Eckart zur Nieden ist sechs Jahre alt, als er mit seiner Familie vor dem Krieg flüchtet. Sein Vater ist gefallen, die Mutter hat mit den drei Kindern Berlin verlassen und bei ihren Eltern in Nordhessen Schutz gesucht. Aber weil die Bevölkerung mit dem Einmarsch der feindlichen Truppen rechnet, will die Familie sich in Sicherheit bringen und geht erneut auf die Flucht.
Diese Autobiografie basiert auf den Erinnerungen des Autors als Sechsjährigem, den Tagebuchaufzeichnungen der Mutter und den Berichten der heute 97-jährigen Tante. Sie ist ein berührendes Dokument, das zeigt, dass Gott selbst in den dunklen Zeiten seine Geschichte schreibt und schon früh im Leben von Eckart zur Nieden eine Spur des Glaubens gelegt hat. Im Rückblick erkennt der Autor: »Gott hat während unserer Flucht erste Strahlen seines Lichts in mein Leben fallen lassen.«
€ 5,00
Preise inkl. MwSt., keine Versandkosten innerhalb Deutschlands ab € 10,00.
€ 8,99 inkl. MwSt.
Zögernd und unsicher trete ich aus der Haustür auf den gepflasterten Hof. Das ist ungewöhnlich, denn sonst springe ich unbefangen und fröhlich zum Spielen aus dem Haus. Wir wohnen hier noch nicht lange, erst seit wir Berlin verlassen mussten. Wegen der Bomben. Jetzt leben wir bei den Großeltern in dem Haus, das zu dem Fabrikgelände gehört.
Großvater arbeitet hier als Prokurist. Zu dieser Zeit weiß ich natürlich nicht, was ein Prokurist ist.
Nichts ist wie immer in diesen Tagen. Über allen liegt eine Angst, die ich nicht verstehe. Und eine Angst, die sich von den Erwachsenen auf die Kinder überträgt und die man nicht versteht, ist schlimmer als eine, die man beschreiben kann.
Wie zum Beispiel der riesige Ofen. Ich schaue nach rechts. Dort steht das Haus, das ein einziger großer Ofen ist. Dort werden die Schmelztiegel gebrannt.
Diese grauen Tiegel werden in der großen Halle gemacht. Riesige, dickwandige Töpfe, wie übergroße Blumenvasen. Ich könnte mich hineinhocken und wäre von der Seite nicht zu sehen. Aber natürlich darf ich das nicht, schon gar nicht, wenn sie noch nicht hart gebrannt sind.
Alle paar Tage machen sie in dem Ofenhaus ein großes Feuer, um die Tiegel zu brennen und damit hart zu machen. Dann gibt es dort ein Angst einflößendes Feuer. Es ist so heiß und groß, dass oben aus dem Schornstein himmelhohe Flammen he- rausschlagen.
Ich stehe dann immer in respektvollem Abstand und schaue zu, mit einer Mischung aus Furcht und Bewunderung für die Männer, die sich so nah herantrauen an dieses Höllenfeuer. Ich ahne nicht, dass ich bald Dinge erleben werde, die noch mehr an die Hölle erinnern.
Heute ist der Brennofen nicht angeheizt. Auch sonst ist nichts los auf dem Fabrikhof. Vielleicht ist es noch zu früh.
Die Leere auf dem Fabrikhof verstärkt das Gefühl, dass etwas ganz anders ist als sonst.
Wie soll auch ein noch nicht Sechsjähriger verstehen, warum wir heute fliehen! Und wovor? Und wohin?
Sie haben versucht, es mir zu erklären. Die Feinde kommen. Die einen von da drüben, wo der Hirschberg ist, aus dem sie den Ton für die Tiegel ausgraben, und der Pfaffenberg, wo die Hauptstraße herunterkommt. Das sind die Amerikaner. Und die anderen Feinde kommen von der anderen Seite, über den Schwarzenberg. Die heißen Russen.
Aber ich verstehe nicht, warum die kommen und was die hier wollen. Ich verstehe auch nicht, warum den Erwachsenen die einen Feinde – die vom Pfaffenberg – lieber sind als die anderen. Warum? Wenn sie doch beides Feinde sind.
Ich kann auch nicht verstehen, warum wir fliehen sollen. Wenn die Feinde von beiden Seiten kommen, erwischen sie uns doch auf jeden Fall. Wie beim Kriegen spielen. Da werde ich abgeschlagen, wenn die anderen von zwei Seiten kommen.
Erst recht kann ich nicht verstehen, warum wir in Richtung Schwarzenberg fliehen wollen. Wenn doch von da die schlimmeren Feinde kommen! Wenn wir schon weglaufen, sollten wir dann nicht die Straße zum Pfaffenberg hinauffliehen, wo der Feind kommt, der uns lieber ist?
Ich habe Mutti danach gefragt. Wir fliehen ja nicht zu dem Feind, hat sie gesagt, sondern in die Festung Harz.
Das ist ein komisches Wort, „Festung Harz“. Das haben sie aus dem Radio. Der Führer hat es gesagt, oder der andere, einer von denen, die immer so wütend sind, wenn sie im Radio reden.
Großmutter hat das seitdem dauernd gesagt: Festung Harz. Da will sie hin. Mit uns. Und wenn Großmutter etwas will, dann kommt es meistens auch so.
Ich weiß nicht, was das ist, die Festung Harz. Ich stelle mir so eine Art Ritterburg vor, mit dicken Mauern und hohen Türmen.
Mutti kommt jetzt auch runter auf den Hof, mit meinen zwei Brüdern. Heinz Richard ist vier, Volker siebeneinhalb. Beide haben wie ich einen Rucksack auf. Mutti hat extra aus alten Decken drei Rucksäcke für uns genäht. Wir sollen mithelfen zu tragen, was wir für unsere Flucht brauchen. Ich weiß gar nicht so genau, was drin ist in dem Beutel auf meinem Rücken.
Anfangs war ich ein bisschen stolz, dass ich mithelfen durfte. Aber inzwischen hat diese merkwürdige Beklemmung mich so ausgefüllt, dass da für Stolz kein Platz mehr ist.
Großmutter kommt jetzt auch. Sie streicht Heinz Richard, dem Kleinsten, kurz über den Kopf und geht dann unruhig auf und ab.
Ich finde es nicht gut, dass sie unruhig ist. Das beunruhigt mich nämlich auch. Sie ist ja die wichtigste Person. Denn sie sagt immer, was gemacht werden soll. Sie sollte ruhig sein. Wenn sie nervös ist, werden wir andern es auch.
Großmutter ruft in den Hausflur: „Sophie! Wo bleibst du denn?“
Von oben kommt eine Antwort, die ich nicht verstehe.
Mutti nimmt Heinz Richard an die Hand und sagt: „Kommt, Kinder, wir gehen schon mal. Die andern kommen nach.“
Also gehen wir los – zur Festung Harz.
* * *
Tante Trude, die Schwägerin unserer Mutter, war beim BDM. Da hatte sie gehört, dass ein Trupp von Hitlerjungen in drei Tagen vom Marktplatz aus losmarschieren soll, unter Führung eines verantwortlichen Mannes. Sie sollten wohl irgendwo für den letzten Kampf geschult werden. Man hatte einen Pferdewagen besorgt, auf dem das Gepäck der Jungen transportiert werden sollte. Es hieß, wenn Verwandte mitkommen wollten, sei das möglich.
Nun waren wir zwar keine Verwandten von einem der Hitlerjungen, aber das machte nichts. Großmutter war begeistert von der Idee, auf diese Weise ein Stück weit in sicherem Geleit zu wandern, um dann allein weiterzuziehen, zum Harz.
Es zeigte sich, dass wir die einzigen Privatpersonen waren, die den Trupp der Jungen begleiten wollten.
Wir – das waren zwei alte Frauen: Großmutter und Tante Sophie, ihre Schwägerin, die in Kassel ausgebombt war. Dann zwei junge Frauen: Mutti und Tante Trude, ihre Schwägerin. Und schließlich vier Kinder: Wir drei Brüder und unsere Cousine Monika, die Tochter von Tante Trude, im gleichen Alter wie Heinz Richard.
Männer waren nicht dabei. Unser Vater war in Russland gefallen. Onkel Richard, Muttis Bruder, war noch bei der Armee. Und Großvater konnte nicht mitkommen, weil er zum Volkssturm eingezogen werden sollte.
Was ich hier erzählen will, speist sich aus vier Informationsquellen.
Erstens sind da die eigenen Erinnerungen. Sie sind allerdings spärlich. Vor allem sind sie zusammenhanglos. Einige Bilder stehen mir immer noch sehr klar und deutlich vor Augen. Aber ohne Hilfe wüsste ich sie nicht richtig einzuordnen. Sie sind wie Bergspitzen, die aus einem Nebelmeer herausragen, in dem man die Täler nicht sehen kann. Zu diesen Erinnerungen gehören auch Gefühle, die so stark waren, dass ich sie nicht vergessen habe, von denen ich aber nicht immer weiß, was sie in welcher Situation ausgelöst hat.
Zweitens ist da das Tagebuch, das meine Mutter während dieses Abenteuers geschrieben hat. Es ist nicht sehr detailreich, aber es enthält neben den wichtigsten Ereignissen Orte und Daten, es hilft mir, alles in eine ordentliche Chronik zu bringen
Drittens haben mir meine Brüder geholfen, die zum Teil andere Erlebnisse in Erinnerung haben als ich. Und vor allem Tante Trude, heute siebenundneunzig Jahre alt, weiß noch viel.
Viertens habe ich aber auch – ich gestehe es – meine Fantasie spielen lassen. Freilich nicht bei wichtigen Ereignissen. Aber ich hielt es für richtig, die holzschnittartigen Notizen in Muttis Tagebuch detailreicher und farbiger zu machen. Falsch wird die Geschichte dadurch nicht.
* * *
Wir stehen am Ufer der Werra. Drüben können wir die Burg Hanstein sehen und auf dieser Seite die Burg Ludwigstein. So erklärt es uns Mutti. Sie war in ihrer Jugend als Mitglied in der Wandervogelbewegung schon hier.
Der Trupp der Hitlerjungen samt dem Pferdewagen ist irgendwo abgebogen. Wir acht sind nun mit unserem Gepäck auf uns selbst gestellt.
„Die Burg Ludwigstein“, erklärt uns Mutti, „ist gebaut worden als Gegenstück zur Burg Hanstein auf der anderen Seite der Werra. Ich kenne den Ludwigstein, weil da ein Zentrum der Jugendbewegung war. Ich war ja in meiner Jugend bei den Wandervögeln.“
„Wie denn – was denn für Vögel?“
„So hat sich die Bewegung genannt“, erklärt sie uns. „Wandervögel. Die jungen Leute sind viel gewandert, haben dabei Lieder zur Laute gesungen und ihre Heimat kennengelernt.“ Von „Adlern und Falken“ spricht sie.
Ich nehme an, die haben sich da so genannt, wie wir uns beim Spielen Apachen und Komanchen nennen.
Und dann fängt sie an zu singen, Volks- und Wanderlieder, die ich nicht kenne. Es klingt, finde ich, etwas künstlich begeistert. So als wollte sie mit ihrem Singen unsere Wanderung zu einem fröhlichen Landausflug machen, um zu vergessen, dass wir eigentlich auf der Flucht sind.
„… und wer die blaue Blume finden will, der muss
ein Wandervogel sa-hein,
ein Wandervogel sein.“
„Was denn für eine blaue Blume?“, frage ich.
„Das war so eine … eine Vorstellung. Wer wandert, sucht in der Ferne eine blaue Blume.“
„Aber wieso denn suchen? Blaue Blumen gibt’s doch überall. Zum Beispiel die Kornblumen, die wachsen im Sommer neben jedem Acker.“
Volker ergänzt: „Oder Veilchen.“
Und Monika: „Oder die ganz kleinen, blauen. Ich weiß, wie die heißen: Männertreu.“
Mutti schmunzelt. „Die sind alle nicht gemeint. Das ist eine mythologische Vorstellung.“
Tante Sophie mischt sich ein: „Was im Mittelalter die Suche nach dem heiligen Gral war, das war in der Romantik die blaue Blume.“
Diese Erklärung hilft mir aber nicht weiter, da ich noch nie von einem heiligen Gral gehört habe.
„Eine müto… was?“, will ich wissen.
„Mythologisch. Das heißt, die besondere blaue Blume gibt es nicht wirklich. Man stellt sich nur so vor, man wäre auf der Suche danach, wenn man in die unbekannte Ferne wandert.“
„Aber das ist doch blöd! Man kann doch nicht nach etwas suchen, wenn man genau weiß, dass es das gar nicht gibt!“
Mutti kommt um eine Antwort herum, denn jetzt halten wir an. Wir stehen vor einer Brücke.
Davor halten zwei Soldaten Wache. „Wo wollen Sie hin?“, spricht einer uns an.
„Heil Hitler!“, grüßt Großmutter. „Wir wollen rüber, nach Werleshausen. Geht das etwa nicht?“
„Das geht schon“, antwortet der Mann. „Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, dass die Brücke zur Sprengung vorbereitet ist. Alles soll bereit sein, wenn die Amis kommen. Aber noch können Sie rüber.“
„Wie denn?“, ruft Tante Sophie entsetzt. „Da ist Sprengstoff unter der Brücke? Da gehe ich nicht rüber!“
Der Soldat beruhigt sie. „Na, nun machen Sie sich mal nicht ins Hemd, gnädige Frau! Noch explodiert da nichts. Erst wenn ich es zünde. Es müssen noch viele Leute hinüber und herüber. Die Amis sind ja noch ein Stück weg. Vielleicht kommen sie ja gar nicht bis hier.“
Tante Sophie schüttelt den Kopf und wendet sich um, als wollte sie zurück.
Ich denke für einen Moment, sie sei besonders verärgert, weil der Soldat sagte, sie solle sich nicht ins Hemd machen. Selbst ich als Kind empfinde, dass dieser Ausdruck nicht zu Tante Sophie passt, die ziemlich „etepetete“ ist. Aber dann merke ich: Ihre Angst vor Dynamit unter ihren Füßen ist so groß, dass dieser Ausdruck ihr völlig egal ist.
„Wo willst du denn hin, Sophie?“, hält Großmutter sie zurück. „Es gibt keine andere Brücke! Wir müssen hier rüber!“
Und Mutti ergänzt: „Du hörst doch: Es ist völlig ungefährlich! Traust du unseren tüchtigen Soldaten denn nicht zu, dass sie den Umgang mit Sprengstoff beherrschen?“
„Nein! Niemals!“, ruft die alte Tante hysterisch. „Wenn ihr gehen wollt, kann ich euch nicht zurückhalten. Aber ich betrete die Brücke nicht! Niemals!“
Die drei anderen Frauen stehen um Tante Sophie herum und reden minutenlang auf sie ein. Wir vier Kinder stehen daneben und schauen und hören betreten zu, wie die Erwachsenen sich uneinig sind, was sonst selten vorkommt. Jedenfalls wissen wir davon nichts.
Schließlich nimmt Tante Trude Monika an der Hand und sagt: „Guck, ich gehe mit ihr voraus. Da wirst du doch nicht ängstlicher sein als das Kind!“ Und sie schreitet mutig los. Mutti und wir drei folgen. Wir sind noch nicht ganz am anderen Ufer, da kommen die beiden alten Frauen nach. Vielleicht hat Tante Sophie sich ausgemalt, was sie allein machen sollte, wenn wir sie zurücklassen. Vielleicht hat sie aber auch gedacht: Wenn die alle in die Luft fliegen, was soll ich dann noch? Da ist es besser, ich komme mit um.
Aber sie kommt nicht um. Wir kommen unbeschadet drüben an.
Ich frage Mutti: „Warum macht Tante Sophie denn so ein Theater?“
„Halt den Mund!“, sagt sie streng, weil sie fürchtet, die Tante könnte es hören. Aber das glaube ich nicht, denn sie hört nicht gut.
Nachdem wir etwas weitergegangen sind, findet Mutti wohl, sie müsste mir das näher erklären. Leise sagt sie: „So soll ein Kind nicht über einen Erwachsenen sprechen! Wer weiß, wie du dich verhalten würdest, wenn du in ihrem Alter wärst!“
Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass ich mal so werde wie Tante Sophie, aber ich sage nichts. Ich habe gelernt: Wenn man etwas Gutes über andere denkt, kann man das ruhig sagen. Etwas Schlechtes sollte man besser für sich behalten.
Ich mag Tante Sophie nicht besonders. Sie gehört eigentlich nicht richtig zu uns und ist auch erst vor Kurzem dazugekommen. Außerdem ist sie so anders – sie redet oft so merkwürdig und hält sich meistens von uns Kindern fern.
Wir wandern weiter, inzwischen schon ziemlich erschöpft.
Eckart zur Nieden
Eckart zur Nieden arbeitete nach seiner theologischen Ausbildung in einem Missionswerk und dann 35 Jahre beim Evangeliums-Rundfunk (ERF) in Wetzlar. Er schrieb viele Bücher für Kinder und Erwachsene.