Cleo weiß nichts mit ihrem Leben anzufangen. Nach schlimmen Erlebnissen in ihrer Kindheit lebt sie inzwischen in einer Wohngruppe und versucht, ihren Schulabschluss zu schaffen. Was danach kommen soll, ist ihr allerdings ein Rätsel. Sie kann nichts, sie ist niemand.
Nach einem Diebstahl wird Cleo zu Sozialstunden auf dem Friedhof verdonnert. Sie ahnt nicht, wie die Geschichten der Toten sie verändern werden ...
Danic ist Zirkusartist mit einer großen Followerschaft im Netz. Doch während er mit seiner Familie durchs Land tourt und mit seiner Freundin in der Manege auftritt, träumt er davon, Jura zu studieren und sich für mehr Gerechtigkeit starkzumachen. Er versteht die Welt nicht mehr, als er auf ein Unglück in der Geschichte seiner Familie stößt, das alle im Zirkus beharrlich totschweigen.
Ist es möglich, dass sich auf dem Friedhof mehr als Staub und in der Manege nicht nur Glitzer finden lässt?
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Kapitel 1
Das Mädchen saß auf dem kühlen Stahlträger
und starrte hinunter in die Tiefe.
Unten schimmerte der Fluss.
Einladend. Ruhig. Tröstlich.
»Clementine. Wie die Frucht.«
Der Stift kratzte über das Papier und ihr Name erschien, natürlich falsch geschrieben.
Wie so oft.
Ungeduldig trommelte Cleo mit den Fingern auf ihren Oberschenkeln. Wann würde diese nervige Befragung endlich vorbei sein? Es war heiß in dem stickigen Büro des Kaufhausdetektivs. Zwischen ihren Brüsten bildeten sich schon Schweißperlen und das konnte Cleo nicht leiden.
»Du weißt, dass ich deine Daten überprüfen werde«, zischte der hässliche kleine Mann, in dessen Fängen sie sich befand. Schon wieder.
Gut, beim letzten Mal war es eine tätowierte Frau um die vierzig gewesen und das Büro wesentlich geräumiger. Trotzdem war es immer dasselbe.
Strafende Blicke, eine endlose Standpauke und die Androhung, sie dürfe den Laden ein ganzes Jahr lang nicht mehr betreten. Als ob es nicht genügend andere Supermärkte gäbe, auf die sie ausweichen konnte. Hausverbot hatte sie derzeit nur in zwei Discounterketten. Morgen würde sie es eben noch einmal an der Tankstelle versuchen. Dort hatte sie schon zweimal Tabak geklaut, ohne erwischt zu werden.
Aber erst einmal musste sie hier rauskommen.
Erfahrungsgemäß ließen die Erzieher sich Zeit, bevor sie auftauchten. Letzte Woche hatte es fast zwei Stunden gedauert, bis Mike mit dem blauen Polo auf dem Parkplatz erschienen war.
»Was soll das, Cleo?«, hatte er mit hochgezogenen Brauen gefragt. »Wir haben Besseres zu tun, als dich ständig aus irgendwelchen Detektivbüros abzuholen. Steig ein.«
Mike war eigentlich ganz okay. Er interessierte sich für seine Schützlinge und er war der Einzige, der Cleo manchmal zum Lachen bringen konnte. Außerdem sah er gut aus. Durchtrainiert, aber nicht protzig. Mit so schönen, leuchtend blauen Augen, und die Frisur immer ein wenig strubbelig. Aber er war uralt, mindestens Anfang dreißig. Also komplett uninteressant.
»Ich habe dich etwas gefragt«, drang plötzlich die Stimme des Kaufhausmackers in Cleos Bewusstsein.
Irritiert hob sie den Blick.
»Wen ich anrufen soll, will ich wissen. Jemanden, der dich abholt.«
Seufzend nannte Cleo die Nummer ihrer Wohngruppe. »Fragen Sie nach Mike.«
Während der Mann sich abwandte, um zu telefonieren, drückte Cleo das T-Shirt auf die Schweißperlen. Verdammte Hitze. Sie mochte den Sommer, aber hier in dieser stickigen Kammer war es einfach unerträglich.
Immerhin gab es, schräg gegenüber dem Stuhl, auf dem sie saß, einen kleinen Spiegel. Kritisch betrachtete Cleo sich darin. Langes schwarzes Haar umrahmte ein schmales Gesicht mit vollen Lippen und einer kleinen, hübschen Nase. Ein großes braunes Auge funkelte daneben; das andere wurde von der glatten schwarzen Pracht beinahe verdeckt. Aus gutem Grund.
Viel mehr als das Gesicht war im Spiegel nicht zu sehen. Der elegante Hals und ein kleiner Ansatz ihres Dekolletés, mehr nicht. Aber Cleo wusste, dass sie gut aussah. Zu gut für manchen.
»Er sagt, dass es eine Weile dauern kann.« Der Detektiv ließ den Hörer sinken und warf ihr einen unwilligen Blick zu. »Wie ich es hasse, wenn ihr Kröten mir meine wertvolle Zeit stehlt. Ich habe wichtigere Aufgaben, als auf kleine Mädchen aufzupassen.«
Cleo musterte ihn angriffslustig. »Ach ja, was denn? Ich dachte, es sei Ihr Job, böse Diebe dingfest zu machen.« Leider klang ihre Stimme nicht halb so selbstbewusst, wie sie es gewollt hatte. Im Gegenteil, sie kratzte ein wenig, als wollte sie verraten, dass da eigentlich Tränen darauf warteten, fließen zu dürfen.
»Jetzt werd nicht noch frech.« Der kleine Mann setzte sich auf einen Stuhl ihr gegenüber, genau vor den Spiegel. »Warum macht ihr das eigentlich? Hast du wirklich kein Geld oder ist das eine Mutprobe?«
Cleo zuckte mit den Schultern und wandte den Blick ab. Als ob sie erklären könnte, warum sie tat, was sie tat. Es war ihr ja selbst ein Rätsel, aber das ging diesen Typen gar nichts an.
Nein, es lag nicht am mangelnden Geld. Sie musste auch niemandem etwas beweisen - außer vielleicht sich selbst. Die Dinge, die sie geklaut hatte, waren ihr nicht einmal wichtig. Sie hatte sie einfach eingesteckt und das Gefühl genossen, unsichtbar zu sein. Tja, nicht unsichtbar genug. Beim nächsten Mal würde sie noch geschickter vorgehen müssen.
Die folgenden Minuten unter dem kritischen Blick des stämmigen Mannes mit der lächerlichen Lederweste vergingen quälend langsam.
Cleo vermutete, dass Mike sie absichtlich schmoren ließ - im wahrsten Sinne des Wortes.
Er betrat erst den Raum, als Cleo das Gefühl hatte, ihre Körpertemperatur wäre bis kurz vor der Kernschmelze angestiegen.
»Endlich«, stöhnte sie und stand auf.
Aber der Kaufhausdetektiv drückte sie zurück auf den Stuhl.
»He!«, protestierte Cleo und stieß seine Hand heftig weg. Wie konnte er es wagen, sie anzufassen! Sie spürte, wie ihr Herz zu rasen begann, neue Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn und rannen an ihren Schläfen herab. Cleo stützte sich mit der Hand an der Wand ab, um wegen des plötzlich aufkommenden Schwindels nicht zu wanken.
Mike warf ihr einen beschwörenden Blick zu. Jetzt bloß ruhig bleiben, hieß das.
Der Erzieher stellte sich in die winzige Lücke zwischen Cleo und dem Detektiv, eine menschliche Mauer gegen den Übergriff. Dankbar schloss das Mädchen die Augen und atmete durch.
Mike würde das hier regeln.
»Wo muss ich unterschreiben?«, hörte sie ihn fragen.
Zum Glück waren die Formalitäten rasch geklärt. Sogar die umfangreiche Belehrung konnte Mike abwenden, indem er versicherte, er hätte so etwas schon mehrmals gemacht.
Als sie zum Auto gingen, fühlte Cleo das schlechte Gewissen stärker als je zuvor. Obwohl sie nicht schnell genug von diesem Supermarkt wegkommen konnte, schienen ihre Füße aus Blei zu sein. Mit gesenktem Kopf folgte sie Mike über den Parkplatz.
Er öffnete ihr die Autotür. Für einen kurzen Moment sah er ihr in das freie Auge. Für Cleo war es, als dringe dieser Blick bis in ihre Seele. Rasch schlüpfte sie auf den Sitz, um diese Intimität zu unterbrechen.
Niemand hatte in ihrer Seele etwas zu suchen.
Mike schlug die Tür zu, umrundete den Wagen und setzte sich ans Steuer. Er drehte den Zündschlüssel im Schloss und das beruhigende Vibrieren des Motors setzte ein. Aber anstatt loszufahren, wandte Mike ihr das Gesicht wieder zu. »Was sollen wir nur mit dir machen, Cleo?« Er sah ehrlich besorgt aus und Cleo spürte, wie ihr Bauch sich verkrampfte. Sie biss auf ihre Unterlippe. Wie gut der Schmerz tat.
»Das ist das dritte Mal innerhalb von vier Wochen, dass du beim Klauen erwischt wirst. Wo soll das hinführen?«
Weil ihr keine Erwiderung einfiel, zuckte Cleo mit den Schultern. Sie fühlte sich hilflos, wusste aber, dass Mike es als Trotz auffassen würde.
Endlich löste er die Handbremse und legte einen Gang ein. Der Wagen rollte über den Parkplatz. Cleo starrte bewegungslos aus dem Fenster, die Zähne noch immer in die Lippe gepresst. Wohin soll das führen? Gute Frage. Nirgendwohin. Denn sie gehörte nirgendwohin. Cleo schmeckte Blut und lockerte widerstrebend den Druck ihres Kiefers.
Mike akzeptierte ihr Schweigen und wenig später erreichten sie das Gelände der Wohngruppe. Der Polo kam zum Stehen.
Obwohl sie lieber einfach sitzen geblieben wäre, löste Cleo rasch den Gurt und stieg aus dem Wagen. Nur schnell in ihr Zimmer, bevor Mike weitere Fragen stellen konnte.
Die vordere Tür des Hauses stand offen. Im Jugendclub, der im Erdgeschoss untergebracht war, herrschte bereits Hochbetrieb. Eilig ließ Cleo möglichst viel Haar vor ihr Gesicht fallen, sodass nur noch ein kleiner Spalt zum Sehen frei blieb. Dann ging sie mit langen Schritten durch das Tor zum Hinterhaus und schlüpfte hinein. Drinnen im Flur war es kühl und ruhig. Aber oben am Treppenabsatz wartete wahrscheinlich schon Mona, die Sozialarbeiterin, die heute Tagschicht hatte. Cleo wünschte sich erneut, unsichtbar werden zu können. Das war die einzige Superkraft, die sie wirklich gern gehabt hätte. Es würde so vieles einfacher machen. Und es hätte so vieles schon verhindert, was ihr zugestoßen war. Aber daran wollte Cleo jetzt auf keinen Fall denken.
Auf Zehenspitzen huschte sie die Stufen hinauf. Richtig, oben am Tresen saß Mona. Sie blickte auf einen Block, der vor ihr lag: Vermutlich rechnete sie irgendwelche Ausgaben durch. Wenn Cleo ganz leise war, konnte sie vielleicht unbemerkt an ihr vorbeihuschen.
»Hi, Cleo.«
War ja klar. Sozialarbeiter waren wie Lehrer. Sie hatten scheinbar überall Augen.
»Ich hab Kopfschmerzen«, behauptete Cleo und versuchte, möglichst unschuldig auszusehen. Vielleicht hatte Mike noch nichts von dem Diebstahl gesagt.
»Okay, aber wir reden später.«
Natürlich. Wer hätte auch erwartet, dass nicht sämtliche Angestellten mit ihr über jeden ihrer Fehltritte hätten sprechen wollen. Cleo wusste, wie der Hase lief.
Sie rannte beinahe durch den kurzen Flur zu ihrem Zimmer.
Endlich. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Instinktiv drückte sie noch einmal dagegen, als würde das verhindern, dass ihr jemand folgte. Leider war es verboten abzuschließen.
Cleo warf ihren Rucksack auf das Bett und schob mit dem Fuß ihren Sitzsack vor die Tür. Am liebsten hätte sie auch noch den Schreibtisch dorthin geschoben.
Erst jetzt, in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers, bemerkte Cleo, wie schnell sie noch immer atmete. Ihr Herz raste, als hätte sie den Mount Everest erklommen.
Verdammt, diese Scheißgefühle! Wie ein Tiger im Käfig ging Cleo zwischen Tür und Schreibtisch auf und ab.
Beruhige dich, Cleo. Ganz ruhig. Es ist vorbei.
Aber die Panikattacke ließ sich nicht wegreden. Wie eine Lawine brachen tausend Gedanken über sie herein. Raue Finger griffen nach ihr und zerrten an ihrem T-Shirt. Die Hand, auf ihren Mund gedrückt, war hart wie Stahl.
Wehe, wenn du schreist! Wenn du stillhältst, ist es schnell vorbei.
Cleo fühlte, wie ihr erneut der Schweiß ausbrach. Diesmal lag es nicht an der Hitze. Mit zitternden Händen packte sie das ehemals rosafarbene Schwein, das auf ihrem Kopfkissen lag, und presste ihr Gesicht hinein.
Atmen. Ruhig atmen. Du bist ganz allein hier, Cleo. Es ist keiner da, der dir etwas tun kann.
Aber die Logik hatte keine Chance. Als hätte jemand die mühsam zugedrückte Tür eines überfüllten Schrankes geöffnet, so stürzten vergangene Ereignisse über sie herein. Sie krallte die Hände in den ausgebleichten Plüsch und versuchte, sich nur auf ihren Atem zu konzentrieren. Ein und aus. Ein und aus.
Endlich wurde die Erinnerung weniger intensiv. Die Knie wurden ihr weich und Cleo ließ sich auf den Sitzsack fallen. Das Schwein sank in ihren Schoß. Wie oft Rosalie ihr in den letzten Jahren geholfen hatte, das Hyperventilieren zu stoppen.
Cleo hasste es, welche Macht die Vergangenheit noch immer über sie hatte. Dabei war das alles so lange her. Wie aus einem anderen Leben. Aus einer Zeit, in der noch keine zartrosa gestrichenen Wände ihr Schutz geboten hatten. Nichts war damals so gewesen, wie es heute war.
Mit einem tiefen Atemzug ließ Cleo die Anspannung entweichen, die sie seit dem Moment im Griff gehabt hatte, als der Kaufhausdetektiv sie auf den Stuhl gedrückt hatte.
Natürlich hatte dieser Mann nichts mit alldem zu tun, was geschehen war. Er hatte jedes Recht, sie, die Diebin, zu maßregeln. Es war nicht seine Schuld, dass er sie an den Mann erinnerte, dem sie ausgeliefert gewesen war.
Nein, es war nicht seine Schuld. Es war ihre eigene.
Anni E. Lindner
Anni E. Lindner ist Heilsarmeeoffizierin und lebt in dieser Funktion mit ihrem Mann und den sechs Kindern ein fröhliches Nomadenleben. Derzeit leitet das Ehepaar das Kinder- und Familienzentrum „Heilse“ in Chemnitz.
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