ch kam wieder einmal viel zu spät zur Aula der Universität. Es war meine Form eines leisen Protests - am liebsten wäre ich gar nicht erst hingegangen. Ich gab es nicht gerne zu, aber auch mit dreißig fand ich es unglaublich schwierig, mich meiner Mutter gegenüber durchzusetzen. Andererseits stand ich damit nicht allein da - von Frau Dr. Liz McGavock, der bedeutenden Hämatologin und begnadeten Verwaltungschefin, ließen sich noch ganz andere Leute einschüchtern.
Diese Beschreibung meiner Mutter ist übrigens keine Übertreibung. Schade eigentlich.
Als ich an diesem Oktoberabend über den Campus hetzte, dessen altehrwürdige Gebäude förmlich Wissenschaft zu atmen schienen, lag eine feuchte Kühle in der Luft. Ich konzentrierte mich auf mein altes Mantra: Lass dich von ihr bloß nicht fertig machen, Jill. Schließlich ist sie schon fünfundfünfzig – und du erst dreißig. Du hast ja überhaupt noch keine Zeit gehabt, es so weit zu bringen wie sie. Das kann sie dir schließlich nicht zum Vorwurf machen. Sie kann dir überhaupt gar nichts zum Vorwurf machen.
Einige Gabeln klapperten schon, als ich den Raum betrat. Max, der gute alte Teddybär, stand an einem Tisch ganz vorne und winkte mir in seiner gewohnt überschäumenden Lebhaftigkeit zu. »Kennst du eigentlich die anderen hier? Ach du liebe Zeit, ich bin ja wirklich als Gastgeber zu nichts zu gebrauchen ... Das hier ist Jill McGavock, die Tochter von Liz.«
Freundliches Murmeln, höfliches Kopfnicken.
»Jill, das hier ist Ellen Van Dyke«, stellte Max vor. »Ist gerade in der Krankenhausverwaltung eingestiegen. Faszinierend, sag ich dir. Und das ist ... meine Güte, bin ich schon so alt? Wie war Ihr Name noch mal? Du liebe Zeit, Sie müssen das wirklich entschuldigen!«
Der Mann, dessen Arm Max inzwischen wrang wie einen Putzlappen, grinste fröhlich. »Ich bin Sam Bakalis«, stellte er sich vor. »Ich hab mich einfach an Ellen drangehängt. Wegen des kostenlosen Essens und so.«
»Arbeiten Sie auch in der Uniklinik?«, wollte Max wissen.
»Ach wo, ich bin an der philosophischen Fakultät«, erklärte Sam.
Ach, und was machst du da?, fragte ich mich. Akten sortieren?
»Max sagt, Sie schreiben gerade an Ihrer Doktorarbeit«, sprach er mich an. »Mathe, nicht wahr?«
»Stimmt«, bestätigte ich. »Bin jetzt im fünften Jahr.«
»Mathe - da haben Sie sich ja ganz schön was aufgehalst«, sagte Ellen mitleidig. »Ihre Mutter muss unglaublich stolz auf Sie sein!«
»Stolz ist gar kein Ausdruck«, meldete sich Max zu Wort. »Sie plustert sich auf wie ein Pfau, wenn die Rede auf Jill kommt.«
Das stimmte nun wirklich nicht. Aber Max hatte es noch nie geschafft, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Was meine Mutter betraf hatte er längst jede Objektivität verloren. Schon vor Jahren war mir aufgefallen, dass die Liz McGavock, für die er sich begeisterte, eine völlig andere Person war als die Liz McGavock, mit der wir anderen alle leben mussten.
»Aha, im fünften Jahr«, nahm Sam den Faden wieder auf. »Dann müssten Sie ja schon ziemlich weit sein.«
»Bin ich auch«, bestätigte ich. »Ich kann meine Hypothese schon fast beweisen.«
»Und Ihre Hypothese ist was genau?«
»Wollen Sie wirklich wissen, worum es in meiner Doktorarbeit geht«, fragte ich, »oder versuchen Sie nur, höflich zu sein?«
»Na gut, eigentlich will ich ja etwas ganz anderes wissen«, sagte Sam. »Warum das Ganze? Warum geben Sie sich damit ab?«
»Weil ich es kann«, sagte ich. »Das, woran ich arbeite, wird helfen, Mathematik insgesamt besser zu verstehen.«
»Also versuchen Sie die Mathematik zu verstehen, damit Sie ... die Mathematik besser verstehen.«
»Das ist jetzt auch wieder stark vereinfacht. Aber wenn Sie auf einen Praxisbezug so versessen sind ... die K-Theorie lässt sich auch in der Quantenphysik verwenden.« Ich zuckte mit den Achseln. »Aber besonders viel angewandte Mathematik werden Sie hier in Stanford sowieso nicht finden.«
»Ah, hier kommt ein neuer Gesprächsstoff«, bemerkte Max in diesem Moment erleichtert. So viel Begeisterung hatte die Schwarzwälder Kirschtorte, die gerade an unseren Tisch gebracht wurde, eigentlich gar nicht verdient.
Als er mir meinen Teller reichte, bettelten seine warmen braunen Augen mich geradezu an, meiner Mutter diesen besonderen Abend nicht zu verderben. Ich ließ mich bitten und begann, nach besagter Mutter Ausschau zu halten.
Als ich sie entdeckt hatte und meine Mutter den Kopf drehte, um den Mann im Smoking anzusprechen, der neben ihr saß, blieb mir das Stück Torte im Mund stecken.
Hab ich den Wirbelsturm verpasst, in den sie auf dem Weg hierher geraten ist?, fragte ich mich verwirrt.
Wenn man bedachte, wie meine Mutter sich normalerweise - immer, um genau zu sein – ausstaffierte, war ein Wirbelsturm eigentlich nicht einmal eine ausreichende Begründung für ihr Aussehen an diesem Tag. Ich hatte erwartet, dass ihre schwere dunkle, von einigen grauen Strähnen durchzogene Mähne wie üblich in einer makellosen Kurzhaarfrisur zur Ruhe gekommen war, in der jedes Haar genau da lag, wo sie es haben wollte. Dass ihr attraktives, eckiges Gesicht perfekt geschminkt war und dass eine geschmackvoll unauffällige Goldkette auf irgendeiner Bluse aus reiner Seide auflag.
Was ich dagegen sah, war eine Frau, die so aussah, als hätte sie sich gerade im Vorbeigehen hastig irgendetwas ins Gesicht geschmiert und ein paar Klamotten übergeworfen, ohne überhaupt noch einmal in den Spiegel zu schauen.
Ich schüttelte den Kopf und zwang mich, meine Aufmerksamkeit wieder meinen Tischgenossen zuzuwenden, die sich mittlerweile in einer hitzigen Diskussion über religiöse und medizin-ethische Fragen befanden.
Als Sam meinen fragenden Blick bemerkte, versuchte er, mich in das Gespräch hineinzuziehen.
»Wird das jetzt hier religiös?«, warf ich ein. »Ich frag nur lieber gleich, denn wenn das hier auf einen religiösen Überfall hinausläuft, such ich mir besser einen anderen Tisch. Ich fürchte, an diesem Tisch wird es keine Vermischung von Wissenschaft und Religion geben.«
»Sie gehen also davon aus, dass sich Wissenschaft und Religion gegenseitig ausschließen?«
»Genau, wenn man alles konsequent zu Ende denkt.«
»Sie sind schließlich Mathematikerin.«
»Und eine unglaublich begabte!«, warf Max an dieser Stelle ein.
»Dann ist Ihnen Pascal sicher ein Begriff. Blaise Pascal, der Vater der Geometrie?«
»Ich bin mit ihm nicht gerade verwandt, aber ja, natürlich ist mir Pascal ein Begriff.«
»Mein Gedächtnis ist ein bisschen eingerostet«, warf Ellen ein. »Kann mir mal jemand auf die Sprünge helfen?«
»Mathematiker aus dem siebzehnten Jahrhundert«, erklärte ich knapp. »Er hat sich mit dem Vakuum beschäftigt. Und er soll die erste Rechenmaschine erfunden haben.«
»Genau«, bestätigte Sam. Er schien gerade erst richtig in Fahrt zu kommen. »Physik, Mathe - er war ein Wissenschaftler, wie er im Buche steht. Stand total auf Rationalität. Für ihn gab’s nichts anderes. Aber nach seiner Hinwendung zum Christentum ...«
»Von was hat er sich abgewandt?«, hakte ich nach.
»Von etwas, das man wahrscheinlich als oberflächliche Frömmigkeit bezeichnen würde«, erläuterte Sam. »Er machte einfach immer mit, was religiös so anstand, aber er hatte sich nichts davon wirklich zu Eigen gemacht. Naja, jedenfalls ging er danach erst recht dazu über, seine gesamte Energie in die Wissenschaft zu stecken. Die bedeutendsten Ergebnisse seiner Forschung lagen zu diesem Zeitpunkt übrigens noch vor ihm. Aber was ich sagen wollte, ist eigentlich Folgendes: Er wollte seine Kenntnis der menschlichen Natur erweitern - und dafür ist er im Endeffekt dann bekannt geworden. Er hat sich mit dem Glauben beschäftigt.«
»Dem Glauben an was?«
»An Gott.«
Ich wandte meinen Blick gerade lang genug von seinen Augen ab, um meine eigenen entnervt rollen zu lassen. Seine Augenbrauen schossen in die Höhe.
»Sie glauben offensichtlich nicht an Gott«, stellte er fest.
»Hmm, wenn ich mir’s genau überlege – nein, eigentlich nicht. Sie werden mich nie überzeugen können, dass es irgendwo eine geistliche Macht gibt, die über allem steht.«
»Und warum nicht?«
»Weil es sich nicht beweisen lässt.«
»Sie glauben also nur Dinge, für die sich handfeste Beweise finden lassen?«
»Genau.« Ich zuckte mit den Achseln. »Ich bin schließlich Mathematikerin.«
»Haben Sie in Ihrem Forschungsbereich nicht mit der Unendlichkeit zu tun?«
»Stimmt«, gab ich zu.
»Unendlichkeit«, bemerkte Sam, »klingt mir irgendwie verdächtig nach Gott.«
»Ihnen vielleicht. Mir klingt das nur nach einem Konzept.«
»Das Sie nie beweisen können, es sei denn, Sie finden eines Tages ein Ende ... Dass Sie keine endgültigen Aussagen machen können, heißt ja nicht, dass es sie nicht gäbe - es heißt nur, dass Sie sie noch nicht gefunden haben.«
»Und worauf genau wollen Sie damit hinaus?«
»Dass die Tatsache, dass Sie Gott noch nicht gefunden haben, nicht bedeuten muss, dass es ihn nicht gibt.«
»Was macht es praktisch schon für einen Unterschied, ob man an einen Gott glaubt oder nicht? Ich glaube nicht an ihn, Sie glauben an ihn, aber am Ende müssen wir doch beide sterben. Also was soll das Ganze?«
»Das berührt dann schon die Frage nach dem Wesen Gottes. Wenn Sie natürlich nach einem Gott suchen, der Sie ewig auf der Erde leben lässt, finden Sie diesen Gott nicht, weil es ihn schlicht nicht gibt.«
Sam lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
»Es gibt da diese Wette … die Wette des Blaise Pascal«, begann er. »Am äußersten Ende dessen, was wir Unendlichkeit nennen, wird eine Münze geworfen. Sie kommt auf Kopf oder Zahl zum Liegen. Wie sie landet, zeigt Ihnen, ob es Gott gibt - Kopf – oder ob es ihn nicht gibt - Zahl. Sie müssen auf eines von beiden setzen. Wir alle müssen das. Wir müssen uns entscheiden, auf was wir setzen.«
»Ich habe meine Entscheidung schon getroffen«, sagte ich leichthin.
»Aufgrund von was denn?«
»Aufgrund meiner Vernunft.«
Sam wühlte in seiner Hosentasche herum und beförderte eine Zehn-Cent-Münze hervor, die er auf seinem Daumennagel balancierte. »Kann Ihre Vernunft mir sagen, wie die Münze aufkommen wird, wenn ich sie jetzt in die Luft werfe?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Und genauso kann unsere Vernunft über diese metaphorische Münze keine Aussage machen. Die Vernunft kann weder das eine noch das andere beweisen. Die Wette geht also so: Wenn Sie darauf setzen, dass es Gott gibt, und Ihr Leben so leben, als gäbe es ihn, verlieren Sie überhaupt nichts, wenn die Münze doch die Zahl zeigt. Und wenn sie Kopf zeigt und es Gott wirklich gibt, haben Sie alles gewonnen.«