich wird, geht die Sicherheit verloren und die eigenen Grenzen verlieren sich zunehmend. Die Folge ist Unsicherheit. Woran soll ich mich orientieren? Was gibt mir Halt? Was Sicherheit? Die Konsequenzen sind erstaunlich und fatal. Oftmals kommt es zu einer Rückbesinnung auf kleine Einheiten, was beispielsweise die zunehmende Zersplitterung der Staaten zeigt. Menschen suchen nach Wurzeln und so verwundert es nicht, dass Folklore und Tradition ausgerechnet in einer Zeit der Globalisierung auf dem Vormarsch sind.
Die großen Parteien und Institutionen verlieren beständig an Mitgliedern und ein Ende scheint nicht abzusehen. Ein Paradox, selbst gemacht und zunehmend gefährlich für die Demokratie, da gerade dadurch Splittergruppen mit radikalem und fundamentalistischem Gedankengut gestärkt und gefördert werden. Der globale Mensch entdeckt seine Sehnsucht nach Nationalität und Normalität. Der flexible Mensch seine Sehnsucht nach Sicherheit und Bindung. Die Herausforderung, sein Leben in dieser Spannung zu gestalten, ist groß und dies macht immer mehr Menschen Angst vor der Zukunft.
Herausforderung Globalisierung: Miteinander leben lernen
Eine überwiegende Zeit der Menschheitsgeschichte war es vollkommen normal, dass Menschen in ihrem Leben improvisieren und flexibel leben mussten. Kriege, Hungersnöte und Katastrophen prägten weite Teile der Geschichte (und tun es in großen Teilen der Welt immer noch). In der westlichen Welt haben uns die letzten 50 Jahre geprägt, eine Zeit des Friedens und des Wohlstandes, der uns gutgetan, aber auch etwas verwöhnt hat. Jetzt stehen wir inmitten großer Herausforderungen und fragen uns, wie wir darin leben können. Die Antwort hört sich im ersten Moment banal an: Nur miteinander können wir leben und Halt finden. Das hört sich einfacher an, als es im Alltagstrott zu praktizieren ist.
Der Glaube als identitätsstiftendes Moment ist in den letzten Jahren immer mehr zur Privatsache geworden und die Begegnungen in Gottesdiensten ähneln mehr dem Teamwork einer Firma als vertrauter Gemeinschaft. So verkommt der Gottesdienst zu einem Ort des geistlichen Tourismus, in dem jeder nur kommt und konsumiert. Miteinander leben lernen heißt aber, nicht nur auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, sondern Gott zu vertrauen, dass ich selbst nicht zu kurz komme, wenn ich mich um den anderen kümmere. Dietrich Bonhoeffer spitzt es sogar zu und sagt: „Jede christliche Gemeinschaft muss wissen, dass nicht nur die Schwachen die Starken brauchen, sondern dass auch die Starken nicht ohne die Schwachen sein können. Die Ausschaltung der Schwachen ist der Tod der Gemeinschaft“ (Bonhoeffer, Gemeinsames Leben).
Die Globalisierung nimmt den „Tod der Schwachen“ in Kauf, und solange die „Verlierer der Globalisierung“ im Wohnzimmer abschaltbar waren, schien alles in Ordnung zu sein. Aber allmählich merken wir, dass die Globalisierung auch unseren Alltag spürbar beeinflusst. Das zwingt uns zu überlegen, wie wir damit umgehen können und wollen. Spätestens seit Hunderttausende Flüchtlinge in unsere Dörfer und Städte gekommen sind, hat die Globalisierung ein reales Gesicht bekommen. Und in diese Lebenssituation hinein ruft uns Jesus zu, dass wir auf unsere Gemeinschaft achten sollen. Es geht um das Kernstück des Evangeliums: Die Gemeinschaft zu Gott, zu mir selbst und zu meinem Nächsten (Mt 22,37-40).
Darauf zu achten, bedeutet, leben zu lernen. Teilen, was wir sind und haben, ist das Antiprogramm inmitten einer kapitalistischen Globalisierung und trifft die Sehnsucht der Menschen um uns herum. Gemeinschaft kann genau die Grenzen ziehen, die manchem zu der Sicherheit verhelfen, die man braucht, um Unsicherheit auszuhalten, die man nicht beeinflussen kann. Die Globalisierung ist nicht aufzuhalten, aber sie lässt sich im kleinen Rahmen gestalten. Dazu braucht man den Mut, die durch die eigene westliche Prägung gesetzten Grenzen im Kopf zu erweitern.
Leben in menschenwürdigen Strukturen
Wenn wir das Bisherige ernst nehmen, dann müssen wir die Frage stellen, was dies konkret bedeutet. Und wenn wir von Teilen und Gemeinschaft reden, dann müssen wir auch auf Ungerechtigkeit und Egoismus zu sprechen kommen. Die theologische Begründung dafür liegt im Begriff der Sünde. Sünde durchzieht unser ganzes Leben und unsere Gesellschaft, sowohl individuell/persönlich in meinen Beziehungen, als auch strukturell/kollektiv in unserem gesellschaftlichen System. Sünde bedeutet, dass die Beziehungssysteme unseres Lebens in allen Bereichen (Gott – Mensch – Schöpfung) entfremdet und gestört sind. Dies hat sowohl auf die persönlichen als auch auf die strukturellen Ebenen Auswirkungen. Beide hängen unmittelbar miteinander zusammen und dabei sind die gesellschaftlichen Strukturen nicht per se sündig, aber sehr wohl die Menschen, die durch ihr Handeln Strukturen aufbauen, die diese Unmoral weiterfördern.
Sünde stellt in der Bibel ein Ordnungsproblem dar, weil Sünde die Beziehungsebenen stört und zerstört, sowohl im individuellen, als auch im sozialen Bereich. Gesellschaftliches Unrecht ist deshalb in beiden Abhängigkeiten zu suchen, der persönlichen und der gesellschaftlichen. Jeder Einkauf beispielsweise durchzieht ein gesellschaftliches Geflecht an Ern-tehelfern, Zulieferern, Zwischenhändlern, Arbeitern und Verkäufern. Globalisiert und durch den Markt der großen Rendite und kleinen Preise getrieben, kaufen wir oft doch nur „billig“ ein und stehen mit unserer Tat am Ende einer Kette des gesellschaftlichen Unrechts, in dem andere das bezahlen, was wir einsparen. Wir sind Gefangene in unserem selbst erschaffenen System und leben auf Kosten von anderen.
Millionen von Menschen arbeiten für unter 1,25 Dollar am Tag, darunter viele Glaubensgeschwister, auch, damit wir gut leben können. Diese tiefen strukturellen Probleme ziehen sich durch unser Leben und unsere Gesellschaft und wir haben uns daran gewöhnt. Dies ist ein schleichender Prozess, der sich wie Gift durch das Christentum der westlichen Welt zieht. Nichtbeachtung der Menschenrechte (Ungeborene, Behinderte, Ausländer); Rassismus; ausbeuterische Arbeitsbeziehungen (Kinderarbeit, Lohndumping); unsymmetrische internationale Handelsbedingungen; gesellschaftlich akzeptierte Korruption, Vetternwirtschaft und Kriminalität, Waffenhandel etc. An der kurzen Aufzählung wird deutlich: Hier wird eine Dimension gesellschaftlichen Unrechts angesprochen, die sich nicht auf ein individuelles Fehlverhalten reduzieren lässt. Und mitten in diese Ungerechtigkeit zielt Gottes Liebe und Gerechtigkeit. Er ist der Handelnde, der uns Hoffnung gibt. Er ist mit uns in dieser Welt. Ihm ist jeder einzelne Mensch wertvoll. Er leidet mit uns unter den gesellschaftlichen Strukturen. Deshalb ist die Rede von den Menschenrechten in einer globalen Welt wichtig und wesentlich.
Die Menschenrechte als Grundlage der Globalisierung
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so steht es in unserem Grundgesetz (Artikel 1). Ähnlich wird es festgehalten in allen großen Gesellschaftsordnungen von der Charta der Vereinten Nationen (1948) bis zur Grundrechtscharta der Europäischen Union (2000). Die Geschichte der Menschenwürde an sich ist älter und reicht bis in die Antike zurück. Die erste nachweislich formulierte Theorie der Menschenwürde stammte vom Philosophen und Politiker Marcus Tullius Cicero im ersten Jahrhundert vor Christus und betonte zweierlei: zum einen die allgemeine Bedeutung der Menschenwürde, die jedem Menschen unabhängig von seinem Stand und seiner Herkunft zusteht, und zum anderen den Gestaltungsauftrag, diese auch frei auszuleben und Gestalt werden zu lassen.
Die Würde des Menschen ist die Grundlage für die gleichen Rechte, die allen Menschen zustehen. Heute gilt deshalb das internationale bzw. universale Menschenrecht. Sowohl Menschenwürde als auch Menschenrechte stellen somit eine zen-trale Grundlage allen Zusammenlebens der Menschen dar und bilden für jegliche Entwicklungszusammenarbeit die rechtliche und ethische Basis. Gerade, wenn einem bewusst ist, dass beide Begriffspaare nicht überall umgesetzt werden. In der Praxis drängt diese Grundlage der Menschenwürde auf die Überwindung von Unrecht und Ungerechtigkeit. Dabei sind die Menschenrechte nicht unumstritten, wie der Soziologe Hans Joas anmerkt: „Viele wollen die Rede von ‚den Menschenrechten‘ nicht mehr hören. Sie halten sie entweder für eine Leerformel oder einen machtpolitischen Trick, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen“ (Joas 2011:27).
Der „Westen“ untergräbt die Menschenrechte gerne aus ökonomischen Gründen, um größere und schnellere Profite zu erwirtschaften. Der „Süden“ erkennt die Menschenrechte in Teilen nicht an, weil er sie für eine „westliche Erfindung“ hält und somit für kulturell und gesellschaftlich nicht relevant. Aber gerade als Christinnen und Christen sollten wir uns für universale Menschenrechte einsetzen, da sie zentrale biblische Aussagen enthalten.
Die Ebenbildlichkeit des Menschen als theologische Grundlage der Menschenwürde
Die inhaltliche Begründung der Menschenwürde und der Menschenrechte geht auf das alttestamentliche Verständnis der „Imago Dei“ zurück, der Ebenbildlichkeit des Menschen gegenüber Gott in der Schöpfung (Gen 1,26-27). Gott schafft den Menschen nach seinem Bilde und verschafft ihm dadurch, unabhängig von seinem Tun, einen absoluten und universalen Wert sowie eine Teilhabe an Vernunft und Macht, die der Mensch als Gestaltungsauftrag auf der Erde nutzen soll. Diese Ebenbildlichkeit ist die Grundlage allen menschlichen Seins und macht den Menschen nicht nur zum Repräsentanten Gottes auf Erden, sondern spiegelt auch den Abglanz von Gottes Herrlichkeit wider.
Zur Geschichte des Menschen gehört aber auch der Sündenfall (Gen 3), durch den der Mensch, wie zu Beginn beschrieben, in all seinen Beziehungsebenen gestört und entfremdet wurde. Trotzdem nennt der Psalmschreiber David den Menschen „mit Herrlichkeit gekrönt“ und „ein wenig niedriger gemacht als Gott selbst“ (Ps 8). Diese Sichtweise zieht sich durch das ganze Alte und Neue Testament (Ps 106,20; Röm 1,23; Eph 4,24; Kol 3,10). Der Mensch steht trotz seiner Gefallenheit in einer unauflöslichen Beziehung zu seinem Schöpfer und in einer großen Geschichte der Wiederherstellung dieser Beziehung.
Im Neuen Testament wird die Ebenbildlichkeit Gottes besonders in der Ebenbildlichkeit Christi (Imago Christi) deutlich. In Christus können wir Menschen Gott wieder neu erkennen und uns selbst widerspiegeln in seiner Herrlichkeit. Dies hat aber nicht nur Auswirkungen für die eigene Wahrnehmung, sondern kommt auch allen anderen Menschen zugute (Röm 9,28; 2. Kor 4,4; Kol 1,15). Durch die Rechtfertigung des Sünders entfaltet sich die Menschenwürde unabhängig von seiner Beschaffenheit, Leistung und Herkunft. Es gibt also nach dem Sündenfall eine Kontinuität der Ebenbildlichkeit Gottes in der ungebrochenen Würde und im Gestaltungsauftrag. Zugleich besteht eine Diskontinuität in der Gebrochenheit der Beziehungsebenen. So wird nirgends in der Bibel die Ebenbildlichkeit Gottes im Menschen aufgelöst. Im Gegenteil, die Geschichte Gottes mit dem Menschen ist eine Geschichte der Wiederherstellung der unterschiedlichen Beziehungsebenen des Menschen im Kreuz und in der Auferstehung Christi.
Die eschatologische Hoffnung (dass Christus am Ende wiederkommt und Gerechtigkeit bringt) besteht in diesem Zusammenhang darin, dass die Ebenbildlichkeit des Menschen durch die Gnade Christi wieder ganz hergestellt wird. Auch wenn wir heute in der Spannung leben, Gottes Ebenbild zu sein und doch in sündhaften Strukturen verhaftet zu sein, können wir erahnen, dass diese eschatologische Hoffnung unser Handeln und Denken schon heute verändert. Bonhoeffer beschreibt dies mit der Bestimmung des Menschen, im „Vorletzten“ zu leben, das vom „Letzten“ bestimmt wird. Das „Letzte“ ist die endgültige Erfüllung durch die Wiederkunft Christi, das „Vorletzte“ die Ambivalenz zwischen gefallen und erlöst sein (Bonhoeffer 1992:137ff).
Menschenwürde ist demnach ein relationaler Begriff, der die unterschiedlichen Beziehungsebenen zwischen Gott und Menschen beschreibt. Dieses Verständnis der Ebenbildlichkeit des Menschen bildet die theologische Grundvoraussetzung für seine Würde und die sich daraus ergebenden Menschenrechte. Rainer Anselm entwickelt daraus drei grundlegende Aspekte von Menschenwürde: (in Geisthardt 2010:11)
Menschliches Leben ist immer fragiles, bedrohtes und fehlerhaftes Leben.
Die Würde des Menschen basiert nicht auf bestimmten Eigenschaften oder Leistungen, sondern ist ihm unabhängig von seinen Wesenseigenschaften zuerkannt.
Die ein für alle Mal zugesprochene Würde ist nicht wieder entziehbar, sondern unbegrenzt gültig. Sie kann durch den Träger der Würde weder veräußert noch verwirkt werden.
Dieses Wissen hat die Kraft, bestehende Unterschiede zu überwinden und heilend in die Beziehungsebenen einzugreifen, in denen Menschenwürde und Menschenrechte nicht gewahrt werden. Die Würde des Menschen und seine Rechte be-inhalten stets auch einen Auftrag. Der Mensch steht immer in unterschiedlichen Beziehungsebenen zu anderen Menschen und zur Schöpfung. Er hat die Aufgabe, diese Teilhabe an Vernunft und Macht gestaltend auszuüben. Deshalb stehen gerade Christinnen und Christen für Menschenrechte ein, sie stellen sich auf die Seite von Minderheiten und Entrechteten. Doch weil sie mitten in den verletzlichen Beziehungen dieser Welt leben, brauchen sie die Kraft der Versöhnung, die durch die Imago Christi in ihnen deutlich wird. Christus hat sich mitten in die Unversöhnlichkeit dieser Welt gestellt. Durch seinen gewaltsamen Tod hat er die Macht der Gewalt in dieser Welt gebrochen.
Das Kreuz als Botschaft des Friedens, der Gerechtigkeit und der Versöhnung
Der Mensch ist verwoben in der Struktur der Sünde und in einem ewigen Kreislauf der Gewalt und des Todes. Das zeigt sich in vielen kriegerischen Konflikten ebenso wie in zwischenmenschlichen Problemen. Dies bedeutet aber auch, dass jeder Konzern, jeder Staat oder jede Partei in diesen globalen Kampf der Mächte einbezogen ist. Vereinfacht könnte man sagen, dass jede Macht sowohl gut als auch böse ist. Genau in diesen ausweglosen Kreislauf stellt Gott das Kreuz als Friedenszeichen der Erlösung. Es soll diesen ewigen Kampf stoppen.
Das Kreuz spielt in der Geschichte Gottes mit den Menschen eine zentrale Rolle, wenn es um Versöhnung und Gerechtigkeit geht. Es spiegelt die Würde des Menschen wider, die in der Existenz des Menschen und seiner Ebenbildlichkeit angelegt ist. Ein Zeichen und Fest dieser Versöhnungstat ist das Abendmahl. Menschen, die nach den Grundsätzen der Ebenbildlichkeit leben, streben nach der Gerechtigkeit Gottes. Sie leben mitten in dieser Welt, heben dabei die gesellschaftliche Diskrepanz zwischen Arm und Reich auf und schaffen so einen neuen Raum für Versöhnung (2. Kor 5,18-19) – und somit auch für die Anbetung Gottes.
Daraus folgt eine neue Form von Gemeinschaft, die von der Kraft der erfahrenen Versöhnung lebt und diese wieder weitergeben kann. Diese Gemeinschaft hat das Potenzial, die großen Diskriminierungen dieser Welt zu überwinden, wie Paulus an die Gemeinden in Galatien (Gal 3,28) und uns heute schreibt: In Christus gibt es nicht mehr Griechen und Juden (kulturelle Differenzen), nicht mehr Männer und Frauen (geschlechtliche Unterdrückung) und nicht mehr Freie und Sklaven (Ausbeutung durch Ungleichheit). In ihm sind sie allesamt eins. In dieser neuen Gemeinschaft können die großen Ausgrenzungen überwunden werden. Konkret zeigt sich das, indem wir lernen:
a) Menschen wahrzunehmen; hinzuschauen, wo andere wegschauen;
b) unseren Verstand zu nutzen; zu analysieren und nach den Ursachen zu fragen;
c) auf unser Herz zu hören: Mitgefühl zuzulassen;
d) unsere Hände einzusetzen, um Nächstenliebe in konkrete Taten umzusetzen.
Wir westlichen Christen können dabei von den südlichen Geschwistern lernen. Sie sind uns in vielen biblischen Tugenden – Gemeinschaft leben, Gaben teilen oder um Christi willen leiden – ein Vorbild. Hier haben gerade die scheinbar Armen viel zu geben und die scheinbar Reichen zu empfangen.
Im Abendmahl wird die Würde aller Menschen sichtbar und gemeinsam gefeiert. In Christus gibt es keine Unterschiede mehr, sondern sein Brot und Wein verbinden und versöhnen Menschen aller Kulturen und ermöglichen so einen eschatologischen Ausblick auf die kommende Herrschaft Christi. Einheit statt Trennung ist die Botschaft Christi und stellt die Botschaft der Welt auf den Kopf. Abendmahl bedeutet so auch Weltverwandlung und verbindet Menschen global miteinander im neuen Stand Christi. Im Abendmahl werden die herrschenden Kräfte dieser Welt außer Kraft gesetzt und durch die Macht Christi ersetzt. Durch den Tod und die Auferstehung Christi sind alle Menschen mit Christus verbunden und vor und in ihm gleichgestellt – wohlwissend, dass dies in einer eschatologischen Spannung geschieht.
Die theologische Bedeutung des Abendmahls gibt einen Ausblick auf das, was im Himmel sein wird. Hier wird aber auch ein Auftrag von Gott an uns formuliert, der sich mitten unter uns erfüllen soll und einen Teil des Reiches Gottes sichtbar abbildet. Dieses Reich Gottes ist umkämpft. Wir brauchen mehr als menschlichen Idealismus. Gottes Geist ist es, der das neue Leben in uns, um uns und durch uns schafft (Röm 7,6; 8,2-17). Und Gott selbst ist es, der versprochen hat, dieses Reich einmal zu vollenden. Das gibt in diesem Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit die Kraft, weiterzumachen, durchzuhalten und im Vertrauen auf ihn immer wieder auch das Unmögliche zu wagen. Denn er hat uns versprochen: „Siehe, ich komme bald!“ (Offb 3,6).
Dr. Tobias Faix
Dr. Tobias Faix lebt mit seiner Frau Christine und seinen zwei Töchtern in Marburg. Er studierte in Deutschland, Amerika und Südafrika Theologie und arbeitet als Professor für Praktische Theologie an der CVJM-Hochschule in Kassel. Er ist Autor mehrerer Bücher zu den Themenbereichen Jugend, Gemeinde und Gesellschaft.
Dr. Thomas Kröck
Dr. Thomas Kröck promovierte in tropischer Landwirtschaft nach Forschungsarbeit auf den Philippinen und war
zehn Jahre in der ländlichen Entwicklung in Tansania tätig. Von 1999 bis 2012 leitete er die Indienhilfe des
Deutschen EC-Jugendverbandes und ist seitdem Studienleiter für Development Studies & Transformation am
Marburger Bildungs- und Studienzentrum.