Der gesellschaftliche Wandel in unseren Städten ist enorm. Wie können einzelne Christen, Gruppen und Gemeinden ihre Berufung in ihrer Stadt erkennen und umsetzen? Erkenntnisse aus Soziologie und Theologie sowie inspirierende Praxisbeispiele liefern wertvolle Anhaltspunkte.
»Städte werden in unserer Gesellschaft immer bedeutender und je größer die Städte, desto schwieriger fällt christlichen Gemeinden oftmals ein ausstrahlendes, echtes Zeugnis ihres Glaubens. Harald Sommerfeld liebt die Städte, die kleinen und großen, die wachsenden und die schrumpfenden. Er sieht die Menschen darin und will sich nicht damit abfinden, dass das Evangelium hier nicht auf guten Boden fallen sollte. Ganz ohne Übertreibung: ›Mit Gott in der Stadt‹ wird zu einem beachtenswerten Standardwerk für alle missionarisch Bewegten im städtischen Kontext werden – und das ist gut so.«
Dr. Michael Diener, Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes und Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz
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Wie dieses Buch zu gebrauchen ist
Bedürfnisgerechte Lektüre
Wenn wir uns als Christen engagieren, brauchen wir drei Voraussetzungen: (1) eine biblische Grundlage, die uns Sicherheit gibt, dass unser Handeln in Übereinstimmung mit Gottes Absichten steht; (2) ein Verständnis unseres Umfeldes, damit der gut gemeinte Einsatz nicht sein Ziel verfehlt; (3) eine Orientierung über unser Vorgehen, um die Sache richtig anzupacken. Dieses Buch versucht, allen drei Bedürfnissen gerecht zu werden.
Biblische Grundlagen: Sie sind an vielen Stellen in die einzelnen Kapitel eingestreut. Damit soll zum Ausdruck kommen, dass unsere Praxis in ständigem Gespräch mit den Texten der Schrift geschieht. Einige Spezialthemen habe ich in Exkurse ausgelagert.
Stadtsoziologische Grundlagen: Sie konzentrieren sich im ersten Teil des Buches (→ Kap. 1-14).
Ich empfehle Ihnen, mit den ersten drei Kapiteln zu beginnen. Wer vor allem an praktischen Hinweisen interessiert ist, kann anschließend ohne Nachteil im zweiten Teil des Buches weiterlesen und sich später nach Bedarf wieder dem ersten zuwenden. Nicht jedes Kapitel wird für jeden Leser von gleicher Wichtigkeit sein. Wer sich im Südwesten Deutschlands engagiert, wird nicht vorrangig die postsozialistische Stadt ergründen wollen. Wer im ostdeutschen Plattenbau wohnt, wird andere Prioritäten haben als die Erkundung einer wachsenden, wohlhabenden Stadt im Westen. Ich hoffe allerdings, dass die Kapitel interessant genug sind, auch auf das Appetit zu machen, was nicht unmittelbar das eigene Umfeld betrifft.
Orientierung für die Praxis: Im zweiten Teil des Buches (→ Kap. 15-32) finden Sie umfassende Hinweise für das städtische Engagement einzelner Christen, ganzer Gemeinden und übergemeindlicher Initiativen. Ich gehe von einer Grundüberzeugung aus, die ich an vielen Stellen näher ausführe: Urbane Mission beginnt nicht mit uns, Gott ist immer schon vor uns in der Stadt. Er wartet dort auf uns und hat bereits Voraussetzungen geschaffen, die für unser Engagement nötig sind. Das Geheimnis der urbanen Mission liegt darin zu sehen, was Gott tut, um sich an seinem Werk zu beteiligen (Joh. 5,19-20). Dann ist sie kein Kraftakt, sondern entspannte Mitarbeit bei Gott. Ich hoffe, dass Sie am Ende der Aussage zustimmen, die im Untertitel dieses Buches zum Ausdruck kommt: Urbane Mission ist nicht nur wichtig, sie ist auch schön.
Damit Sie Ihre eigene Auswahl treffen und die Kapitel dieses Buches tatsächlich in beliebiger Reihenfolge lesen können, enthalten alle Kapitel einige benutzerfreundliche Elemente. Für den Fall, dass Sie auf Begriffe oder Inhalte stoßen, die an anderer Stelle im Buch definiert oder dargestellt werden, gibt es viele (Quer-)Verweise auf andere Kapitel oder Abschnitte. Sie sind in Klammern mit einem Pfeil eingefügt: (→ Kap. 3.4.1). Fachbegriffe werden noch einmal in einem Glossar am Ende des Buches erklärt. Außerdem steht über jedem Kapitel eine kurze Übersicht und am Ende eine Zusammenfassung des Inhalts.
Dieses Buch enthält viele Fallbeispiele und Zitate. Sie sind der methodische Ausdruck meiner Grundüberzeugung, dass zu unseren wichtigsten Haltungen das Hören und das Sehen gehören. Deshalb schauen wir uns konkrete Städte und Modelle an und hören auf die Äußerungen von Aktiven und anderen Stadtbewohnern. Es gibt dafür zwei besondere Textbestandteile, die mit „Erfahrungen und Reflektionen“ bzw. „Modelle und Beispiele“ überschrieben sind.
Einige Städte dienen als Fallbeispiele für ein ganzes Kapitel. Zum Beispiel illustriere ich die wachsende, erfolgreiche Stadt an Erlangen. Damit soll Ihnen keine Überdosis an Informationen über eine Stadt verpasst werden, in der Sie nicht leben. Mein Wunsch ist, so etwas wie ein Empathie-Training für Städte anzuregen. Normalerweise verstehen wir unter Empathie, dass wir uns in die Einstellungen anderer Menschen einfühlen. Das geht am besten, wenn man nicht das allgemein Menschliche betrachtet, sondern eine konkrete Person. Wer in einer Begegnung Empathie lernt, wird später auch anderen Menschen mit mehr Empathie begegnen können. Mit Städten ist es ähnlich. Eine Stadt zu verstehen, ihr gegenüber Empathie zu entwickeln, ist mehr als die Sammlung von Informationen. Man versetzt sich in ihr Leben und ihre Geschichte hinein. Auch das kann man am besten an konkreten Städten üben und diese Übung wird später für vergleichbare Städte fruchtbar werden. Wer Erlangen versteht, versteht auch Ingolstadt (leichter).
Als Hilfe für die Übertragung auf das eigene Umfeld und die eigene Praxis stehen am Ende eines jeden Kapitels Anwendungsfragen, die man alleine beantworten oder über die man in einer Gruppe sprechen kann. Außerdem finden Sie dort Empfehlungen für weiterführende Literatur zur Vertiefung.
Noch kurz etwas zur Literatur: Dieses Buch folgt der Harvard-Zitierweise. Alle Quellen werden in Klammern direkt im Text angegeben, mit den Namen der Verfasser, dem Jahr des Erscheinens und – wo nötig – den Seitenzahlen, zum Beispiel (Bertels 2008:62). Die genauen Angaben zu dem Buch von Lothar Bertels finden Sie dann im Literaturverzeichnis am Ende des Buches. Eine Ausnahme bilden antike Autoren. Hier folge ich der klassischen Zitierweise wie (Plato, Apologie 17 c). Dadurch ist die Quellenangabe unabhängig von einer bestimmten Ausgabe oder Übersetzung. Bei wörtlichen Zitaten habe ich Rechtschreibung, Zeichensetzung und Grammatik wie im Original beibehalten. Die Bibeltexte sind, sofern nicht anders angegeben, der Einheitsübersetzung entnommen.
Dieses Buch ist für den deutschen Kontext geschrieben. Die meisten Beispiele und, wo möglich, auch Forschungsergebnisse stammen aus Deutschland. Deshalb gelten manche Aussagen nicht für andere gesellschaftliche Situationen.
Auch dieses Buch steht vor der Schwierigkeit, dass die deutsche Sprache es schwer macht, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern auf eine lesbare Art zum Ausdruck zu bringen. Ich verwende deshalb in der Regel das generische Maskulinum (zum Beispiel „Leser“ statt „Leserinnen und Leser“) mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass es geschlechtsneutral gemeint ist.
Zentrale Begriffe und Konzepte
Dies ist ein Buch über urbane Mission. Deshalb ist es sinnvoll, dass ich mich gleich zu Beginn mit Ihnen darüber verständige, was ich unter Mission verstehe. Im traditionellen Sprachgebrauch meint Mission oft allein die Außenmission, nicht aber das Handeln der Kirche im Inland. Oder der Begriff zielt auf die evangelistische Aufgabe der Christen ab – in Abgrenzung zur Diakonie. In diesem Buch wird Mission in einem umfassenderen Sinn verwendet.
Das Wort „Mission“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „Auftrag, Sendung“. Es gibt also jemanden, der beauftragt und sendet, nämlich Gott. Er ist und bleibt der eigentliche Urheber. Es ist seine Mission. Das führt uns zu einer ersten Definition.
Missio Dei
Definition: Unter Missio Dei (lateinisch für Mission Gottes) verstehe ich alles Gute, das auf Gottes Initiative hin auf der Erde geschieht.
Zu dieser sehr weiten Definition komme ich, wenn ich mir anschaue, was in der Bibel alles als von Gott gesandt bezeichnet wird. Gott sendet „sein Wort“, um den Wechsel der Jahreszeiten zu bewirken (Ps. 147,15.18), Menschen gesund zu machen (Ps. 107,20) und vieles andere geschehen zu lassen: „Es bewirkt, was ich will, und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe“ (Jes. 55,11). Gott sendet „Korn, Wein und Öl“ (Joel 2,19), um die Menschen zu sättigen. Er sendet „Licht“ und „Wahrheit“, damit sie Orientierung finden (Ps. 43,3). Er sendet ihnen „Hilfe“ in der Not (Ps. 20,3). Gott ist der Welt zugewandt und lässt unaufhörlich Gutes zu den Menschen kommen: „Er tat Gutes, gab euch vom Himmel her Regen und fruchtbare Zeiten; mit Nahrung und mit Freude erfüllte er euer Herz“ (Apg. 14,17). Wir sollten das nicht als naive, vorwissenschaftliche Aussagen abtun. Auch die Menschen früherer Zeiten bauten ihr Korn an, kelterten ihren Wein, pressten ihr Öl, legten sich Pflaster auf, strebten nach Weisheit und schützten sich gegen Gefahren. Aber sie wussten, dass sie es auf geheimnisvolle Weise Gott verdankten, wenn ihr Tun Erfolg hatte.
Weil diese umfassenden Wohltaten letztlich von Gott gesandt sind, gehören sie zur Missio Dei, deren Außenbereich sich sehr weit erstreckt. Gott sendet Gutes auch den „Undankbaren und Bösen“ (Lk. 6,35) und Nichtchristen können seine Beauftragten sein. Der Staat steht zum Beispiel im „Dienst Gottes“ (Röm. 13,4), insofern er das Gute in der Gesellschaft fördert (Röm. 13,1-7). Letztlich steht Gott also hinter allem Guten, das geschieht. Deshalb sehe ich auch im sozialen Handeln säkularer Akteure einen Ausdruck seiner Mission.
Zentrum und Höhepunkt der Missio Dei ist die Sendung des Sohnes (Gal. 4,4). Jesus Christus ist der Missionar. Er kam im Auftrag des Vaters zu uns, um uns zu zeigen und zu erzählen, wie Gott wirklich ist (Joh. 1,18; 14,9). Er starb, um uns und die Welt mit Gott zu versöhnen (2. Kor. 5,18-19). Mit seiner Auferstehung begann die Erneuerung der Erde, die noch auf ihre Vollendung wartet (2. Petr. 3,13). Den Weg dorthin begleitet der zweite göttliche Missionar, der Heilige Geist, den der Vater und Jesus Christus zu uns gesandt haben (Joh. 14,26; 15,26), um das Werk Jesu weiterzuführen. In diese große Mission treten wir ein, in ihr haben wir einen Platz. Jesus sendet uns, wie der Vater ihn gesandt hat (Joh. 20,21).
Gott liebt es, mit seinen Menschen zusammenzuarbeiten. Deshalb vertraut er uns seine Mission an. Aber sie bleibt immer etwas, das weit über die Tätigkeit der Christen hinausgeht. Es ist nie die Mission der Kirche, es ist immer die Missio Dei. Es sind die Werke des Vaters, die seine Missionare vollbringen (Joh. 9,4).
(Urbane) Mission
Definition: Als Mission bezeichne ich alles, was Christen im Auftrag Gottes in der Welt tun.
Missionare verkündigen nicht nur das Evangelium. Sie setzen sich für gerechte Löhne oder eine gesunde Umwelt ein, besuchen Kranke und pflegen Sterbende, helfen Kindern bei den Hausaufgaben, beteiligen sich an Stadtteilinitiativen, ziehen in soziale Brennpunkte, werden Teil einer Subkultur, legen Gemeinschaftsgärten an, unternehmen Ausflüge mit Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten und unterstützen schwache Familien. Mission geschieht in Tat und Wort, die Diakonie ist mit eingeschlossen. Mission umfasst Werke der Nächstenliebe an einzelnen Menschen, das Engagement für gerechte Verhältnisse und die Evangelisation. Sie ist urbane Mission, wenn sie in der Stadt und unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Stadt praktiziert wird. Wichtig ist, dass wir entdecken, wie viel die Menschen um uns herum Gott bedeuten und welchen Platz und welche Aufgaben er in seiner Mission für uns hat. Dabei will dieses Buch helfen.
Evangelisation
Definition: Evangelisation ist die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus und die Einladung zu einem Leben mit ihm.
Die Evangelisation ist also in der Mission enthalten, aber die Mission umfasst viel mehr als sie. Evangelisation ist weder der einzige Auftrag, den wir haben, noch der eigentliche, dem gegenüber die übrigen Dimensionen der Mission weniger wichtig wären. Wort und Tat lassen sich nicht voneinander trennen. Evangelisation ist nur dann glaubwürdig und im Sinne des Auftraggebers, wenn sie in die umfassende Mission eingebettet bleibt.
Missional
Gelegentlich verwende ich das Wort missional. Im Prinzip bedeutet es dasselbe wie „missionarisch“. Dieser neue Begriff bringt zum Ausdruck, dass kein verkürztes oder einseitiges Missionsverständnis gemeint ist. Oft sind mit ihm zwei Betonungen verbunden:
Mission ist kein Arbeitszweig der Kirche – neben vielen anderen –, sondern ihr Lebenselement. Die Kirche existiert um der Mission willen und bei allem, was sie tut, ist sie sich ihrer Sendung in die Welt bewusst.
Mission als Sendung vollzieht sich vor allem im Hingehen. Die Kirche hat nicht nur den Auftrag, zu sich und ihren Angeboten einzuladen. Sie geht zu den Menschen, wird Teil ihrer Lebenswelt und dient ihnen dort, wo sie sind.
Der letzte Aspekt steht auch beim nächsten Begriff im Mittelpunkt.
Inkarnation / inkarnatorisch
Als Inkarnation (von lateinischen incarnatio = Fleischwerdung) bezeichnen wir die Menschwerdung Christi. Er wohnte unter uns und erfüllte seine Mission als einer von uns (Joh. 1,14). Damit hat er uns für unsere Mission ein Vorbild gegeben.
Definition: Als inkarnatorisch bezeichne ich die Mission, wenn wir den Menschen, zu denen Gott uns gesandt hat, nicht nur „von außen“ dienen, sondern uns mit ihnen identifizieren und Teil ihrer Lebenswelt werden.
Transformation
Der Begriff Transformation bringt zum Ausdruck, dass Gott Herzen und Verhältnisse ändern will. Es geht nicht nur darum, dass einzelne Menschen zum Glauben an Jesus kommen, sondern dass ihr ganzes Leben, ihre Beziehungen und die Verhältnisse in ihrer Stadt im Sinne des Evangeliums eine positive Veränderung erleben.
Definition: Unter Transformation verstehe ich, dass in Übereinstimmung mit Gottes Willen durch das Wirken seiner Missionare Herzen und Verhältnisse verändert werden.
David Bosch: Mission im Wandel. Paradigmenwechsel in der Missionstheologie (Bosch 2012). Ein wichtiges Grundlagenwerk für ein angemessenes Verständnis von Mission.
Nach einem kurzen Überblick, was heutige, postmoderne Städte ausmacht, begeben wir uns auf eine erste Suche nach Spuren Gottes in der Stadt. Und fragen uns, welche Aufgaben eine missionarische Stadtgemeinde hat.
1. Gott in der Stadt
Eine Einführung
Dieses Buch ist die Einladung zu einer gemeinsamen Suche. Wie kann in der Stadt, in der wir leben, der Gott, an den wir glauben, stärker erfahrbar werden? Als Einstieg führen wir ein kleines Gedankenexperiment durch. Gerda sei eine Frau, die Anfang der 1960er-Jahre in unserer Stadt lebte. Dann verfiel sie in einen langjährigen Schlaf, aus dem sie erst in unseren Tagen wieder erwachte. Welche Entdeckungen würde sie machen, wenn sie jetzt durch die Straßen unseres Ortes ginge?
Gerdas Stadterkundung beginnt im Zentrum. Erstaunt sieht sie Erwachsene, die mit einer schäbigen Tasche unterwegs sind und Abfallbehälter durchsuchen. Ab und zu wird sie von Jugendlichen, die heruntergekommen aussehen, um etwas Kleingeld gebeten. So etwas kennt sie nur von selten auftauchenden Landfahrern, aber nicht als normalen Teil des Stadtbildes. In einem Altbauquartier, durch das sie täglich geht, fallen ihr einige Männer auf, die sich anscheinend jeden Morgen an einer Imbissbude treffen, dort den ganzen Tag sitzen und ihr „Sterni“ trinken. Warum gehen die nicht zur Arbeit? Dass sie keine haben könnten, kommt ihr nicht in den Sinn.
Sie geht ein kurzes Stück weiter und sieht vor einem weiteren Altbau einen Möbelwagen. Ein Ehepaar mit Kind steht daneben, offensichtlich gut gelaunt. Wieder eine Familie, die es geschafft hat, sich ein Haus im Grünen zu bauen, denkt Gerda. Doch die drei ziehen nicht aus, sondern ein. Gerda stellt fest, dass in dieser Straße die Häuser frisch gestrichen sind, in mehreren Fenstern hängen Schilder „Eigentumswohnungen zu verkaufen“. In einigen ehemaligen Baulücken, an die sie sich noch von früher erinnert, sind schmucke Neubauten entstanden. Teure Boutiquen und die ihr unbekannten „Bioläden“ ergänzen das Bild. Offensichtlich lässt es sich in der Stadt, aus der früher alle, die es sich leisten konnten, an die Ränder gezogen sind, wieder gut leben. An der nächsten großen Straße begegnet ihr ein Demonstrationszug. „Bezahlbare Mieten“ liest sie auf den Spruchbändern, „Verdrängung stoppen“ und „Schluss mit Zwangsräumungen“. Das gute Leben in der Stadt ist wohl nicht für alle gut.
Völlig überrascht ist sie, dass ihr viele junge Frauen mit Kopftuch begegnen. Früher war das ein traditionelles Relikt, an dem Frauen im ländlichen Bereich noch festhielten. Aber diese sehen nicht aus wie Landfrauen und sie scheinen auch nicht von hier zu sein. Überhaupt ist die Stadt viel bunter geworden. Gerda erinnert sich, wie die ersten „Gastarbeiter“ in ihren Heimatort kamen. Aber die müssten eigentlich schon lange wieder weg sein. Warum gibt es auf einmal so viele Menschen, die eine andere Hautfarbe haben und eine andere Sprache sprechen? Auch die deutschen Jugendlichen sehen ungewohnt aus. Wer früher auffallen oder anders sein wollte, ließ sich einfach die Haare länger wachsen. Doch jetzt trifft sie auf seltsame Frisuren. Manche tragen einen Haarkamm mitten auf dem Kopf, andere Strähnen in knallbunten Farben oder Glatzen und einige haben die Haare rundherum geschoren wie ihre Großväter in den 1950er-Jahren.
1.1 Die postmoderne Stadt
Worauf Gerda hier unvermittelt stößt, ist das Ergebnis einer längeren Entwicklung. Stadtforscher sprechen vom Wandel zur postmodernen Stadt. Mit ihm haben sich auch die Rahmenbedingungen für christliches Engagement tief greifend verändert. Wir werden diesen Wandel detailliert untersuchen und seine Bedeutung für die Gemeinde aufzeigen. Hier sei er zunächst nur in einigen wichtigen Grundzügen skizziert.
1.1.1 Die einen werden reicher, die anderen ärmer
In der Zeit des Wirtschaftswunders, also bis in die 1960er-Jahre, bewegte sich die ganze Gesellschaft wie in einem Fahrstuhl nach oben. Die Reichen wurden reicher, die anderen aber auch. „Wohlstand für alle“ hieß ein Buch des damaligen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard und dies war mehr als ein Wahlversprechen. Dann setzte eine Veränderung ein, die sich mit den Begriffen Krise und Polarisierung beschreiben lässt und die auch die Städte erfasste. „Nun gibt es plötzlich […] einen gegenteiligen Typus von Stadt: die schrumpfende Stadt, in der nicht nur die Zahl der Bewohner abnimmt, sondern auch die Zahl der Arbeitsplätze […] Es entsteht also eine Polarisierung der Stadtentwicklung in einerseits schrumpfende, andererseits weiterhin stark wachsende Städte“ (Bertels 2008:62). Auch innerhalb der Städte teilte sich die Bevölkerung in Gewinner und Verlierer. Die einen wurden aus dem Fahrstuhl nach oben verwiesen, für die anderen nahm er mehr Fahrt auf. Die Schere zwischen arm und reich öffnete sich wieder.
1.1.2 Neue Jobs, neue Lebensformen, neue Landkarten
Das soziale und räumliche Gefüge unserer Städte befindet sich in einem Prozess der Restrukturierung. Das gesamte städtische Leben wird neu geordnet. Manche Veränderungen sind schon von Weitem sichtbar: Wer mit dem Zug durch ein Ballungsgebiet fährt, entdeckt Industriebrachen und leer stehende Fabrikhallen, aber auch neue Bürohochhäuser mit gläsernen Fassaden. Immer weniger Menschen sind in der Produktion beschäftigt, immer mehr arbeiten in Dienstleistungsberufen. Einigen Dienstleistern geht es gut. Sie sind hoch qualifiziert, haben ein entsprechendes Einkommen und eine angenehme Arbeitsumgebung. Andere schneiden ihnen die Haare, fahren sie mit dem Taxi zum Flughafen oder reinigen nach Feierabend ihre Büros. Von solchen Tätigkeiten kann man gerade sein Leben fristen.
Die Industriegesellschaft hatte eine neue Familienform hervorgebracht, die Kleinfamilie. Vor einigen Jahrzehnten galt sie – und in christlichen Kreisen gilt sie noch heute – als ideale Form der Lebensgemeinschaft. Um den Traum vom eigenen Heim im Grünen zu verwirklichen, zogen viele von ihnen ins Umland, wo es billiges Bauland gab. Von dort fuhr der Mann täglich zur Arbeit in die Stadt, die Frau blieb zu Hause, hütete das Heim und die Kinder. Heute ist dieser Lebensentwurf für viele Stadtbewohner kein attraktives Ziel, für andere keine realistische Option mehr. Ein Blick in die Statistik macht das schnell deutlich. In Berlin machen Einpersonenhaushalte inzwischen die Hälfte aller städtischen Haushalte aus (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2013:42). Unter den übrigen findet man neben Kleinfamilien Alleinerziehende, Dinks, Patchwork-Familien, Wohngemeinschaften, (gleichgeschlechtliche) Lebenspartnerschaften und Großfamilien – meist mit Migrationshintergrund.
Wenn sich die Wirtschaft und die Bevölkerung ändern, ändern sich auch die städtischen Landkarten. Im Grünen zu wohnen, ist für viele kein Traum mehr. Wenn in einer Familie beide Eltern berufstätig sind, kann man das Alltagsleben am besten organisieren, wenn man in der Nähe von Kindergärten, Einkaufsmöglichkeiten und Versorgungseinrichtungen wohnt. Und wer alleine lebt oder keine Kinder hat, der bevorzugt kurze Wege zu Freizeitmöglichkeiten und Treffpunkten mit seinen Freunden. Viele Innenstädte sind wieder attraktiv für die geworden, die sich bessere Wohnmöglichkeiten leisten können. Die übrigen werden allmählich an die Ränder der Stadt oder in ärmere Stadtteile verdrängt. Wer über die Jahre hinweg den Sozialatlas einer Großstadt verfolgt, merkt, wie sich soziale Brennpunkte und bessere Wohnlagen verschoben haben und weiter verschieben.
1.1.3 Wir sind alle Minderheiten
In den 1950er-Jahren konnte die Behauptung aufgestellt werden, die frühere Klassengesellschaft sei zu einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky 1965:332) geworden, das soziale und kulturelle Verhalten der Menschen habe sich vereinheitlicht. Heute spricht man von Fragmentierung. Die Stadt zerfällt in geografische und kulturelle „Dörfer“: in Wohngebiete mit eigenständigem Charakter, in Teilgesellschaften und (Sub)kulturen.
„In der Weltstadt der Zukunft gibt es nur noch Minderheiten“ (Jencks 1993:7). Die Bevölkerung von Städten bildet immer weniger ein einheitliches Ganzes. Sie ist heutzutage deutlich vielfältiger, aber die sozialen Bindeglieder zwischen ihren Fragmenten sind eher weniger geworden.
1.2 Und die Gemeinde?
Gerda ist neugierig geworden. Sie ist Christin und fragt sich, wie die Gemeinden wohl mit dieser Vielfalt klarkommen. Doch dort erlebt sie die nächste Überraschung. Zwar ist die Musik ein bisschen flotter, als sie es in Erinnerung hat, aber ansonsten ist vieles noch vertraut. Armen Menschen begegnet sie dort kaum und denen von den Bioläden auch nur selten. Wenn ein Gemeindehaus in einer Nachbarschaft liegt, in der ihr die Not der Menschen aufgefallen ist, reisen die Leute am Sonntag von überall her an. Wer nebenan wohnt, kommt im Gemeindeleben nicht vor. Im Gottesdienst sieht Gerda viele fröhliche Gesichter, aber diese Gesichter sind alle weiß. Und die Frisuren sind auch eher einheitlich. Warum sind die Gemeinden in einer so farbigen Stadt so farblos? Es kommt Gerda vor, als hätten viele von ihnen tatsächlich einige Jahrzehnte verschlafen.
Beim zweiten Hinsehen entdeckt sie allerdings noch etwas anderes. Zuerst fällt es ihr in ihrer eigenen Gemeinde auf, einer Freikirche, die vor einigen Jahren ihr 100jähriges Bestehen gefeiert hat. Man hat zu diesem Anlass Bilder des Gründers gezeigt, der in einem ehemaligen Arbeiterviertel einige Leute um sich sammeln konnte. Die Gemeinde wuchs weiter und konnte in Eigenleistung ihr Gemeindehaus bauen. Nach dem Zweiten Weltkrieg schlossen sich eine Reihe von Flüchtlingen aus den früheren deutschen Ostgebieten an. Durch Tüchtigkeit brachten es viele Gemeindeglieder zu einem gewissen Wohlstand und eine Familie nach der anderen zog in ein Eigenheim im Umland. Man nahm viele Fahrten auf sich, um am Gemeindeleben teilzunehmen und die eigenen Kinder zu ihren Programmen zu fahren. Diese Entwicklung hat Gerda noch persönlich miterlebt. Die weitere Geschichte wird ihr erzählt.
Der Trend zum Wegzug verstärkte sich, als die Zahl der Arbeitslosen und Migranten zunahm. Das war nicht mehr „ihre Nachbarschaft“. Nur das Gemeindehaus blieb. Natürlich hatte die Gemeinde ein missionarisches Herz. Das meinte sie jedenfalls. Sie unterstützte ein Ehepaar, das auf den Philippinen eine Gemeinde gründete und ein Hilfsprojekt leitete. Wenn die Missionare auf einem Heimaturlaub davon berichteten, waren alle bewegt von den Geschichten über Menschen, deren Nöten begegnet wurde und die zum Glauben kamen. In der eigenen Stadt war das schwieriger. Der Appell von der Kanzel, Freunde und Bekannte mitzubringen, blieb ohne Resonanz. Wer lässt sich schon nach Feierabend in einen 30 Kilometer entfernten seltsamen frommen Club einladen? Die jährlichen Evangelisationen wurden, auch als kaum „Fremde“ mehr kamen, noch einige Jahre weitergeführt, bis man sie schließlich einstellte. Stattdessen versuchte man, mit Sonderveranstaltungen niedrigschwellige Angebote an Außenstehende zu machen. Doch die Schwelle schien immer noch hoch zu sein.
Inzwischen hat in der Gemeinde ein Generationenwechsel in der Leitung stattgefunden. Gerda bekommt mit, dass die nun Verantwortlichen nicht mehr damit zufrieden sind, dass ihre Gemeinde nur noch eine Erbauungsinsel in einem fremd gewordenen Quartier ist. Sie suchen Wege aus dem „frommen Ghetto“, durch ein Tagesseminar über „missionale Gemeinde“ ist bei vielen der Wunsch nach neuer „Relevanz“ für die Stadt erwacht. Aber wie vorgehen?
Die Christen dieser Gemeinde sind nicht die einzigen, die nach neuen Wegen in die Stadt suchen. Gerda hört von einigen anderen. Da sind Kirchengemeinden, die ihrem Mitgliederschwund begegnen oder die Diakonie nicht länger nur den dafür geschaffenen professionellen Einrichtungen überlassen möchten. Da sind junge Erwachsene, die von einer Lebensgemeinschaft träumen, aus der heraus sie sich „ganzheitlich“ engagieren können. Da sind Christen, die in der zunehmenden Zahl der Flüchtlinge einen Auftrag Gottes sehen. Da ist ein Team, das sich herausgefordert fühlt, weil in der Großwohnsiedlung am Rande der Stadt überhaupt keine christliche Präsenz vorhanden ist. Da ist ein Ehepaar, das von einer ausländischen Missionsgesellschaft in die Stadt gesandt worden ist, um eine neue Gemeinde zu gründen. Da sind Gemeinden von Migranten, die eine Berufung spüren, neues Feuer in den geistlich kalten Westen zu bringen. Und da ist eine Gruppe von Frauen und Männern, die Gemeinden oder christliche Einrichtungen leiten und sich regelmäßig zum Gebet für ihre Stadt treffen.
1.2.1 Die Bekehrung zur Stadt
Zu den tragischen Kapiteln evangelikaler und pietistischer Geschichte gehört der weitgehende Rückzug aus der Stadt. Seine Auswirkungen sind bis heute spürbar. Fromme Hochburgen liegen eher in ländlichen Gebieten, theologische Ausbildungsstätten und geistliche Zentren finden wir auf „heiligen Bergen“ oder in klösterlicher Abgeschiedenheit. Die städtische „Welt“ kommt vielen Christen fremd oder gar feindlich vor. Entsprechend ist ihr Denken geprägt: „Die meisten Christen lesen die Bibel mit ländlichen Brillen“ (Bakke 1997:14).
Doch das hat sich auf breiter Front zu ändern begonnen. In immer mehr Städten wenden sich Christen neu ihrem Umfeld zu. An einigen Orten hat das schon zu weitreichenden Veränderungen geführt – so in Boston, wo Christen von einer „stillen Erweckung“ sprechen (Hall, Hall & Daman 2010:xiii-xv) und wo es schöne Beispiele gelungener Transformation ganzer Stadtteile gibt (Medoff & Sklar 1994), oder in London, wo allein die anglikanische Kirche von 1990 bis 2010 um mehr als 70 Prozent gewachsen ist (Wolffe & Jackson 2012:23).
Ganz so weit sind wir in Deutschland noch nicht. Aber auch hier gibt es hoffnungsvolle Zeichen. Wer genau hinsieht, entdeckt in vielen unserer Städte eine missionarische Graswurzelbewegung. Mit diesem Begriff bezeichnet man eine Bewegung, die nicht „von oben“ entstanden ist, durch charismatische Leiter oder strategische Planung, sondern „von unten“, von der Basis, durch viele voneinander unabhängige kleine Aktionsgruppen. Es entspricht dem fragmentierten Zustand der postmodernen Stadt, dass es nicht vorrangig die Massenevents und die Megaprojekte sind, sondern viele kleine, begrenzte Initiativen, in denen die Bekehrung zur Stadt ihren Ausdruck findet.
Andere Christen befinden sich noch im Stadium der „neuen Sehnsucht nach der Stadt“. Sie wollen sich nicht mehr damit abfinden, dass ihre Gemeinde eine fromme Oase inmitten einer urbanen Wüste ist. Diese Graswurzeln und diese Sehnsucht sind unabhängig voneinander an so vielen Orten zu finden, dass ich in ihnen eine Bewegung des Heiligen Geistes sehe. Gott führt seine Gemeinde zurück in die Stadt. Dieses Buch will diese Bewegung aufgreifen, verstärken und unterstützen. Doch bevor wir uns gemeinsam auf den Weg in die Stadt machen, ist es angebracht, noch einen weiteren Perspektivwechsel vorzunehmen.
1.3 Wo wir hinkommen, ist Gott schon da
Gerda ist bei ihrer Entdeckungsreise hin- und hergerissen. Einerseits kommen ihr diese neuen Ansätze wie ein spannendes Abenteuer vor, demgegenüber das frühere Gemeindeleben fast blass und langweilig wirkt. Andererseits bereitet ihr das neue Denken auch Mühe. In einer Kleingruppe sprechen sie über Apostelgeschichte 17,16-34. Paulus sagte den heidnischen Athenern: „Keinem von uns ist er [Gott] fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ (V. 27-28). Offensichtlich war Paulus überzeugt, dass Gott den Athenern schon nahe war, bevor er selbst mit dem Evangelium zu ihnen kam. Gott musste sich sogar bemerkbar gemacht haben, denn die Menschen hätten ihn suchen, fühlen und finden sollen (V. 27). Jemand in der Runde stellt die Frage: „Wie wirkt Gott denn in unserer Stadt unabhängig von uns Christen?“
Früher war alles viel einfacher, findet Gerda. Gott war in der Gemeinde, draußen war die „gottlose Welt“. In der Gemeinde gab es an jedem Tag eine Chorprobe, eine Bibelstunde oder eine andere Veranstaltung, damit die jungen Christen keine Zeit hatten, weltlichen Versuchungen zu erliegen. Sie erinnert sich an viele Predigten, die gegen etwas waren. Und sie waren immer gegen etwas, das außerhalb geschah und drohte, in die Gemeinde einzudringen. Und da draußen soll Gott sich aufhalten? Aber so scheint Paulus es tatsächlich gemeint zu haben. Gerda ahnt, dass es nicht nur in der Stadt, sondern auch an Gott Neues zu entdecken gibt.
1.3.1 Gott in unserer Stadt
Für Gott ist jede Stadt einzigartig. Das hat er mit uns gemeinsam. Wir leben nicht in der Stadt, wir leben in Coburg, Castrop-Rauxel oder Chemnitz. Städte haben eine individuelle äußere Gestalt und ein individuelles inneres Leben. Sie haben ihre eigene Biografie (Geschichte) und ihren eigenen Charakter. Die soziale Stadtforschung hat sich in den letzten Jahren verstärkt der Besonderheit einer jeden Stadt zugewandt. Programmatisch ist der Buchtitel „Die Eigenlogik der Städte“ (Berking & Löw 2008), bezeichnend einer der Beiträge: „Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen“ (Berking 2008).
Dieser Einzigartigkeit einer jeden Stadt entspricht – so meine These –, dass Gott zu ihr eine einzigartige Beziehung hat. Gott liebt nicht die Stadt, Gott liebt Herne, Halle und Hof. Er hat mit jeder Stadt eine eigene Geschichte, ist ihr auf besondere Weise nahe, hat spezielle Absichten für sie und hat seine unverwechselbaren Spuren in ihr hinterlassen. Zur Begründung und Veranschaulichung dieser These lade ich Sie ein, sich mit mir in eine antike Stadt zu begeben. Es geht dabei nicht nur um Vergangenes. Es geht darum, unseren Blick zu schärfen für die Gegenwart Gottes auch in unserer Stadt.
1.3.2 Auf den Spuren des unbekannten Gottes
Um das Jahr 50 n. Chr. reiste Paulus in die Stadt Athen. Die Blütezeit dieses politischen und kulturellen Zentrums lag schon einige Jahrhunderte zurück. Auf der Agora, die der Schauplatz der berühmten Dialoge des Sokrates gewesen war, disputierten nur noch zweitklassige Philosophen; von hervorragenden Künstlern, Dichtern und Denkern wird uns in dieser Zeit nicht berichtet. Dennoch strahlte der Glanz der ruhmreichen Vergangenheit nach. Athen war eine beliebte Universitätsstadt, zahlreiche Festpilger und Bildungstouristen – darunter römische Kaiser – besuchten sie (Elliger 2007:125-126). Für die meisten der rund 75.000 Athener (Chandler 1987:463) wird der Aufenthalt des Paulus deshalb nicht mehr als eine Randnotiz gewesen sein, falls er ihnen überhaupt auffiel.
Bevor wir Paulus durch Athen begleiten, ist eine Zwischenbemerkung nötig. Der Bericht des Lukas (Apg. 17,16-34) ist voller Anspielungen, die antike Leser sofort verstanden haben, die wir aber erst enträtseln müssen. Das erfordert einiges an Feinarbeit. Vermutlich haben Sie nicht alle Geschmack an historischen und fachtheologischen Tüfteleien. Deshalb habe ich diesen Teil in den Anhang verschoben. Hier geht es nur um die wichtigsten Ergebnisse; wer die ausführliche Darstellung und vor allem Belege und Begründungen sucht, findet sie dort.
Der Aufenthalt begann damit, dass Paulus die Stadt erkundete (Apg. 17,16.23). An diese vorbereitende „Kontextanalyse“ schlossen sich missionarische Begegnungen an, sowohl in der jüdischen Synagoge als auch auf der Agora, wo Paulus sich mit denen unterhielt, die er dort antraf, unter ihnen Vertreter der beiden bedeutendsten Philosophenschulen (Apg. 17,17-18). Das Echo war geteilt: Es schwankte zwischen Spott, Befremden und Neugier. Schließlich kam es zu einer Untersuchung vor dem Areopag, der obersten Behörde Athens, die ein Auge auf die religiösen Aktivitäten in der Stadt hatte (Apg. 17,18-20). Wir hören hinein in die Rede, die Paulus dort hielt:
Er hat aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die ganze Erde bewohne. Er hat für sie bestimmte Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnsitze festgesetzt. Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten [oder fühlen] und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir […]. (Apg. 17,26-28a)
Diese Sätze haben es in sich. Die menschliche Siedlungsgeschichte ist gleichzeitig eine Gottesgeschichte. Was immer Menschen in ein bestimmtes Wohngebiet verschlagen hat, Gott hat etwas damit zu tun. Dort soll die eigentliche Absicht Gottes in Erfüllung gehen, von den Menschen gesucht und gefunden zu werden. Daraus lassen sich Folgerungen ziehen.
Wenn der Ort, an dem Menschen wohnen, für ihre Gottesbeziehung von Bedeutung ist, dann muss es an jedem Ort besondere Spuren Gottes geben, die dem Suchen, Fühlen und Finden eine Richtung geben. Gott macht sich nicht überall auf die gleiche Weise bemerkbar und er wird nicht überall auf die gleiche Weise erkannt. Natürlich gibt es auch Konstanten: Es geht immer um den einen Gott, „der die Welt erschaffen hat“, der Jesus „von den Toten auferweckte“ und der jetzt verkünden lässt, „dass überall alle umkehren sollen“ (Apg. 17,24.30-31). Aber für die Zugänge zu diesem Gott gibt es lokale Besonderheiten.
Damit kommen wir zu einer Entdeckung, die Paulus bei einem seiner Athener Stadtgänge gemacht hatte. Er fand „einen Altar mit der Aufschrift: Einem unbekannten Gott“ (Apg. 17,23). Es gibt gute Gründe, den Anlass für die Errichtung dieses Altars in einer konkreten Erfahrung zu sehen, bei der die Anrufung eines unbekannten Gottes sich als erfolgreich herausgestellt hatte.
Athen wurde einst von einer Pest heimgesucht. In ihrer Not ließen die Athener einen Mann namens Epimenides von Kreta holen. Dieser führte eine Herde mit schwarzen und weißen Schafen auf den Areshügel. Wo jedes Schaf sich lagerte, wurde es dem „zuständigen“ Gott geopfert. Die Plage endete und „anonyme Altäre“ erinnerten an das Geschehen (Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen I 110). Wie immer es um den historischen Wert solcher Überlieferungen steht, frei erfunden sind sie in der Regel nicht. In diesem Fall spricht einiges dafür, dass die Episode um Epimenides so oder ähnlich stattgefunden hat und dass sich Paulus und seine Weggefährten ernsthaft mit ihr und mit dem Mann aus Kreta beschäftigt haben. Epimenides wird im Titusbrief als „Prophet“ zitiert: „Alle Kreter sind Lügner und faule Bäuche, gefährliche Tiere“ (Tit. 1,12). Ebenfalls um ein Zitat könnte es sich bei dem Satz „in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ (Apg. 17,28) handeln. Auch er steht in einer Beziehung zu Epimenides. Und schließlich hat Lukas den Athenbesuch des Apostels so stilisiert, dass Parallelen zu dem Besuch des Mannes aus Kreta erkennbar werden.
Gott war auch außerhalb von Israel nicht untätig und nicht schweigsam gewesen. Er hatte auf Kreta, der Heimat des Epimenides, sein Heilshandeln gezeigt: „Wohl habe ich Israel aus Ägypten heraufgeführt, aber ebenso die Philister aus Kaftor“ (Am. 9,7). So wie er im heidnischen Perserreich einen König fand, den er zu seinem Gesalbten machte (Jes. 45,1), fand er auf Kreta einen Mann, der sein Prophet wurde. Diesen Propheten hatte er zur Rettung aus Todesnot nach Athen gesandt und Altäre hatten die Erinnerung an diese Erfahrung bewahrt. So kam Paulus in ein vorbereitetes Wohngebiet und konnte den Athenern lokale Spuren seines Gottes zeigen, auf denen sie ihn erneut suchen konnten.
1.4 Die vier Aufgaben der missionarischen Stadtgemeinde
Der Athenbesuch des Paulus gibt uns nicht nur Grund, auch in unserer Stadt auf einzigartige Spuren Gottes zu achten. Er zeigt uns gleichzeitig ein Modell für urbane Mission, das sich auf andere Städte übertragen lässt. An dieser Stelle sei es nur kurz skizziert. Seine Elemente werden uns in diesem Buch immer wieder begegnen.
1.4.1 Die sozialwissenschaftliche Aufgabe: Die Stadt verstehen
Paulus machte sich in zwei Schritten mit Athen vertraut. Zuerst unternahm er Stadtgänge, um sich einen optischen Eindruck zu verschaffen (Apg. 17,16.23). Jede Stadt hat ihre physische Gestalt, besteht aus einem System von Gebäuden, Plätzen und Verbindungswegen, das viel über ihre Bewohner, deren Verhältnisse und Weltanschauungen verrät. In Athen wurde das Stadtbild von religiöser Architektur und Kunst beherrscht. Die Akropolis erhob sich weithin sichtbar über die Stadt und wer in Athen unterwegs war, kam sich vor wie in einem „Wald von Götzenbildern“. Der wesentliche Charakter der Stadt wurde schnell deutlich: „Nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen“ (Apg. 17,22).
Vor allem aber besteht eine Stadt aus ihren Bewohnern. Die beste Art, sie kennenzulernen, besteht darin, ihnen zu begegnen und sich mit ihnen zu unterhalten. Paulus tat dies ausgiebig in der Synagoge und auf der Agora. Er traf die verschiedenen Gruppen der Stadt, von denen uns einerseits Juden und Gottesfürchtige, andererseits epikuräische und stoische Philosophen genannt werden (Apg. 17,17-18). Er lernte ihren Charakter kennen: ihre Religiosität, die zwischen Frömmigkeit und Aberglauben schwankte (Elliger 2007:132; Külling 1993:27-28), ihre sprichwörtliche Neugierde (Jipp 2012:574-575), ihre spöttische Verachtung (Barrett 1994b:830).
1.4.2 Die theologische Aufgabe: Gottes Spuren in der Stadt erkennen
In Athen haben wir bereits Spuren Gottes entdeckt, die in der Mission des Paulus eine Rolle spielten. Wo gibt es solche Spuren Gottes in unserer Stadt? Sie wird in der Regel schon eine christliche Geschichte haben, an der es einiges zu entdecken gibt. Wer hat vor uns gearbeitet, in dessen Ernte wir gekommen sind (Joh. 4,38)? Und wo war und ist Gott unter und durch Nichtchristen am Werk?
1.4.3 Die evangelistische Aufgabe: Gottes Gegenwart in der Stadt aufzeigen und deuten
Die evangelistische Aufgabe der Christen wird dadurch nicht bedeutungsärmer, dass Gott vor und neben ihnen bereits auf dem Plan ist. Auch wenn Gott keinem der Bewohner unserer Stadt fern war und ist (Apg. 17,27), bleibt er ihnen oft unbekannt. „Über die Zeiten der Unwissenheit [hat Gott] hinweggesehen“ (Apg. 17,30), „jetzt“ sollen sie beendet werden.
Die evangelistische Aufgabe der Christen bekommt in diesem Kontext aber einen Charakter, der von manchen vertrauten Vorstellungen abweicht. Klassische Evangelisation geht von der Gottesferne aller Menschen aus. Oft wird dabei mit Aussagen aus dem Römerbrief argumentiert. Doch dieser ist kein evangelistisches Traktat. Er ist an Menschen geschrieben, die bereits zum Glauben gekommen sind. Wenn wir wissen wollen, wie die ersten Christen evangelisierten, müssen wir in die Apostelgeschichte schauen. In ihr finden wir ein deutlich anderes Bild.
Hauptthema ihrer evangelistischen Reden sind nicht Sünde und Vergebung. Hauptthema ist vielmehr die bisherige Geschichte Gottes mit den Zuhörern, die „jetzt“ in Jesus Christus ihre Erfüllung findet. Deshalb führt nicht eine „Römerstraße“ zu Gott, sondern verschiedene Wege, je nach Zuhörerschaft. Juden (und ihren Sympathisanten) wird die bisherige Geschichte Gottes mit Israel und ihre Messiaserwartung vor Augen geführt. Diese Geschichte ist jetzt in Jesus zum Ziel gekommen, er ist der verheißene Retter (Apg. 13,16-41).
Aber auch bei heidnischen Zuhörern ist der Ausgangspunkt nicht ihre Gottesferne, sondern ihre Gottesnähe! Der wahre Gott, der sich von allen ihren Göttern unterscheidet, hat „sich nicht unbezeugt gelassen. Er tat Gutes, gab euch vom Himmel her Regen und fruchtbare Zeiten, mit Nahrung und Freude erfüllte er euer Herz“ (Apg. 14,17). „Keinem von uns ist er fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir […] Wir sind von seiner Art“ (Apg. 17,27-28). Den Gott, der immer schon unter ihnen gewesen ist, sollen die Heiden suchen und finden. Dazu braucht er einen Namen und ein Gesicht (vgl. 2. Kor. 4,6). Erst dann ist eine echte Beziehung zu ihm möglich. Dieser Name („Jesus Christus“) und sein Gesicht (das des „Gekreuzigten“) wird ihnen jetzt verkündigt (1. Kor. 2,2).
1.4.4 Die transformatorische Aufgabe: Sich für Gottes Ziele mit der Stadt engagieren
Gott will nicht nur Herzen, sondern auch Verhältnisse ändern. Das ist eine langfristige Aufgabe. Hier konnte Paulus nur den Grund legen. Er ließ einige Anhänger in Athen zurück, mit denen – wie in den übrigen Städten seiner Missionstätigkeit – ein mehrere Jahrhunderte dauernder Prozess der Transformation begann. Athen hat die Liebe Gottes zunächst nur zögerlich erwidert, „die Gemeinde war von Anfang an klein und blieb es“ (Harnack 1906:197). Aus den ersten Jahrhunderten besitzen wir nur spärliche Notizen. „Erst im 5. Jahrhundert scheint das Christentum in Athen in Schwung gekommen zu sein, nun aber gleich in beachtlicher Stärke“ (Elliger 2007:186). In anderen Städten des römischen Reiches verlief der Prozess schneller. Die ersten Christen haben ihre Städte verwandelt. In Geschichte und Gegenwart sind viele weitere Beispiele gelungener Transformation gefolgt. Einige werden uns in diesem Buch begegnen. Und warum sollte die Geschichte der Transformation nicht in unserer Stadt ihre Fortsetzung finden?
Mit dem Wandel zur postmodernen Stadt haben sich auch die Rahmenbedingungen für christliches Engagement tief greifend verändert. Der Wandel zeigt sich in Krise und Polarisierung: Der Wohlstand für alle ist vorbei. Die Schere zwischen arm und reich öffnet sich wieder.
Restrukturierung: Immer mehr Menschen arbeiten im Dienstleistungssektor, die traditionelle Kleinfamilie wird durch viele andere Lebensformen ergänzt, bessere Wohnlagen und soziale Brennpunkte verschieben sich.
Fragmentierung: Die Stadt zerfällt in geografische und kulturelle Dörfer und bildet immer weniger ein einheitliches Ganzes.
Bei vielen Christen wächst die Sehnsucht nach einer neuen „Relevanz“ für die Stadt und an vielen Stellen entdeckt man missionarische Graswurzelbewegungen.
Jede Stadt ist einzigartig und Gott hat zu jeder Stadt eine einzigartige Beziehung. Er ist bereits in unseren Städten und wir können seine Spuren dort entdecken.
Am Beispiel von Paulus’ Aufenthalt in Athen sehen wir ein Modell für urbane Mission:
die Stadt verstehen (die sozialwissenschaftliche Aufgabe);
Gottes Spuren in der Stadt erkennen (die theologische Aufgabe);
Gottes Gegenwart in der Stadt aufzeigen und deuten (die evangelistische Aufgabe);
sich für Gottes Ziele mit der Stadt engagieren (die transformatorische Aufgabe).
Wie wirken sich Polarisierung, Restrukturierung und Fragmentierung in Ihrer Stadt aus?
Wo entdecken Sie Spuren Gottes in Ihrer Stadt? Welche christliche Geschichte gibt es? Wo war und ist Gott unter Nichtchristen am Werk?
Welche der vier Aufgaben einer missionarischen Stadtgemeinde erfüllen Sie / erfüllt Ihre Gemeinde bereits? Welche Aufgabe ist bislang eher zu kurz gekommen?
Harald Sommerfeld
Harald Sommerfeld lebt in Berlin, wo er eine stadtteilrelevante Gemeindearbeit mit aufgebaut hat. Gegenwärtig arbeitet er freiberuflich als Netzwerker, als Berater für urbane Transformation und als Praxisdozent des Instituts für Transformationsstudien in Kassel. Außerdem ist er Vorsitzender der ökumenischen Initiative „Gemeinsam für Berlin“.
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