Eigentlich hatte Enni andere Pläne für ihre Semesterferien, doch nun muss sie notgedrungen ihren Bruder in dessen Café am Ammersee unterstützen – dabei ist niemand ungeschickter im Kuchenbacken und -servieren als sie. Immerhin kann sie bei ihrer Freundin Juna im Apartmenthotel Lukas unterkommen, die dort gerade ein Praktikum macht. Trotzdem hält sich Ennis Begeisterung in Grenzen.
Dass Julius aus der Wohnung gegenüber einen auf Romeo zu machen versucht, obwohl er gar nicht ihr Typ ist, verbessert die Lage nicht wirklich – oder vielleicht doch?! Aber auch Julius ist nicht ohne Grund im Hotel ...
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Der Typ auf dem Platz schräg gegenüber beobachtet mich. Ich kann dank der Spiegelung im Zugfenster genau sehen, wie er immer wieder verstohlen eine Strähne seines dunklen Haars zurückschiebt und in meine Richtung schaut.
Das tut er schon seit einer Dreiviertelstunde, angesprochen hat er mich allerdings bisher nicht. Während ich vorgebe, die zunehmend bergige Landschaft zu betrachten, die vor dem Fenster vorbeifliegt, ringe ich mit mir, einfach selbst die Initiative zu ergreifen. Der Typ ist süß.
Es gefällt mir, wie er so tut, als würde er mich gar nicht beobachten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich seine Blicke nicht fehlinterpretiere. Was habe ich also zu verlieren?
Aber irgendwie gefällt mir der Gedanke, ihn einfach so anzusprechen, nicht. Es gibt auch nicht wirklich etwas, was ich sagen könnte, ohne dass es nach einer plumpen Anmache klingt. Und das würde alles ruinieren, das ganze subtile, aufregende Kribbeln dieser Situation.
Wieder dreht er kaum merklich den Kopf. Jetzt komm schon, trau dich – aber bitte ohne einen platten Spruch. Wobei er nicht wie jemand aussieht, der auswendig gelernte Flirtsprüche draufhat. Eher der Typ Dichter und Denker mit seinem langen Haar und den Klamotten, die ein bisschen an eine Internatsschuluniform erinnern. Nur dass er dafür zu alt ist. Und dass er die Krawatte so locker gebunden hat, dass sie definitiv ein Mode-statement und keine lästige Notwendigkeit ist.
Er sieht wieder weg und innerlich seufze ich. Wir sind mittlerweile fast allein in diesem Abteil. In Augsburg hat der ICE sich merklich geleert und jetzt sind wir nur noch eine Haltestelle von München entfernt, wo ich dank Verspätung keine zehn Minuten mehr habe, um in die S-Bahn nach Herrsching umzusteigen. Also jetzt oder nie.
Doch keiner macht den ersten Schritt.
Ich zögere das Aufstehen so lange hinaus wie möglich. Aber irgendwann habe ich keine andere Wahl mehr. Der Zug bremst bereits merklich ab und ich muss noch meinen gigantischen Koffer aus der Gepäckablage hieven. Oder den Typen fragen, ob er das für mich erledigt. Aber ich mag dieses Jungfer in Nöten-Klischee nicht. Entweder er bietet seine Hilfe von sich aus an oder ich werde das Ungetüm eben eigenhändig herunterwuchten. Was machbar sein sollte, jetzt, wo der Zug schon so langsam fährt. Allerdings habe ich die Rechnung ohne den Ruck gemacht, der beim Bremsen durch den Zug geht. Der Koffer rutscht schwungvoller als geplant von der Ablage, ich taumle rückwärts, kann mich gerade noch abfangen – und lasse mein tonnenschweres Gepäckstück geradewegs auf den Fuß des langhaarigen Typen knallen, der offenbar ebenfalls aufgestanden ist und mir möglicherweise gerade zur Hand gehen wollte. Ach du Schreck. Ich hätte ihn doch einfach fragen sollen, ob er mir hilft. Um ins Gespräch zu kommen, wäre diese Lösung um ein Vielfaches eleganter gewesen als das hier!
»Oh nein, das tut mir so leid!« In einer Art Panikreaktion – anders kann ich es mir selbst nicht erklären – greife ich nach seinem Arm. Dann fällt mir ein, dass ich vielleicht lieber meinen Koffer von seinem Fuß rücken sollte.
»Entschuldigung!« Hastig erlöse ich ihn und falle prompt beinahe rückwärts um, als der ICE sich noch einmal in Bewegung setzt, um die letzten Meter zum Bahnsteig zu rollen. Dieses Mal ist er es, der meinen Arm ergreift und mich nahezu filmreif auffängt. Allerdings wirklich nur nahezu, weil sein Gesicht immer noch schmerzverzerrt ist.
»Tut mir leid«, setze ich zum dritten Mal zu einer Entschuldigung an. »Der Koffer ist echt schwer. Ich wollte nicht –«
Seine Miene glättet sich. »Halb so wild«, versichert er. »Auch wenn ich es mir anders vorgestellt hatte, mit dir ins Gespräch zu kommen.«
Mein Herz macht einen winzigen Satz. Also habe ich es mir nicht eingebildet.
Er nickt in Richtung meines Koffers, an den ich mich klammere, damit er sich auf keinen Fall noch mal selbstständig machen kann. »Lange Reise?«
»Ja. Na ja, keine richtige Reise. Ein Ferienjob oder so ähnlich.« Ich zucke die Schultern. Es ist schwierig zu erklären. »Ich helfe meinem Bruder für vier Wochen in seinem Café aus. Es heißt Kaiserschmarrn.«
Die Brauen meines Gegenübers heben sich in einer Mischung aus Frage und Belustigung. »Kaiserschmarrn?«
»Ja, weil sein Nachname Kaiser ist. Also der meines Bruders. Und meiner.« Meine Güte, irgendwie wollen wir nicht so richtig in den Flow kommen. Dieses Gespräch verläuft weiterhin so wie der Aufhänger, den mein Gepäck dafür geboten hat: unberechenbar und irgendwie holprig.
Aber mein Gesprächspartner gibt noch nicht auf. Er lächelt mich an und greift beiläufig nach meinem Koffer, um ihn für mich zu den Türen zu schieben. »Kaiser also. Und sonst?«
Ich beeile mich, ihm nachzukommen, und vergesse dabei beinahe meinen Rucksack. »Enni«, bringe ich atemlos hervor.
»Hi Enni. Ich bin Jan.« Er parkt meinen Koffer vor den Schiebetüren. »Schade, dass wir so lange gewartet haben. Musst du in München umsteigen?«
»Ja, Richtung Herrsching.«
»Nicht meine Richtung«, meint Jan bedauernd. »Aber vielleicht hast du in den nächsten vier Wochen ja mal einen Tag frei und Lust, einen Ausflug nach München zu machen. Dann könnten wir uns treffen.«
Ich zwinge mich dazu, ein paar Sekunden zu zögern, ehe ich nicke. »Klar, das klingt toll.«
Der Zug kommt nun endgültig zum Stehen und ich weiß, dass ich mich beeilen muss – Jan dagegen wirkt recht entspannt.
»Cool«, sagt er. »Gibst du mir deine Nummer? Dann melde ich mich.« Er zückt bereits sein Handy, entsperrt das Display und wischt dann darüber. »Oh Mist«, meint er. »Ausgerechnet jetzt.« Er seufzt, wirft mir einen entschuldigenden Blick zu und hält sich das Handy ans Ohr. »Nur einen winzigen Moment«, murmelt er, während er mit konzentrierter Miene einer Nachricht auf seiner Mailbox zu lauschen scheint.
Ich stehe da und sehe ihm zu. Das Ganze dauert vielleicht zehn Sekunden, dann lässt er das Handy sinken – und der Knopf an der Tür leuchtet auf.
»Okay, jetzt«, wendet Jan sich wieder an mich und sieht mich erwartungsvoll an.
Aber ich greife an ihm vorbei, drücke den Türknopf und packe in derselben Bewegung meinen Koffer, den er losgelassen hat, um sein Handy herauszuholen. »Gute Fahrt dir noch«, wünsche ich, als ich schon halb an ihm vorbei bin.
»Hä? Ich dachte, du wolltest mir deine Nummer geben?«, protestiert Jan. Er folgt mir aus dem Zug hinaus. Da steht er auf dem Bahnsteig mit seinem langen Haar und der lässigen Krawatte und sieht wirklich gut aus, trotz seiner fassungslosen Miene.
»Dachte ich auch«, erwidere ich. »Aber du hast unser Meet Cute ruiniert. Romeo hätte ja wohl auch nicht mal eben seine Mailbox gecheckt, während Julia vor ihm an der Balkonbrüstung stand.«
»Romeo?«, echot Jan noch, aber ich setze mich und meinen kolossalen Koffer bereits in Bewegung. Ich muss eine S-Bahn erwischen. Und hier stehen zu bleiben, ändert auch nichts mehr daran, dass Jan unser filmreifes Kennenlernen in den Sand gesetzt hat. Mehr noch, als unser langes Zögern und die Kofferpanne es ohnehin schon getan haben.
Es ist nicht weit vom Bahnhof in Herrsching zum Apartmenthotel Lukas. Juna hat gesagt, ich werde es gar nicht übersehen können, wenn ich in Richtung See gehe, und sie behält recht: Nachdem ich die letzte Häuserreihe hinter mir gelassen habe, gibt es noch genau ein Gebäude zwischen mir und einem unverstellten Ausblick auf den Ammersee. Der weiße Komplex mit den kleinen Balkonen und der erstaunlich niedrigen Bauweise schmiegt sich vollkommen harmonisch an das Ufer und der Park voller kunstvoll geschnittener Buchsbäume geht nahtlos in den Strand über.
Ich umfasse den Teleskopgriff meines Koffers fester, während ich mich der Anlage nähere. Irgendwie habe ich mir ein Apartmenthotel anders vorgestellt. Wuchtig und funktional. Eher wie ein Studentenwohnheim. Hätte ich Juna öfter mal zugehört, wenn sie über die Hotels der Lichtenbergs erzählt hat, dann wäre ich vielleicht besser hierauf vorbereitet gewesen. An Gelegenheiten hätte es nicht gemangelt, denn Hotels sind eines der Lieblingsthemen meiner besten Freundin und WG-Mitbewohnerin. Seit zwei Semestern studiert sie jetzt schon BWL, während ich beim Lehramtsstudium geblieben bin, das wir gemeinsam begonnen haben. Und natürlich trägt ihr Freund Leo auch dazu bei, dass Hotels ein regelmäßiges Thema bei uns sind. Der kann mit Hotelbusiness zwar fast so wenig anfangen wie ich, aber als Sohn der Lichtenbergs ist er nun mal untrennbar mit dem Familienimperium verbunden.
Schon auf dem Weg zum Haupteingang passiere ich drei verschiedene Formen von Buchsbäumen – von Kugeln über Kegel bis hin zu schneckenartigen Spiralen – und zwischen zweien hindurch sehe ich einen kleinen Brunnen, der eher das Flair eines Residenzparks verströmt als den eines Apartmenthotels. Innerlich atme ich ein wenig auf. Das hier ist hübsch. Ich glaube, ich werde mich hier einigermaßen wohlfühlen. Zumal ich das Apartment mit Juna teilen werde – ein Stück Vertrautheit, fast als wären wir in unserer Studentenwohnung in Regensburg. Nur deshalb habe ich so spontan überhaupt noch eine Unterkunft in Herrsching bekommen. Juna macht ein Praktikum im Hotel ihres Schwiegervaters in spe und hat dort praktischerweise ein Doppelbett zur Verfügung.
Das Foyer ist weniger pompös als der Hotelpark – eher zeitlos und schlicht. Mit den großen Zimmerpflanzen in Betonkübeln, den langen grauen Sofas und der hohen Decke lädt es richtig zum Verweilen ein. Trotzdem gehe ich auf direktem Weg weiter ins Treppenhaus, wo die erste unschöne Überraschung auf mich wartet und mich prompt doch wieder an unser gutes, altes Wohnheim erinnert: Der Aufzug ist kaputt und es heißt Treppensteigen. Mit meinem Monstrum von einem Koffer. Großartig.
Stufe für Stufe mache ich mich an den Aufstieg. Natürlich liegt Junas Wohnung unter dem Dach. Aber immerhin hat das Apartmenthotel Lukas nur drei Stockwerke. Nach der ersten Treppe wünschte ich allerdings, es wäre im Bungalowstil erbaut worden. Dieser Koffer enthält zwar nur Kleidung für etwa zehn Tage – dann werde ich waschen müssen –, aber Bücher für die vollen vier Wochen. Und ein paar zusätzliche, falls Juna mit ihrem Praktikum noch beschäftigter ist als ich im Café und ich ungeahnt viel Zeit zum Lesen habe. Man kann ja nie wissen.
Auf halber Höhe zum zweiten Obergeschoss komme ich ins Straucheln und mache den Fehler, mich an meinem Koffer festzuhalten. Es stellt sich heraus, dass er trotz seines Gewichts nicht dafür geeignet ist, einen Sturz abzufangen. Im Gegensatz zu dem Typen, der wie aus dem Nichts vor mir auftaucht.
»Vorsicht!«, brülle ich noch – immerhin habe ich heute schon einmal jemandem mit diesem Koffer beinahe den Fuß zertrümmert. Aber schon spüre ich seinen Griff um meinen Arm und wie ich zu meiner Erleichterung mein Gleichgewicht wiederfinde. Vielleicht habe ich auch einfach ein klitzekleines bisschen hysterisch reagiert und war einem Sturz gar nicht so nahe. Nun stehe ich jedenfalls völlig sicher auf meiner Treppenstufe und der Fremde ziemlich dicht vor mir. Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen. Allerdings nur, weil er sich eine Treppenstufe über mir befindet. Wäre das nicht der Fall, wären wir vermutlich nahezu gleich groß.
Er lässt meinen Arm los, aber ich kann nicht aufhören, ihn anzustarren. Was an dem Lächeln liegen muss, das sich auf seinem eben noch erschrockenen Gesicht ausbreitet. »Da war ich ja zur rechten Zeit am rechten Ort«, meint er grinsend. Er hat tiefe Grübchen unter dem hellen Bartschatten auf seinen Wangen. Obwohl ich ihn kein bisschen kenne, sagen mir diese Grübchen, dass sein Lächeln ehrlich ist. Keine Höflichkeit und auch keine Masche, kein Lächeln, wie man es für ein Foto aufsetzt oder um jemanden zu begrüßen, sondern Belustigung über diese Situation hier.
»Ja, warst du«, bringe ich verspätet hervor. »Danke.«
»Kein Problem. Kann ich dir mit dem Ding da helfen? Es sieht lebensgefährlich aus.«
»Ist es«, erwidere ich. »Vorhin habe ich es schon jemandem auf den Fuß geworfen.«
»Autsch. Willst du mir ausreden, dir zu helfen? Vielleicht sollte ich mich besser in Sicherheit bringen.«
Ich schüttle den Kopf. »Ich wäre tatsächlich total froh über Hilfe. Der Aufzug ist kaputt und ich muss ganz nach oben. Apartment 323. Und der hier ist echt schwer. Bücher.«
Die Grübchen vertiefen sich und es kommen sternförmige Fältchen um seine grünen Augen hinzu. Er muss ein Mensch sein, der häufig lächelt. Andere Falten hat er nämlich definitiv nicht. Er könnte ungefähr in meinem Alter sein. Mitte zwanzig höchstens.
»Zu zweit bekommen wir das hin«, versichert er und greift bereits nach meinem Gepäck.
Wir reden nicht, während wir die verbleibenden eineinhalb Treppen erklimmen. Der Fremde schleppt meinen Koffer und ich trage nur meinen Rucksack, auch wenn ich immer wieder anbiete, ihn abzulösen oder ihm zumindest zur Hand zu gehen. Er lässt sich Zeit – keine Ahnung, ob aus Rücksicht auf mich oder wegen des schweren Gepäckstücks. Anmerken lässt er sich jedenfalls nichts, und nach seinen Oberarmen zu urteilen, macht er wahrscheinlich sowieso irgendeine Art von Krafttraining. Die Ärmel seines grauen Longsleeves spannen über seinen Muskeln, während er meinen Koffer bis in den dritten Stock wuchtet.
Am obersten Treppenabsatz stellt er ihn ab und bleibt vor der Zwischentür stehen, die laut Schild zu den Apartments 321 bis 324 führt. »Hinten rechts«, sagt er und greift nach der Tür, um sie mir aufzuhalten, damit ich mich mit meinem Gepäck hindurchschieben kann.
»Danke für deine Hilfe!«, rufe ich noch und wende mich halb zu ihm um, während ich mit dem Rücken die Tür abfange, die er losgelassen hat, um sich auf den Weg die Treppe hinab zu machen.
»Gerne«, erwidert er mit einem Blick über die Schulter – und dem Grübchenlächeln, auf das ein Teil von mir schon gehofft hat. »War mir ein Vergnügen, Enni.«
Er ist bereits im zweiten Stock angekommen, als mir klar wird, was mich an seinen Worten so irritiert, dass mein Herz seinen Rhythmus prompt verdoppelt hat. Ich habe ihm meinen Namen gar nicht genannt!
Völlig neben mir stehend, umfasse ich Koffer und Rucksack fester und wende mich dem Flur hinter der Schwingtür zu. Und komme mir augenblicklich ziemlich albern vor. Deshalb also. Keine übersinnlichen Fähigkeiten, kein Gedankenlesen, kein Schicksal.
An der Tür zu Apartment 323 hängt eine kunterbunte Wimpelkette aus Papier mit der fetten Aufschrift: Herzlich willkommen, Enni!
Melissa C. Feurer
Melissa C. Feurer hat nie aufgehört, Jugendbücher zu lieben, mittlerweile aber auch das erwachsenere Genre (Faithful) New Adult für sich entdeckt. Mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern lebt sie im fränkischen Seenland, und weil sie nicht besonders entscheidungsfreudig ist, hat sie kurzerhand gleich ihre beiden Traumjobs ergriffen: Lehrerin und Autorin.
Webseite www.melissa-c-feurer.de/
Instagram: melissa.c.hill.feurer
Facebook: Melissa C. Feurer
Foto: © Steven Feurer
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