Die geheimnisvolle Frau war wieder da.
Zach Garrett goss dampfende Milch auf den Espresso und zeichnete mit dem Schaum sein typisches Spiralmuster, während er gleichzeitig die Kundin im Auge behielt, die mit einem tropfenden Regenschirm neben der Tür der Perfekten Bohne stehen blieb.
Wie schon bei ihrem ersten Besuch vor zwei Tagen schien die Frau mit sich zu ringen, ob sie bleiben oder das Café fluchtartig verlassen sollte.
Während Zach die Espressomaschine abwischte, musterte er sie unauffällig. Sie war Anfang bis Mitte dreißig, soweit er es beurteilen konnte, obwohl die überdimensionale dunkle Sonnenbrille den größten Teil ihres Gesichts verbarg. Ein sonderbares Accessoire angesichts der für diese Jahreszeit ungewöhnlich heftigen Regenfälle, die seit drei Tagen über Hope Harbor niedergingen.
Er reichte dem wartenden Kunden den Cappuccino und drehte sich zu seiner Barista um, die montags, mittwochs und freitags in der Perfekten Bohne aushalf. »Bren, du hast die Dame doch am Montag bedient, oder?« Er deutete mit dem Kopf zu der schlanken Frau mit dem dunklen, schulterlangen Haar, die immer noch bei der Tür stand.
Bren warf einen kurzen Blick auf sie, während sie die nächste Portion Arabica-Bohnen mahlte, die Zach von einer Fair-Trade-Rösterei in Portland bezog. »Ja.«
»Erinnerst du dich, was sie bestellt hat?«
»Einen kleinen fettarmen Vanilla-Latte.«
»Hat sie dir ihren Namen genannt?«
»Nein.
Ich habe danach gefragt, aber sie sagte, sie würde an der Theke auf ihren Kaffee warten.«
Mit anderen Worten: Die Frau wollte anonym bleiben.
Ebenfalls sonderbar.
Es war zwar möglich, dass sie zu den vielen Touristen gehörte, die ihr malerisches Städtchen in den Sommermonaten für einige Tage besuchten, aber sein Bauchgefühl sagte Zach etwas anderes.
Da ihm seine Menschenkenntnis in seinem früheren Job gute Dienste geleistet hatte, bestand kein Grund, seinem Gefühl jetzt nicht zu vertrauen.
Wer war sie also? Und was machte sie in Hope Harbor?
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
»Ich übernehme sie.«
»Gerne. Ich habe sowieso schon wieder andere Kunden.« Bren deutete mit dem Kopf auf das Paar, das auf seinen gemahlenen Kaffee wartete.
Zach setzte sein freundlichstes Lächeln auf und schlenderte zum Ende der Theke. »Lassen Sie mich raten: ein kleiner fettarmer Vanilla-Latte?«
Die Frau zuckte zusammen, wich einen Schritt zurück und warf einen schnellen, nervösen Blick durch das Café, als lote sie mögliche Gefahren aus.
Die Tür ging erneut auf. Charley Lopez trat ein. Über seine typische Baseballkappe hatte er die Kapuze eines triefenden Regenmantels gezogen.
»Entschuldigung.« Mit einem freundlichen Lächeln tippte er an das Schild seiner Kappe und schob die Kapuze so weit zurück, dass sein grauer Pferdeschwanz sichtbar wurde. Er nickte der Frau zu. »Ich wollte Sie nicht anrempeln.«
»Kein Problem.« Sie trat zur Seite, um noch mehr Abstand zwischen sich und Charley zu bringen. Sein interessierter Blick schien sie nervös zu machen.
»Sind Sie gerade gekommen oder wollten Sie gehen?« Charley hielt die halb geöffnete Tür fest.
»Die Dame ist gerade gekommen«, antwortete Zach an ihrer Stelle. »Ich wette, dass sie Lust auf einen fettarmen Vanilla-Latte hat.«
»Eine ausgezeichnete Wahl.« Charley schloss die Tür.
»Bren macht deinen Kaffee, sobald sie mit ihren Gästen fertig ist, Charley.« Zach ließ die Fremde nicht aus den Augen.
»Keine Eile. Ich bezweifle, dass bei diesem launischen Wetter ein großer Andrang bei meinem Tacostand herrschen wird.«
»Jeder Tag ist ein perfekter Tag für einen Fischtaco von Charley.«
»Diesen Spruch könnte ich als Werbeslogan übernehmen.«
»Als ob du Werbung bräuchtest! Die langen Schlangen vor deinem Tacostand sind ein deutlicher Beweis, dass dir die Mundpropaganda gute Geschäfte beschert.«
»Da könntest du recht haben«, sagte Charley lächelnd. Seine nächste Bemerkung richtete er an die unbekannte Frau. »Ich hoffe, Sie besuchen mich auch bald. Meinen Tacostand finden Sie im Hafen. Er steht gleich neben dem Pavillon.«
»Vielleicht komme ich demnächst vorbei.«
»Das würde mich freuen. Die erste Portion für alle, die neu in die Stadt gezogen sind, geht aufs Haus.« Charley nickte ihr freundlich zu und wandte sich an Bren, um seine Bestellung aufzugeben.
Zach blickte ihn stirnrunzelnd an. Jeder in der Stadt wusste von Charleys Begrüßungsgeschenk für neu zugezogene Bewohner. Aber diese Frau war nicht nach Hope Harbor gezogen.
Oder doch?
Was wusste Charley, das er nicht wusste?
Die unbekannte Frau umklammerte ihren Schirm fester und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Zach musste schnell reagieren, bevor sie das Café ohne ihr Getränk verließ. Über die gute Seele der Stadt konnte er sich später Gedanken machen. Im Moment wollte er versuchen, selbst einige Informationen zu bekommen.
Es sei denn, die scheue Frau flüchtete, bevor er die Gelegenheit dazu bekam.
Zach setzte erneut ein freundliches Lächeln auf. »Meine Barista hat mir verraten, dass Sie bei Ihrem letzten Besuch einen kleinen fettarmen Vanilla-Latte bestellt haben. Aber ich mache Ihnen auch gerne etwas anderes.«
Zögernd blickte sie sich noch einmal im Raum um, dann steckte sie ihren Schirm in den Schirmständer neben der Tür. »Nein. Das Gleiche wie neulich ist gut. Zum Mitnehmen bitte.«
Erste Hürde geschafft.
»Verraten Sie mir Ihren Namen für die Bestellung?« Er nahm einen Becher und einen Stift.
Schweigen.
Er blickte sie fragend an.
Sie zog einen Fünf-Dollar-Schein aus der Tasche und legte ihn auf die Theke. »Passt so. Und mein Name ist Kat. Mit K.« Sie wandte sich ab.
Zweite Hürde geschafft.
»Alles klar.« Zach notierte den Namen. »Der Kaffee ist in zwei Minuten fertig.«
Sie nickte und setzte sich an einen leeren Tisch in der hintersten Ecke des Cafés. So weit weg, dass er sich nicht mit ihr unterhalten konnte.
Schade.
An der dritten Hürde gescheitert.
Er würde nichts über diese geheimnisvolle Frau in Erfahrung bringen.
Aber welche Rolle spielte das schon? Nur weil er anfing, sich nach weiblicher Gesellschaft zu sehnen, bedeutete das nicht, dass er sich gleich bei der ersten alleinstehenden, attraktiven Frau, die sein Café betrat, Hoffnungen machen sollte.
Ja, ja, er hatte registriert, dass kein Ring an ihrem Finger steckte.
Zach mischte den Espresso und Vanillesirup zusammen, hielt die Dampfdüse unter die Milch, bis die Flüssigkeit schäumte, und tauchte sie dann tiefer ein, um eine Wirbelbewegung zu erzeugen.
Das war ein Fehler. Ein schwerer Fehler.
Während sich die Selbstvorwürfe in ihrem Kopf ständig wiederholten, nippte Katherine Parker an ihrem köstlichen Kaffee und beobachtete durch die Windschutzscheibe ihres Mietwagens die Boote im Hafen, obwohl der Regen, der auf die Scheibe prasselte, ihren Blick trübte.
Die Wassertropfen sahen aus wie Tränen.
Wie passend.
Mit zugeschnürter Kehle stellte sie den Kaffeebecher in die Halterung, ballte die Fäuste auf ihrem Schoß und bemühte sich, die Tränen zurückzudrängen, die sich Bahn brechen wollten.
Sie hätte sich weiterhin in ihrem Ferienhaus über der Brombeer-Bucht verschanzen sollen. Dort war sie am sichersten, wie ihr heutiger Ausflug in die Stadt bestätigt hatte.
Aber die gemütliche, tröstliche Atmosphäre bei ihrem ersten Besuch im Café war zu verlockend gewesen. Wie hätte sie der Versuchung widerstehen sollen, diese Atmosphäre wieder aufzusuchen?
Besonders da sich auch vier Tage nach ihrer fluchtartigen Abreise nichts an ihrer inneren Unruhe geändert hatte. Sie hatte keinen Appetit, sie konnte nicht schlafen und in ihrem Kopf kreisten unaufhörlich endlose Fragen und Zweifel.
Was hatte sie erwartet? Durch Weglaufen lösten sich keine Probleme.
Andererseits war sie nicht weggelaufen. Eigentlich nicht. Bei dieser Reise ging es mehr um eine Auszeit als um eine Flucht. Eine Ruhepause, um ungestört über ihre Ziele nachzudenken, weit weg von dem lärmenden Wahnsinn, zu dem sich ihr Leben entwickelt hatte.
Und Hope Harbor war der perfekte Ort dafür.
Doch bis jetzt färbte die friedliche Atmosphäre, die Katherine als so angenehm in Erinnerung gehabt hatte, nicht auf ihre Seele ab.
Aber wahrscheinlich erwartete sie einfach zu viel. Einige Tage Frieden konnten fünf Jahre unter ständigem Druck und Stress nicht so schnell wettmachen. Sie sollte sich Zeit lassen, um sich an ein langsameres Tempo zu gewöhnen. Zulassen, dass die Ruhe dieses Ortes Wunder wirkte.
Mit zitternden Fingern nahm sie ihren Kaffee. Sie trank einen weiteren Schluck und ließ ihren Blick langsam durch den Hafen schweifen.
In den letzten sechs Jahren hatte sich hier nicht viel verändert. Am hinteren Ende des Dockside Drive, wo die Geschäftsstraße in einer Sackgasse vor dem Fluss endete, der hier ins Meer mündete, befand sich ein Pavillon in einem winzigen Park. Sie erkannte einen Picknicktisch und etwas, das beinahe wie eine historische Kanone aussah. Diese Kanone hatte bei ihrem letzten Besuch noch nicht hier gestanden.
Am Rand dieses Parks befand sich Charleys Tacostand. Der weiße Lieferwagen mit dem Verkaufsfenster, über dem in bunten Buchstaben der Name des Tacokochs prangte, war in den letzten sechs Jahren keinen Zentimeter bewegt worden und hatte sich kein bisschen verändert.
Genauso wenig wie sein Besitzer. Und seine aufmerksamen Augen.
Mit einem Seufzen schaute Katherine zu, wie am Horizont ein Schiff im Nebel verschwand. Genauso hatte sie in Hope Harbor untertauchen wollen.
Warum nur hatte sie ausgerechnet dem einen Menschen über den Weg laufen müssen, mit dem sie sich bei ihrem letzten Besuch in dieser Stadt angefreundet hatte? Dem einzigen Menschen, der sie wahrscheinlich wiedererkennen würde?
Ihr Plan, sich zurückzuziehen und seinen Stand trotz der köstlichen Fischtacos zu meiden, hätte Schutz genug sein müssen. Aber wie hätte sie ahnen können, dass er genau in dem Moment zu Gast in dem neuen Café war, als sie es betreten hatte?
Dieses Café hatte sie mit seiner zwanglosen, einladenden Atmosphäre in seinen Bann gezogen.
Sie nahm wieder ihren Becher und trank betrübt einen weiteren Schluck ihres Kaffees, bevor er kalt wurde.
Es war wirklich schade, dass sie in Zukunft auch um das Café einen weiten Bogen würde machen müssen. Charley hatte das Café für sie ruiniert.
Das ist nicht fair, Katherine. Charley ist nicht der einzige Grund, warum du nicht wieder dorthin gehen kannst.
In der Ferne durchbrach das Licht der Boje am Ende des Wellenbrechers das Grau und das tiefe Dröhnen eines Nebelhorns schickte einen Warnruf über das weite Wasser.
Sie wäre gut beraten, auf diese Warnung zu hören.
Denn Fakt war, dass der groß gewachsene Mann Mitte dreißig hinter dem Tresen ebenfalls eine Gefahr darstellte. Vielleicht sogar eine größere Gefahr als eine erneute Begegnung mit Charley.
Sie nahm den Deckel von ihrem Becher und betrachtete die Reste des kunstvollen K, das der Mann auf ihren Kaffee gezaubert hatte.
Er war am Montag auch da gewesen, aber da hatte er andere Gäste bedient.
Heute hatte er ihr jedoch seine ganze - ungebetene - Aufmerksamkeit geschenkt.
Unter anderen Umständen wäre das Interesse, das in seinen dunkelbraunen Augen aufgeflackert war, schmeichelhaft gewesen. Aber sie hatte nicht eingeplant, sich bei dieser Reise zu verlieben.
Der Geschmack des Kaffees wurde auf ihrer Zunge bitter. Cafébesuche waren für die Zukunft gestrichen. Sie durfte eine weitere Begegnung mit Charley - oder einen weiteren Versuch des Mannes hinter der Theke, sie in ein Gespräch zu verwickeln - nicht riskieren.
Und wenn ihr Bauchgefühl sie nicht trog, würde genau das passieren, wenn sie wieder in der Perfekten Bohne auftauchte.