Viele Leute waren anwesend, sodass manche Besucher im hinteren Teil des Saales sogar dicht gedrängt an den Wänden stehen mussten. Sechs Marburger Bürger wurden mit dem Brief des Landes Hessen und dem historischen Stadtsiegel ausgezeichnet. Außerdem wurden wir alle mit einem herrlichen Blumenstrauß bedacht. Die Rede hielt Oberbürgermeister Vaupel und er begann damit, dass er dieser Feierstunde den Satz vorausstellte: „Die Qualität des Lebens in unserer Stadt machen die Ehrenamtlichen aus.“
Mein Mann und ich wurden den Anwesenden mit folgenden Worten vorgestellt: „Seit einem halben Jahrhundert richtet das Ehepaar Lotte und Karl-Heinz Bormuth an Heiligabend eine Weihnachtsfeier für Einsame, sozial Schwache und Obdachlose aus Marburg und dem Landkreis aus. Schon seit fünfzig Jahren verzichten sie an diesem Tag auf ihre Privatsphäre. Mit kulturellen Beiträgen, einer Ansprache zur Bedeutung des Geschehens in Bethlehem, dem Geburtsort von Jesus Christus, mit Liedern und anderen musikalischen Beiträgen, lustigen und ernsten Geschichten sorgen sie an diesem Abend für eine wohltuende, liebevolle Atmosphäre. Sogar mit einem guten Essen werden die Gäste erfreut. Keiner soll wieder hungrig nach Hause gehen. Frau Bormuth bereitet selbst fünf Eimer Kartoffelsalat zu und kauft über 200 Würstchen. Außerdem werden die Gäste mit Torten und anderem Gebäck beglückt. Café Vetter und Café Klingelhöfer spenden diese herrlichen Gaben. Jeder Gast wird auch mit einem größeren Lebensmittelpaket bedacht und nach Schluss der Veranstaltung durch einen organisierten Fahrdienst wieder in seine Wohnung gebracht. Er selbst besuche seit vielen Jahren diese Feier, und seine Heiligabende hätten an Qualität gewonnen. Diese Besuche relativierten vieles im eigenen Leben“, so der Oberbürgermeister.
Das Lob des Redners war mir peinlich, denn ich hatte nie den Eindruck, für dieses Engagement ein großes Opfer gebracht zu haben. Mir bereitet diese Feier selbst viel Freude; denn Weihnachten ist ja eines der wichtigsten Feste in der Christenheit. Mir war es immer ein Anliegen, dass keiner dieses wundervolle Ereignis entbehren sollte: Christus ist im Stall in erbärmlicher Niedrigkeit geboren. In herzlicher Liebe zu uns Menschen hat Gott seinen Sohn in unsere Welt geschickt, damit wir einen Freund und Heiland an unserer Seite hätten. Über unser Elend hat sich unser Herr im Himmel erbarmt, damit jeder die Chance erhält, durch Jesus Befreiung von Schuld, Heilung für seine Leiden, Freude in seiner Einsamkeit und Trost in seiner Verzweiflung zu erfahren.
Gerne nehmen mein Mann und ich diese Ehrung in Dankbarkeit an alle anderen Mitarbeiter, die uns in den fünfzig Jahren helfend zur Seite standen, an. Und doch will ich sagen, dass ich dieses Lob nicht verdient habe, da ich selbst über diesem Geschehen an Weihnachten glücklich geworden bin. So bin ich zutiefst dankbar, dass Gott uns Anteil an seiner Rettungsaktion für unsere Stadt gibt.
Jedes Jahr beschließen wir den Abend mit dem Vaterunser, das uns Jesus selbst gelehrt hat, und mit Worten des Segens: „Der Herr segne dich und behüte dich. Er lasse sein Angesicht freundlich über dir leuchten und sei dir gnädig.“ Erst danach teilen die Mitarbeiter die Lebensmittelpakete an unsere Gäste aus.
Am Schluss dieses Nachmittags im Rathaus standen wir noch in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten uns bei einem Glas Sekt oder Orangensaft über dieses schöne Ereignis. Viele Fragen wurden uns noch gestellt. Mehrere Frauen kamen auf mich zu und erklärten sich auch bereit, Kekse zu backen und an dem Abend mitzuarbeiten. Eine Frau wollte sogar mit ihrem Kleinbus Gäste nach Hause bringen. Denn an Heiligabend fährt zu solch später Stunde kein Bus mehr. Es war uns ein besonderes Zeichen der Ermutigung, dass auch andere Anteil nahmen an unserer Arbeit und es begrüßten, dass dieses Fest weitergehen soll, selbst dann noch, wenn unsere Kräfte weniger werden und wir einmal die Verantwortung in jüngere Hände legen werden.
Ein wichtiges Gespräch
am Bahnhof
Es war an einem heißen Sommertag. Ich kam gerade mit zwei schweren Koffern in der Hand von einer längeren Reise nach Hause zurück. Am Bahnhof traf ich auf eine ältere Dame. Sie ging sofort auf mich zu, sprach mich an, denn sie kannte mich gut. Schon oft hatte ich mich mit ihr an unserem Weihnachtsabend unterhalten. Ihre Lebensgeschichte bewegte mich. Als Baby war sie mit einem schweren Hüftfehler zur Welt gekommen, der zur damaligen Zeit von den Ärzten noch nicht behandelt wurde. So musste sie ein Leben lang unter diesem Gehfehler leiden. In der Schule wurde sie oft mit spöttischen Reden bedacht. „Hinkel-Lieschen“ war noch das harmloseste Wort. Kinder können unheimlich grausam sein. So war ihr Dasein nicht vom Glück überstrahlt. Geheiratet hat sie auch nicht, und so blieb sie sehr einsam und bis in ihr hohes Alter allein. „Sie feiern doch auch dieses Jahr wieder den Heiligabend mit uns?“, fragte sie mich.
Da ging mir ein Licht auf, wie sehr sich Bedürftige, Alleinstehende, leidende Menschen auf unser Fest freuten. Schon im heißen Sommer bewegte sie die Frage, ob in der Schwanallee 37 wieder Weihnachten gefeiert würde. Wie viel muss dieses Fest der älteren Dame bedeuten.
Ich dachte so bei mir: Wir müssen die Geburt des Jesuskindleins auch dieses Jahr wieder organisieren; denn Menschen stehen in froher Erwartung vor diesem herrlichen Ereignis. Und haben wir den Sinn unserer Feier nicht schon erreicht, wenn die Sehnsucht nach dem Stern, der in der Heiligen Nacht über Bethlehems Stall aufgegangen ist, in ihnen erwacht? So erleben sie die Wahrheit für ihr Leben, dass sie den Retter, Erlöser und Heiland für ihr ganzes Dasein brauchen, in guten wie in schweren Stunden.
Die Begegnung mit der alten Dame am Bahnhof ging mir lange nicht aus dem Kopf und so begann ich in diesem Jahr schon sehr früh damit, den nächsten Heiligen Abend zu planen. Vor allen Dingen beschäftigte ich mich intensiv mit der Geburt Jesu Christi, und die Vorbereitung der Predigt für unsere vielen Gäste war das Erste, das mich auf dieses Fest einstimmte. Vor allen Dingen war es der Gesang der Engel, der mich durch meine Tage begleitete und meinem Herzen einen einzigartigen Klang schenkte. So stellte ich mir schon im Juni eine Karte mit dieser Lobeshymne auf meinen Schreibtisch: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“