Als Deutscher zählte ich mit meinen 26 Jahren schon zu den älteren Semestern, viele der Nordamerikaner in unserer Gruppe waren erst um die 18. Das Motto war: „Step out of your comfort zone!“ Ja, schon, aber alles bitte in Maßen.
Ich hatte ja auch nicht den Anspruch von Jan, dem Holländer. Er hatte vor unserem Aufbruch, als unsere Rucksäcke mit der strengen Packliste abgeglichen wurden, tatsächlich versucht, sein „nice little pillow“, ein aufblasbares Reisekissen, einzuschmuggeln. Doch er war an Adams stoischem
Alabama-Lächeln gescheitert. Adam, der Amerikaner, war
Peters rechte Hand und sorgte dafür, dass alles nach den Regeln der ABS ablief. Dazu gehörten auch die Liegestützen für die ganze Gruppe, wenn sich jemand bei unseren Treffen verspätete. Wir mussten so lange pumpen, bis derjenige endlich eintraf, auf den wir keuchend warteten. Schon klar, dass wir uns auf Entbehrungen einzustellen hatten und Kissen Fehlanzeige waren. Abenteuer eben. Aber bitte alles in Maßen.
Angeblich hatten in „Der Herr der Ringe“ Orks vor diesem Felsen gekämpft, was ihn besonders, aber nicht sympathischer machte. Eine prächtige Kulisse bot er zweifelsohne. Wir sollten ihn nun selbst in Form einer Traverse bezwingen. Unser Auftrag war es also nicht, an einer seiner Seiten hochzuklettern, sondern den schmalen Saurierrücken der Länge nach zu überqueren, quasi vom Schwanz zum Kopf. Peter und Adam waren vorausgeklettert und hatten dabei ein Seil über den schmalen Grat gespannt, an dem wir uns mit Karabinern sichern konnten. Peter war gebürtiger „Kiwi“, ein „Outdoorsman“ wie aus dem Buche. Ein blonder, bärtiger Hüne, das Gesicht von der in Neuseeland aggressiven Sonne gegerbt. Er war Asket durch und durch, was wir vor allem schmerzlich daran merkten, dass unsere Essensrationen bis auf die letzte Kalorie berechnet waren. „Natürlich könnt ihr mehr essen“, pflegte er uns in die hungrigen Gesichter zu sagen. „Aber ihr braucht nicht mehr.“
Er war es auch, der uns in das Traversenklettern einwies. „An einer Stelle könnt ihr euch entscheiden, wie ihr weiterklettern wollt“, sagte er. „Ihr stoßt auf ein Hindernis, um das ihr entweder rechts oder links herumklettern könnt.“ Ich merkte auf. „Der rechte Weg ist der einfachere“, fuhr Peter fort. Mein Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Er deutete auf die Seite des Felsens, auf der wir uns befanden.
Zwanzig Meter mochten es sein, die man dort oben unter sich hatte. Das war mehr als genug für jemanden, der das Klettern am Fels nicht zu seinen Leidenschaften zählt. Meine Muskeln sind grundsätzlich eher auf Schnellkraft als auf Ausdauer angelegt. Beim Klettern verlassen die Kräfte sie allzu schnell, Griffe lösen sich, wo sie es nicht sollen, und ich falle. Ich hasse das, aber so ist es nun einmal.
„Der linke Weg ist sehr viel schwieriger zu klettern“, fuhr Peter fort, als ich meine Entscheidung längst gefällt hatte. Ich wusste, dass der Felsenkamm auf der anderen Seite nicht nur zwanzig Meter Höhe besaß, sondern nahtlos in eine Schlucht überging, regelrecht ins Bodenlose stürzte. Sollte den linken Weg nehmen, wer wollte, für mich war der rechte Abenteuer genug.
Peter erwartete mich oben an der Gabelung. Seelenruhig kauerte er dort, während meine Hände krampfhaft an den Felsspitzen Halt suchten. Ich hatte der Höhe wegen mit Schwindel zu kämpfen, als ich mich langsam auf Peter zubewegte. Ah, das Hindernis, jetzt also rechts vorbei, dachte ich. Peter dachte etwas anderes. „Nun, Christian, ich möchte, dass du den linken Weg nimmst“, sagte er mit trockener Stimme, als ich nahe bei ihm war. Er schmunzelte. Ich weiß nicht, warum, aber ich widersprach ihm nicht. Vielleicht, weil dies nicht der Ort für eine intensivere Auseinandersetzung war. Vielleicht aber auch, weil ich irgendwo tief in meinem Herzen spürte, dass dies eine Chance war, von denen man nicht viele im Leben bekam. Die Chance auf ein echtes Abenteuer.
Ich willigte ein und Peter begann mir zu erklären, was zu tun war. Der Fels streckte eine lange Nase in Richtung der bodenlosen Schlucht. Irgendwie musste ich an dieser Nase vorbeikommen, unter ihr hindurchklettern – an einer glatten Wand, die gefühlt mehrere Hundert Meter senkrecht in die Tiefe abfiel. Das Sicherungsseil war quer zu ihr gespannt, was absolut kein Trost war. Denn wenn ich fiele, würde es mich erst nach etlichen Metern auffangen und dann würde ich dahängen, an einer glatten Wand zwischen Himmel und Erde. Dann könnte ich mich nicht einfach wie in der Kletterhalle kontrolliert abseilen. Ich müsste die steile Wand wieder hinaufsteigen, was mir noch schwerer erschien als die eigentliche Aufgabe.
„Wenn du deinen linken Fuß hier herunterlässt, dann kannst du ihn auf einen Felsvorsprung stellen“, riss mich Peter aus meinen Gedanken. Ich tat, was er sagte, doch da war nichts außer einer Tiefe, die meinen Namen zu rufen begann. Langsam zog ich meinen Fuß wieder zurück. „Doch, ganz sicher, da ist etwas“, beharrte Peter. Beim zweiten Anlauf fand ich eine kleine Falte im Fels, auf der ich zwei Zehenspitzen platzieren konnte. Ich versuchte nichts zu denken und richtete meinen Blick stur in die Richtung des Felsens. Auf keinen Fall nach unten schauen! Irgendwie fanden meine Hände und Füße den notwendigen Halt und Schritt um Schritt, Griff um Griff, Stoßgebet um Stoßgebet konnte ich langsam unter der Felsnase hindurchklettern. Auf der anderen Seite zog ich mich wieder auf den nun wie eine sichere Bank wirkenden Grat hinauf und setzte mich auf den Hosenboden. „Ich kann nicht glauben, dass ich das gemacht habe“, keuchte ich. In meinen Schwindel, meine Unsicherheit und meine Anspannung mischte sich zunehmend ein anderes Gefühl: die Freude, etwas Unerhörtes geschafft zu haben.
Das Abenteuer fängt da an, wo wir bereit sind, die Kontrolle über unser Leben abzugeben. Wie ich an jenem Felsen haben wir zum einen die Wahl, unser Dasein in einigermaßen kontrollierbaren Bahnen verlaufen zu lassen bzw. es zumindest mit diesem Ansinnen zu leben. Wir versuchen es durch lückenlose Planung zu kontrollieren und diese durch pausenlose Leistung zu realisieren. Gegen den Rest an Unvorhersehbarem versichern wir uns nach Kräften. Oder wir bleiben einfach zu Hause, wo uns nicht mehr als die Decke auf den Kopf fallen kann. Am Ende sind allerdings wir die Kontrollierten, denn die unzähligen Sicherungsseile ketten uns an den Felsen eines behüteten Lebens wie einst den griechischen Götterhelden Prometheus an einen mächtigen Steinbrocken im Kaukasus. Dieser musste sich jedenfalls keine Sorgen machen abzustürzen. Aber er war das Gegenteil eines freien Mannes.
Die andere Wahl, die wir treffen können, ist die des zweiten Weges, des Abenteuers. Der griechische Sagenheld He-
rakles hat ihn gewählt, als er am Scheideweg stand. Und das, obwohl der einfache Weg verlockender nicht hätte aussehen können: Eine schöne Frau versprach ihm pure Glückseligkeit und obendrauf, ihn vor Schmerzen aller Art zu bewahren. Die zweite Wegweiserin, auf die Herakles schließlich hörte, sah schlicht aus und der Weg, den sie wies, war auf den ersten Blick kein bisschen attraktiver als sie: Mühen und Fleiß würde er erfordern, aber auch Ehre und Bewunderung mit sich bringen. Ob diese zweite Frau auch schmunzelte, als sie zum schwierigeren Weg riet, ist nicht überliefert. Jedenfalls hörte der junge Herakles auf sie – und wurde so zum Helden.
Das Wort „Abenteuer“ geht auf das lateinische „adventura“ zurück, was so viel bedeutet wie: „das, was geschehen soll“. Damit ist ein Geschick gemeint, ein Ereignis, das wir zwar suchen und bewusst in Angriff nehmen, mitnichten aber im Voraus durchplanen oder beim Eintreffen kontrollieren können. Diese Eigenschaften machten es in der Vorstellungswelt des Mittelalters zur Bewährungsprobe eines Helden. Als der legendäre König Artus (der mit der Tafelrunde) eine Jagd veranstaltete, um den vermutlich ebenso legendä-
ren weißen Hirsch zu jagen, durfte der junge Ritter Erec nicht an ihr teilnehmen. Begründung: Er hatte noch kein Abenteuer bestanden. Diese Abfuhr zeigt uns, dass das Abenteuer im Ursprung eine bedeutende, ja ernste Angelegenheit war. Nur der Mann, der in verschiedenen Herausforderungen erprobt war, zählte bei Hofe etwas. Deswegen suchte ein Ritter seine Abenteuer, um durch sie zum Mann zu reifen – zu einem Mann, dem man nicht nur eine Prinzessin, sondern ein ganzes Königreich anvertrauen konnte.
Ich glaube, dass es Gottes Plan für jeden Mann ist, solch ein König zu sein. Ein Mann, der sich in Abenteuern bewährt hat. Ein Mann, dem sich die Prinzessin gerne anschließt. Ein Mann, dem man ein ganzes Königreich anvertraut. Gott beruft uns Männer dazu, dieses Ideal von Männlichkeit anzustreben. „Bis wir alle hingelangen“, schreibt der Apostel Paulus im Brief an die Epheser, „zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Mann“ (Epheser 4,13). Dann verweist er darauf, dass dieses Ideal eines vollkommenen Mannes in Jesus Christus Fleisch geworden ist und dass wir Männer genau da hingelangen sollen: „zum vollen Maß der Fülle Christi“.
Das Wort „Advent“ stammt von demselben lateinischen Wort wie Abenteuer. Als der Sohn Gottes beschloss Mensch zu werden, war dies der Auszug eines Mannes in das größte aller Abenteuer. Die Bewährungsproben ließen nicht lange auf sich warten: Schon als Säugling sollte Jesus getötet werden. Und kaum hatte sein Wirken als Messias begonnen, versuchte Satan ihn in der Wüste, um ihn zu Fall zu bringen. Ständig umgaben ihn feindlich gesinnte Menschen, um ihn selbst oder zumindest doch seine Integrität anzugreifen. Doch Christus lebte als vollkommener Mann und seine Feinde konnten ihm bis zu seinem Tod am Kreuz nichts Übles nachsagen. Ganz im Gegenteil: Er verkörperte das Ideal wahrer Königlichkeit. Er triumphierte über den Tod, besiegte den Drachen, rettete die Prinzessin. Daher vertraute ihm sein Vater nicht nur ein Königreich an, das Reich Gottes, sondern auch ebenjene wunderschöne Prinzessin, die Gemeinde, eine Braut, „die keinen Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern die heilig und untadelig sei“ (Epheser 5,27).
Wir sind als Männer dazu berufen, wie Christus zu sein. „Dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes“, definiert Paulus im Römerbrief diese Bestimmung (Römer 8,29). Mich erinnert das an das Bild eines zum König geadelten Ritters, der seine Abenteuer, seine Bewährungsproben in Angriff genommen und tadellos bestanden hat. Seine Krone aus Dornen erinnert an die Kämpfe, die er durchgestanden hat. Sein Wesen ist das eines wahren Königs, edel, wahrhaft und gerecht. Wenn nun Jesus ein König ist, und wir ihm gleich sein sollen, dann ist es auch die Bestimmung eines jeden Mannes, ein König zu sein. Ein König wie er. Jesus trägt den Titel „König aller Könige“ (Offenbarung 19,16). Wer sind die „Könige“, von denen hier die Rede ist? Mir gefällt der Gedanke, dass wir es sind. Männer, die sich entschieden haben, diesem einen König nachzufolgen, um dabei immer mehr in sein Bild verwandelt zu werden.
Der Weg der Nachfolge Jesu ist der Weg des Abenteuers. Das Abenteuer formt den Mann zum König. Bedauernswert ist, dass vielen Männern ihre Bestimmung, ein König zu sein, nicht bewusst ist. Sie verfolgen dieses gottgewollte Ziel nicht, suchen das Abenteuer allenfalls um seiner selbst, um des Kicks, des Adrenalins willen. Bezeichnend ist, welche Abwertung das Wort „Abenteuer“ schon bald nach dem Mittelalter erfahren hat. Der Ausdruck „Liebensabenteuer“ für den vollzogenen Ehebruch ist dabei das untere Ende der Fahnenstange. Er täuscht Männern vor, Abenteurer zu sein, wo sie Besiegte sind. Casanova war kein König.
Dennoch gibt es in jedem Mann die Sehnsucht nach dem echten Abenteuer. Als ich ein Junge war, kamen gerade die ersten Computerspiele auf den Markt. Der Vater meiner Freunde besaß eines der ersten PC-Modelle, sein Schwarz-Weiß-Monitor war nicht größer als heute das Display eines Smartphones. Wir liebten es, auf ihm das Abenteuerspiel „King’s Quest“ zu spielen. Wir steuerten mithilfe der Pfeiltasten ein kleines Männchen durch eine märchenhafte Welt, sein Name war Sir Graham. Viele Gefahren, Rätsel und Gegner warteten auf den Ritter mit dem Abenteurerhut (es handelte sich um ungefähr so einen, wie ihn Errol Flynn in der alten Verfilmung von „Robin Hood“ trägt). Nachdem er mit unserer Hilfe (und der des Lösungsbuchs) alle Abenteuer bestanden hatte, wurde Sir Graham zu King Graham und bekam als Auszeichnung eine Krone auf den Kopf. Grahams Krone war also ohne den Abenteurerhut nicht zu haben. Auch als König, in weiteren Folgen des Spiels, wo neue Gefahren und Bedrohungen auf ihn lauerten, nahm er die Krone immer wieder ab, um sie mit dem Abenteurerhut zu vertauschen.
Wieder und wieder treffen wir in unserem Leben auf Situationen, in denen wir uns entscheiden können, den Abenteurerhut aufzuziehen. Natürlich können wir ihn auch links liegen lassen und rechts am Felsen vorbeiklettern. Den Weg der Sicherheit, der Kontrolle, des geringsten Widerstands wählen, so, wie ich es damals in Neuseeland vorhatte. Wir sparen dabei enorm viel Schweiß und Schrammen. Aber wir werden nicht zu den Königen, zu denen Gott uns berufen hat. Geduldig aber wartet er immer wieder auf uns, dort, an jenen Stellen in unserem Leben, wo der Weg sich gabelt, so, wie damals Peter auf mich gewartet hat. Und wo wir uns den einfachen Weg erwählen, flüstert er uns zu, dass er einen anderen für uns hat, den Weg des Abenteuers, den Weg, der einen Mann zum König macht. Er zwingt uns nicht, ihn zu gehen. Er lässt uns die andere Option. Doch wie Peter zögert er auch nicht uns mitzuteilen, welchen Weg er für uns vorgesehen hat. Er freut sich, wenn wir ihn wählen, weil er sieht, dass wir unserer Bestimmung folgen. Ob er dabei schmunzelt, weiß ich nicht.