Als die 24-jährige Libby kurz vor ihrer Hochzeit erfährt, dass sie adoptiert wurde, hat sie nur noch einen Wunsch: Sie will ihre leiblichen Eltern kennenlernen. Ihre Spurensuche führt sie zu Holton, einem angesehenen Treibholzkünstler, der sich seit dem Unfalltod seiner Frau Adele in die Arbeit und den Alkohol flüchtet.
Unter dem Vorwand, eine Freundin seiner verstorbenen Frau zu sein, schleicht sich Libby in das Leben des Künstlers ein. Weiß Holton überhaupt, dass seine geliebte Adele lange vor ihrer Hochzeit ein Kind zur Welt gebracht hat? Eine spannende Suche nach der Wahrheit beginnt.
€ 12,99 inkl. MwSt.
Prolog
Holton Creary drehte den Kopf zur Seite und machte die Augen nur so weit auf, dass er die ersten Sonnenstrahlen des Morgenlichts sah. Er konnte noch mindestens eine ganze Stunde schlafen, stellte er mit einem befriedigten Lächeln fest. Dann drehte er sich zur Seite und wollte zärtlich den Arm um seine Frau legen. Sich an ihren warmen, vertrauten Körper zu kuscheln war ein Ritual, das genauso alt war wie ihre Ehe. Aber als seine Hand nur auf der leeren Matratze landete, war er schlagartig hellwach.
Er hob den Kopf und lauschte, aber er hörte nur Rufus, der schnarchend auf seiner Decke lag.
Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee erfüllte das kleine Haus, aber von ihr war keine Spur zu sehen. Als er einen Blick aus dem Fenster warf, war er nicht überrascht, dass sie mit dem Rücken zu ihm im Vorgarten stand, direkt am Strand. Über ihr Nachthemd hatte sie seine alte Strickweste gezogen und genoss den Sonnenaufgang. Der leichte Wind ließ das Nachthemd um ihre Beine flattern und betonte ihre weibliche Figur. Das weckte in ihm ein starkes Besitzdenken. Falls in diesem Moment zufällig irgendein anderer Mann vorbeikäme, würde er bei ihrem Anblick fasziniert stehen bleiben. Das war die Kehrseite, wenn man mit einer bildhübschen Frau verheiratet war – Holton war nicht der einzige Mann, der einen Blick für Schönheit hatte.
Er stieg die Treppe zum Strand hinunter und trat geräuschlos hinter sie. Als er die Arme um ihre Taille schob, fuhr sie zusammen und drehte fragend den Kopf. Im nächsten Moment trat ein herzliches Lächeln an die Stelle ihrer überraschten Miene. „Du bist früh auf“, stellte sie fest.
„Ich habe dich vermisst.“ Er legte sein Kinn auf ihre Schulter und roch noch einen Hauch von dem Parfum, das sie am Vortag aufgelegt hatte.
„Haben dich die Grillen geweckt?“, fragte sie.
Erst jetzt nahm er das Zirpen wahr. Das laute Geräusch erinnerte ihn an eine Sprinkleranlage, die zu schnell lief. „Ich habe überhaupt nichts gehört. Aber jetzt, wo du es sagst …“
Mit hochgezogenen Mundwinkeln schaute sie ihn an. „Du lebst wie immer in deiner eigenen Welt.“ Ihr unbeschwerter Tonfall verriet ihm, dass sie nicht auf Streit aus war.
„Im Moment bin ich ganz bei dir.“ Er zog sie enger an sich.
„Davon werde ich nie genug bekommen“, sagte sie mit einem befriedigten Seufzen.
Sein Blick wanderte zum Sonnenaufgang mit seinen zarten Rosa- und Violetttönen und er wusste genau, was sie meinte. „Ich habe ganz vergessen, wie schön der Strand so früh am Morgen sein kann.“
Sie drehte sich schwungvoll zu ihm herum. Ihre hellbraunen Augen funkelten und in ihren Augenwinkeln bildeten sich winzige Falten, als sie ihn glücklich anlächelte. „Ich meine nicht nur diesen Blick. Dieser ganze Ort. Du. Die Galerie. Mein Leben ist wie ein Traum.“
Er räusperte sich. Seine Stimme sollte seine Gefühlsregung nicht verraten. „Ich dachte, du wärst sauer, weil ich gestern Abend so spät nach Hause gekommen bin.“
Sie drehte sich wieder zum Wasser herum und tastete hinter sich nach seinen Händen. Sie legte sie um ihre Taille und lehnte sich mit dem Rücken an ihn. „Was würde das bringen? Wenn ich Rufus für sein Sabbern bestrafe, habe ich wahrscheinlich mehr Erfolg. Ich habe einen Künstler geheiratet. Es wäre nicht fair, sauer zu sein, weil du der Mensch bist, in den ich mich verliebt habe.“
Er ließ ihre goldenen Haare durch seine Finger gleiten. Sie war mehr, als er verdiente. Viel mehr.
„Ist er bald fertig?“, wollte sie wissen. „Sag mir, dass er bald fertig ist.“
Fast jede freie Minute, die sie nicht in der Galerie verbrachten, arbeitete er an dem Hengst. Bis jetzt hatte immer ein Anflug von Verachtung in ihrer Stimme gelegen, wenn sie von der Skulptur gesprochen hatte, wie bei einer eifersüchtigen Geliebten. Er wusste, dass er sie viel zu oft allein ließ, aber morgen oder übermorgen wäre er fertig, und dann hatte er wieder viel Zeit für sie.
Er küsste sie auf den Kopf. „Er wäre gestern schon fertig geworden, wenn ich nicht mit deinen Bremsen beschäftigt gewesen wäre.“
Sie schaute ihn über die Schulter an und ihre Augen strahlten begeistert. „Du hast sie endlich repariert? Sie quietschen nicht mehr?“
„Keinen Ton geben sie von sich.“
Sie drehte sich in seinen Armen um und küsste ihn dankbar auf den Mund.
„Wenn ich gewusst hätte, dass ich so reichlich belohnt werde, hätte ich mich schon letzte Woche darum gekümmert.“
„Wenn du dich schon letzte Woche darum gekümmert hättest, hättest du mehr als nur einen Kuss bekommen.“
Er zwinkerte ihr zu. „Und was bekomme ich, wenn ich noch den Ölwechsel mache?“
Sie gab ihm einen verspielten Klaps. „Jetzt muss ich aber los.“
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Es ist doch noch sehr früh. Warum hast du es denn so eilig?“
„Ich war gestern Abend müde und habe nicht mehr gefegt und die Einnahmen nicht mehr gezählt.“
Schuldgefühle regten sich in ihm. Sie hatte nach und nach auch seine Arbeiten in der Galerie übernommen. „Ich fahre hinüber und erledige das. Lass du dir Zeit und genieße den Morgen.“
Sie legte die Hand zärtlich an seine Wange und schirmte sie vor der Meeresbrise ab. „Auf keinen Fall. Ich will meinen Mann zurück. Ich kümmere mich um die Galerie. Und du kriegst diesen Hengst fertig, bevor ich mich entschließe, ihn abzufackeln.“
„Abgemacht.“
Eine Stunde später, nachdem Holton ihr noch eine Tasse Kaffee gereicht und sie durch das offene Autofenster geküsst hatte, fuhr ein Streifenwagen vor seinem Haus vor. Sobald der Polizist den Hut abnahm und ihn sich unter den Arm klemmte, wusste Holton Bescheid.
Als der Mann ihm mitteilte, dass Adele einen tödlichen Verkehrsunfall gehabt hatte und ihr Auto mit neunzig Stundenkilometern frontal mit einem entgegenkommenden Auto zusammengestoßen war, sagte er nichts. Er war so benommen, dass sein Herz erstarrte und nicht reagieren konnte. Bevor sich daran etwas ändern konnte, fuhr er zum nächsten Spirituosenladen und kaufte die größte Flasche Gin, die er finden konnte.
Kapitel 1
Entweder war dem Labor ein Fehler unterlaufen und die Ergebnisse waren alle nicht glaubwürdig, oder ihre Welt wurde radikal auf den Kopf gestellt. Diese Gedanken beschäftigten Libby Slater, als sie mit einer Tüte in der Hand aus dem Schreibwarenladen eilte.
Der Tag hatte sehr angenehm begonnen. Das Wetter war schön, sie hatte Rob zum Mittagessen getroffen, und keiner ihrer Mandanten hatte ihr einen Schuhkarton mit Belegen auf den Schreibtisch gestellt und erwartete nun, dass sie das alles sortierte. Doch dann hatte sie an einem ganz normalen Tag im Internet die Ergebnisse des genetischen Gesundheitstests abgerufen, den sie und Rob vor ihrer Hochzeit hatten machen lassen. Und sie hatte den Schock ihres Lebens bekommen.
Die Ergebnisse seien beruhigend, hatte der Arzt angemerkt, aber bei ihr lösten sie genau das Gegenteil aus. Obwohl ihr Verlobter Träger von Mukoviszidose war, der Krankheit, die seine jüngere Schwester das Leben gekostet hatte, war Libby damit nicht vorbelastet. Das war eine gute Nachricht, denn offenbar mussten beide Elternteile Träger dieser Krankheit sein, damit sie bei einem Kind ausbrechen konnte. Abgesehen davon waren alle anderen Ergebnisse negativ, was sehr gut war. Sie wäre erleichtert gewesen, wenn nicht neben den anderen Ergebnissen auch ihre Blutgruppe aufgeführt gewesen wäre: A positiv, und das war überhaupt nicht gut. Ihre Eltern hatten beide die Blutgruppe 0, und bei zwei Mal 0 konnte kein Kind mit Blutgruppe A herauskommen. Das musste ein Irrtum sein. Was sonst?
Das schrille Dröhnen eines Martinshorns riss Libby aus ihren Gedanken. Sie zog den Kopf ein und hielt sich mit ihrer freien Hand ein Ohr zu, bis der Krankenwagen vorbei war. Zwei Straßen weiter klingelten ihre Ohren immer noch.
Ein Bus mit einer riesengroßen Handywerbung an der Seite und verschmierten Fensterscheiben kam mit quietschenden Bremsen vor einer menschenleeren Bushaltestelle zum Stehen. Die Hydrauliktüren öffneten sich zischend und einige Fahrgäste stiegen so eilig aus, dass Libby sie nur verschwommen wahrnahm. Als der letzte Fahrgast an ihr vorbeigeeilt war, machte sie einen Schritt auf die Straße, um sie zu überqueren.
Als das näher kommende Taxi entgegen ihrer Vermutung keineswegs sein Tempo verlangsamte, konnte sie sich gerade noch rechtzeitig auf den Gehweg zurückflüchten. Anstatt sich zu entschuldigen, schimpfte der Fahrer nur lautstark, als er an ihr vorbeiraste. Obwohl sie seine Worte nicht verstehen konnte, sprach seine vulgäre Handbewegung für sich.
Als sich ihr Herzschlag wieder normalisiert hatte, entdeckte sie eine Lücke im Verkehr und lief schnell auf die andere Straßenseite. Es war ihr gelungen, die Schnellstraße lebend und unversehrt zu überqueren. Als sie den gegenüberliegenden Gehweg erreicht hatte, fühlte sie sich relativ sicher.
Während sie sich weiterkämpfte, konnte sie die winzigen Ruß- und Smogpartikel, die sich wie ein dünner Nebel auf sie legten, fast schmecken und sie fragte sich unwillkürlich, ob ihre Lunge nicht wie die eines Kohlenarbeiters aussah, wenn sie diese verschmutzte Luft einatmete.
Schließlich kam sie am Stadthaus ihrer Mutter an. Es war kaum zu glauben, dass Caroline fast eine Million Dollar für dieses Haus gezahlt hatte, das im Grunde nicht viel mehr als ein altes Reihenhaus war, auch wenn es in der sogenannten Park Avenue von Casings stand.
Obwohl die Stadt in North Carolina lag, hatte Casings nichts von einer Südstaatenstadt. Libby hatte immer die feste Absicht gehabt, dieser schwülen, bei Weitem nicht so kultivierten Kopie von New York zu entfliehen, sobald sie mit dem College fertig wäre. Doch dann hatte sie sich in einen Mann verliebt, der seine Arbeit hier in der Stadt genauso sehr liebte wie sie. Sie verstärkte ihren Griff um die Tüte mit den Hochzeitseinladungen und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie daran dachte, den Rest ihres Lebens mit der Liebe ihres Lebens zu verbringen. Aber vorher würden sie dieses Fiasko überleben müssen, das ihre Mutter Hochzeit nannte.
Entschlossen stieg sie die Stufen hoch und warf noch einen Blick hinter sich, um sich zu vergewissern, dass ihr kein Straßenräuber gefolgt war, bevor sie die Tür aufsperrte. Der Eingangsbereich des Hauses war dunkel; mit Ausnahme des rechteckigen Sonnenstrahls, der durch das Buntglasfenster in den Raum fiel. Als sie den Lichtschalter betätigte, wurde der Eingangsbereich von künstlichem Licht durchflutet.
„Elizabeth?“, ertönte Carolines schrille Stimme aus dem Esszimmer. „Du kommst zu spät.“
Libby verdrehte die Augen. „Ich musste die zusätzlichen Einladungen abholen“, sagte sie, jedoch nicht so laut, dass ihre Mutter sie hören konnte. Andererseits wäre es auch egal, wenn sie schreien würde; der einzige Mensch, auf den ihre Mutter hörte, war sie selbst.
Ihre Clogs hallten auf dem Marmorboden wider, als sie durch den Flur ins Esszimmer trat. Caroline saß mit einem Stapel Einladungen, der so hoch war, als wollte sie ganz North Carolina einladen, an dem langen Esstisch. Sie hatte Libby im Büro angerufen, um noch mehr Einladungen abzuholen, was so gar nicht Libbys Vorstellung von einer schlichten Feier im kleinen Kreis entsprach.
„Es ist wirklich unnötig, das alles selbst zu machen“, stöhnte Caroline. „Es gibt doch Firmen, die solche Dinge erledigen.“
Es kostete Libby ihre ganze Selbstbeherrschung, um sie nicht auf der Stelle wegen ihrer fragwürdigen Blutgruppe ins Verhör zu nehmen. Wahrscheinlich lag einfach ein Irrtum vor, aber sie wollte trotzdem nicht, dass Caroline eine Verteidigungsposition einnahm und eine undurchdringliche Mauer um sich herum baute, bevor sie der Sache auf den Grund gegangen war.
Seufzend hängte sie ihre Handtasche an die Stuhllehne. „Das hast du schon gesagt. Und du weißt, dass ich gern wissen möchte, wer zu meiner Hochzeit kommt, und dass ich meine Gäste gern selbst einladen möchte.“ Sie warf einen skeptischen Blick auf die Einladungen.
„Du traust mir nicht?“, fragte Caroline in einem sarkastischen Tonfall, aber ihre Miene verriet nicht die geringste Belustigung. Sie wussten beide die Antwort auf diese Frage. „Wir hätten wenigstens einen Kalligrafen engagieren können, damit sie hübsch aussehen. Deine Handschrift war nie besonders schön.“
Libby bedachte ihre Mutter mit einem ausdruckslosen Blick, während sie ihr gegenüber Platz nahm. Erst als sie ihre Schuhe auszog, merkte sie, wie weh ihr die Füße taten. Sie schlüpfte aus ihren Clogs, streckte die Beine aus und bewegte die Zehen in ihren Socken. „Wenn ich es dir und dem Internet überließe, kämen nur die einflussreichsten Bürger der Stadt zu meiner Hochzeit.“ Aber von denen gehörte kein einziger zu ihrem kleinen Freundeskreis.
Eine offene Flasche Champagner stand mit zwei Kristallflöten auf dem Tisch. Caroline schob das Diamantarmband an ihrem Handgelenk zurück und schenkte sich ein Glas ein. Als sie das zweite Glas nehmen wollte, schüttelte Libby den Kopf. „Netter Versuch.“
Caroline schnaubte leise. Als sie ihr blondes Haar zurückstrich, kam dabei ein Diamantohrring zum Vorschein – wahrscheinlich ein Geschenk von jemandem aus der langen Liste ihrer Bewunderer. „Ich dachte nur, es wäre nett, ein wenig zu feiern, während wir arbeiten.“
„Nein“, widersprach Libby. „Du dachtest, es wäre nett, mich ein wenig beschwipst zu machen, damit du mehr von deinen Freunden auf die Gästeliste schmuggeln kannst.“
Caroline führte den Champagner an ihre Lippen und nippte an dem Glas. „Du hast wirklich eine sehr hohe Meinung von mir.“ Sie stellte das Glas ab und nahm einen Kugelschreiber. „Bitte sag mir, dass du dieses Schrottauto nicht vor dem Haus geparkt hast.“
Libby merkte, wie ihre Wangen vor Ärger erröteten, obwohl sie die Oberflächlichkeit ihrer Mutter eigentlich nicht überraschen sollte. „Nein, Caroline. Ich bin mit dem Taxi zum Schreibwarengeschäft gefahren, dann bin ich drei Straßen zu Fuß gegangen und wäre beinahe überfahren worden, nur damit die Snobs in deiner Nachbarschaft nicht erfahren, dass deine Tochter einen Jeep fährt.“
Jetzt war es an Caroline, die Augen zu verdrehen. „Gegen einen Jeep aus diesem Jahrhundert hätte ich ja nichts einzuwenden. Also wirklich, Elizabeth! Du verdienst genug Geld und könntest dir etwas leisten, das weniger schrottreif aussieht. Ich habe einen Audi gesehen, in dem du so …“
„Hör auf! Hör einfach auf damit“, sagte Libby und schluckte ihre Entrüstung hinunter. In dieser Woche hatte sie schon dreimal mit ihrer Mutter gestritten, und was war dabei herausgekommen? Nichts als zwei schlaflose Nächte und pochende Kopfschmerzen. Caroline würde sich nie ändern. Und immerhin finanzierte sie die Hochzeit. Libby hatte Rob gesagt, dass sie sich darauf nie hätten einlassen dürfen. Genau aus diesem Grund! Außerdem musste sie heute Abend etwas viel Wichtigeres klären.
Sie schob die Untersuchungsergebnisse in ihrer Handtasche beiseite und zog ihre Gästeliste heraus. Wie ein Anwalt, der der gegnerischen Partei ein Vergleichsangebot unterbreitet, hielt sie den Atem an, als sie die Namensliste auf den Tisch legte und sie dann ihrer Mutter hinschob. „Gestern Abend bin ich die Liste durchgegangen und …“
„Ich habe meine eigene Liste“, erklärte Caroline mit einem kühlen Blick. „Schau nicht so finster. Ich habe deine Forderungen berücksichtigt.“
Forderungen? Was für ein Witz! Es sollte der größte Tag ihres Lebens werden und sie hatte bei der Auswahl der Gäste, die zu ihrer Hochzeit kamen, nicht mehr Mitspracherecht als der Caterer? „Steht wenigstens Rob auf deiner Liste?“
Unbeeindruckt bewegte Caroline ihren manikürten Zeigefinger langsam über Libbys Liste und hielt bei dem einen oder anderen Namen inne. „Sei nicht vorlaut, junge Dame! Jedes Gedeck wird von meinem schwer verdienten Geld bezahlt.“
Angewidert wandte Libby den Blick ab. Wenn sie die Feier so gestalten könnte, wie sie wollte, bräuchte sie Carolines Geld nicht, um sie bezahlen zu können. Caroline wollte die Hochzeit, die sie selbst nie gehabt hatte, und durch ihr einziges Kind bekäme sie endlich ihr pompöses Fest. Das war nicht fair; aber wie sagte Rob immer? Das Leben ist nicht fair.
„Die Hälfte dieser Leute kenne ich überhaupt nicht“, sagte Caroline, deren Finger zum Ende der Seite wanderte.
Ein allzu bekannter Schmerz machte sich plötzlich hinter Libbys linkem Auge bemerkbar. Je früher diese Hochzeit vorbei war, umso besser. „Natürlich kennst du sie nicht, denn es sind ja auch meine Freunde und nicht deine.“
Caroline schüttelte seufzend den Kopf. „Gut, wir nehmen sie in die Liste auf, aber nur damit du es weißt: Damit steigt die Zahl der Gäste auf dreihundert.“
„Dreihundert?“, hörte sich Libby kreischen. „Ich habe gesagt, dass ich eine kleine Hochzeit will.“
„Sie wäre kleiner gewesen“, sagte Caroline, „aber du bringst mir hier fünfzig weitere Namen. Wessen Schuld ist das denn?“
Sie musste um Fassung ringen, hielt sich die Hände vors Gesicht und atmete tief ein, um nicht in Tränen auszubrechen. Das ginge noch zwei Monate so weiter. Aber dann hätten sie es geschafft! Zwei Monate würde sie aushalten können. Für Rob. Für ihn konnte sie fast alles aushalten.
„Gut“, sagte Caroline nach einem unbehaglichen Schweigen. „Ich streiche einfach die Staatsanwaltschaft, aber falls du irgendwann mit dem Gesetz in Konflikt kommen solltest, bist du auf dich allein gestellt.“
Libby schaute sie durch ihre Fingerspitzen an. „Warum sollte ich …? Ach, vergiss es.“ Sie nahm die Tüte aus dem Schreibwarengeschäft zur Hand und zog ein Blatt mit eleganten Adressetiketten für die Antwortkarten heraus, die sie für die Einladungen ausgesucht hatten. Sie könnte schon mal anfangen, sie aufzukleben. Sie wäre für jeden Fortschritt dankbar, und sei er noch so klein. Als ihr Handy klingelte, nahm sie ihre Handtasche vom Stuhl und tastete danach. Bevor sie den Anruf entgegennehmen konnte, hörte das Klingeln auf. Wie erwartet, las sie Robs Namen auf dem Display.
„Was will er denn jetzt?“, fragte Caroline und klang gereizter als sonst.
Das war endlich die perfekte Überleitung. Libby wusste, dass sie keine günstigere Gelegenheit bekommen würde, und bemühte sich, so neutral wie möglich zu klingen. „Wir haben eine genetische Untersuchung machen lassen, und heute sind die Ergebnisse gekommen. Er wollte nur wissen, was …“
„Eine genetische Untersuchung?“ Caroline zog eine kaum sichtbare Augenbraue hoch.
„Du weißt doch, dass Robs Schwester, Heather, an Mukoviszidose gestorben ist.“
Caroline kippte den Rest ihres Champagners hinunter und griff nach der Flasche. „Rob hatte eine Schwester?“
Die ausdruckslose Miene ihrer Mutter verriet Libby nicht, ob sie nur versuchte, sie auf die Palme zu bringen, oder ob sie tatsächlich so vergesslich war. „Diese Krankheit ist erblich. Er wollte sichergehen, dass wir nicht beide Träger dieser oder irgendeiner anderen schweren Erbkrankheit sind, die wir möglicherweise an unsere Kinder weitergeben könnten.“
Caroline hatte sich nachgeschenkt und stellte die Flasche mit einem dumpfen Geräusch auf den Tisch. „Und?“
„Rob ist Träger der Krankheit. Ich nicht.“
„Natürlich nicht.“
„Aber ich habe dabei meine Blutgruppe erfahren: A positiv.“ Mit angehaltenem Atem wartete sie darauf, wie ihre Mutter auf die Bombe, die sie soeben hatte platzen lassen, reagieren würde. Aber Caroline hatte bereits das Interesse verloren und begann, Namen auf die Umschläge für die Einladungen zu schreiben.
„Interessant“, murmelte sie. Libby musste ihre nervöse Energie auf etwas Produktives lenken und begann, wie am Fließband die Adressaufkleber in die obere linke Ecke der Umschläge zu kleben. „Ja, das stimmt.“ Als sie mit ihrem Stapel fertig war, schob sie ihn nach rechts und nahm sich den nächsten vor. „Haben du und George auch eine genetische Untersuchung vornehmen lassen, bevor ihr mich bekommen habt?“
Caroline schüttelte den Kopf und arbeitete unbeirrt weiter. „Das war damals nicht üblich, als ich …“ Sie brach ab. Warum konnte sie sich nicht überwinden, das Wort schwanger auszusprechen? War die Vorstellung, dass Libby in ihrem Körper gewesen war, so abstoßend? Es sei denn natürlich, Libby wäre gar nicht in ihrem Bauch gewesen.
„Du hast dieselbe Blutgruppe wie Rob, 0 positiv, nicht wahr?“, fragte Libby so beiläufig wie möglich.
Endlich hatte Caroline die erste Einladung fertig geschrieben. Bei diesem Tempo würde es ein sehr langer, sehr anstrengender Abend werden. „Das ist aber auch schon alles, was wir gemeinsam haben.“ Caroline konnte Libbys Verlobten nicht ausstehen, aber Libby versuchte, das nicht persönlich zu nehmen. Nachdem George sie verlassen hatte, hasste Caroline fast alle Männer mit der gleichen Inbrunst. „Woher weißt du eigentlich, welche Blutgruppe ich habe?“
„Ich passe gut auf.“
Caroline schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an.
„Dein Portemonnaie“, erklärte Libby und schob einen weiteren kleinen Stapel mit Umschlägen zu dem fertigen Stoß hinüber. „Du hast einmal Blut gespendet und hast deinen Blutspendeausweis immer noch in deinem Portemonnaie.“ Damit jeder sieht, wie unglaublich selbstlos du bist, hätte sie am liebsten hinzugefügt. Vorsichtig schälte sie ein weiteres Etikett von dem Bogen und klebte es auf einen Umschlag. „Auf Georges Erkennungsmarke steht, dass er auch 0 positiv hat.“ Aus Gründen, die sie sich selbst nicht erklären konnte, hatte sie immer noch die Erkennungsmarke ihres Vaters in ihrer Schmuckschatulle. Dem Militär musste ein Fehler unterlaufen sein. George konnte von Glück sagen, dass er nie so schlimm verwundet worden war, dass er eine Bluttransfusion gebraucht hätte.
„Ich weiß nicht, was auf seiner Erkennungsmarke steht. Ich dachte, ich hätte sie zusammen mit seinem ganzen anderen Müll weggeworfen.“ Caroline hakte mit einem befriedigten Lächeln den ersten Namen auf ihrer Liste ab. „Ich weiß nur, dass er die gleiche Blutgruppe hat wie ich, weil er für meine Totaloperation Blut gespendet hat.“
Das war es also! Ihre Ergebnisse stimmten nicht. Sie hatten fast tausend Dollar für eine Untersuchung ausgegeben. Und nun konnten sie den Ergebnissen gar nicht trauen. Rob war bestimmt empört, wenn er das erfuhr.
Caroline legte ihren Füller zur Seite und schaute Libby mit einem Stirnrunzeln an. „Warum interessiert es dich plötzlich, welche Blutgruppe alle haben?“
Libby rollte verkrampft die Zehen ein. „Zwei Eltern mit Blutgruppe 0 können kein Kind haben, das Blutgruppe A hat. Das ist unmöglich.“
Carolines Gesicht wurde so weiß wie die Spitzen ihrer französischen Maniküre.
In diesem Moment spulte sich Libbys Leben wie ein Film vor ihr ab. Und sie wusste es.
Die Babybücher ohne irgendwelche Fotos, auf denen Caroline schwanger war. Die Behauptung ihrer Mutter, sie hätte nicht nur ihr Babyarmband, sondern auch die Nabelschnurklemme und die Geburtsurkunde verloren. Hatte es ihr deshalb nichts ausgemacht, dass Libby sie als trotziger Teenager mit ihrem Vornamen angesprochen hatte? „Warum hast du mir das nicht gesagt?“ Mehr brachte sie nicht über die Lippen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Caroline setzte ein gekünsteltes Lächeln auf. „Was soll ich dir denn nicht gesagt haben?“, fragte sie mit zittriger Stimme, obwohl sie eine kühle Fassade zur Schau stellte. „Sei nicht albern. Dem Labor ist ein Fehler unterlaufen. Das ist alles.“ Sie war eine gute Lügnerin.
„Wie du meinst“, sagte Libby gefühllos. „Ich lasse morgen einen neuen Test machen.“
Carolines Miene wurde härter. „Warum musst du immer so hartnäckig sein?“
Bevor ihr Libby darauf eine Antwort geben konnte, verließ Caroline wortlos das Esszimmer.
Das war alles? Sie besaß nicht einmal den Anstand zuzugeben, dass eine folgenschwere Frage ungeklärt im Raum stand? Typisch! Libby ging in die Küche, schenkte sich ein Glas Wasser ein und kippte es erregt hinunter. Sie überlegte, wie sie am schnellsten von hier fortkommen konnte. Sollte sie Rob anrufen und ihn bitten, sie abzuholen, oder sich ein Taxi nehmen?
Noch bevor sie sich für eins entscheiden konnte, kam Caroline zurück. Ihre spitzen Absätze hallten laut auf dem Holzboden wider. Sie schloss die Augen und reichte Libby einen Stapel Papiere.
Libby sah das Siegel auf dem obersten Dokument. Sie hatte Mühe zu verarbeiten, was die unbekannten Namen, die sauber in die Zeilen getippt waren, bedeuteten.
Caroline hatte die Arme verschränkt und tippte mit den Fingernägeln nervös auf ihre gebräunten Arme. „Bitte sag doch etwas.“
Als Libbys Blick auf das Geburtsdatum fiel – ihr Geburtsdatum –, wurde ihr Mund ganz trocken.
Caroline öffnete ihre dünnen roten Lippen und schloss sie wieder, ohne ein Wort zu sagen. Es war das erste Mal, dass Libby ihre Mutter sprachlos erlebte.
Caroline trat ans Küchenfenster und zog das Raffrollo hoch. Sonnenlicht durchflutete den Raum und warf ein hartes, unschmeichelhaftes Licht auf ihr Gesicht. „Da du bald heiratest, war es wahrscheinlich sowieso höchste Zeit, dass du es erfährst. Ich wollte es dir eigentlich sagen, als du achtzehn wurdest, aber …“ Ihre Stimme versagte ihr. „Aber ich war zu feige. Ich hatte einfach zu große Angst davor, dass du deine leiblichen Eltern findest und dass du dann …“ Sie sprach weiter, aber Libby konnte sich nur noch auf die Adoptionspapiere konzentrieren, die sie in der Hand hielt.
Der Geruch von Carolines Parfum stieg ihr in die Nase und plötzlich hatte Libby das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Die Hand, in der sie die Papiere hielt, sank nach unten, während sie sich mit der anderen Hand den Mund zuhielt. Das alles geschah wirklich. Sie war tatsächlich adoptiert worden.
„Ich wollte eigentlich, dass du es von Anfang an weißt, aber dein Vater …“ Caroline schaute aus dem Fenster und interessierte sich plötzlich sehr für den Pfadfinder, der in die Einfahrt ihrer Nachbarn bog.
Libbys Vater hatte sie verlassen, als sie vier gewesen war. Es kam ihr so vor, als wäre es erst gestern gewesen, als er sie auf seinen Schoß gesetzt und ihr mit Tränen in den Augen gesagt hatte, dass sie ein braves Mädchen sein und auf Caroline aufpassen solle. Sie hatte gedacht, er fahre nur kurz einkaufen, und hatte nicht verstehen können, warum er deshalb so melodramatisch war. Sie hatte versucht, die schmerzliche Lücke in ihrem Leben mit Freunden, Sport und natürlich mit Rob zu füllen. Aber es verging kein Tag, an dem sie nicht spürte, dass in ihrem Leben ein Vater fehlte. Kein Wunder, dass George keine Skrupel gehabt hatte, seine Tochter zu verlassen! Sie war ja nicht wirklich seine Tochter.
„Ich bin adoptiert“, sagte sie, mehr als Feststellung und weniger als Frage. Dieses Stadthaus war schon immer stickig gewesen, aber in diesem Moment empfand sie die Luft genauso erdrückend wie die Nachricht, die sie soeben erfahren hatte.
Es stimmte also tatsächlich. Eigentlich sollte sie das nicht überraschen. Sie und Caroline mit ihrer ganzen Familie könnten kaum verschiedener sein. Unter den feinen Püppchen und den Countryclub-Männern war sie immer das schwarze Schaf gewesen, das in abgeschnittenen Jeans herumlief und lieber Frösche fing als mit edlen Gucci-Handtaschen auf Debütantinnenpartys zu gehen. Sie hatten sich nie wirklich verstanden. Jetzt wusste sie, warum. Sie waren nicht aus demselben Holz geschnitzt.
Wenn sie das als Kind erfahren hätte, wäre manches für sie leichter gewesen, aber jetzt traf sie diese Erkenntnis unvorbereitet und legte sich wie eine schwere Last auf sie. Caroline war alles andere als eine Bilderbuchmutter, aber sie war die einzige Mutter, die Libby je gekannt hatte. Ihr war schwindelig und sie lehnte sich an die Arbeitsplatte. Eigentlich war ihr zum Heulen zumute, doch dann hörte sie sich plötzlich lachen.
Caroline fuhr zu ihr herum. „Das ist überhaupt nicht lustig, Elizabeth.“
Sie wusste, dass das Lachen fehl am Platz war. Sie war in diesem Moment alles andere als fröhlich oder glücklich. Verwirrt vielleicht, verängstigt, wütend … und traurig. Sehr, sehr traurig.
Langsam verstummte ihr Lachen und sie suchte in Carolines Augen nach irgendeinem Anzeichen, dass das alles vielleicht nur ein furchtbarer Scherz war. Aber Caroline machte keine Scherze.
Ihr Blick wanderte wieder zu den Adoptionspapieren – ihren Adoptionspapieren – und zum Namen ihrer leiblichen Mutter: Adele Davison. Die Zeile, in der der Name ihres Vaters stehen sollte, war verdächtig leer.
„Wer ist mein Vater?“
Caroline benetzte nervös ihre Lippen und schüttelte langsam den Kopf.
Der Name des Kindes – ihr Name – war Grace gewesen. Und sie war in Wilmington, North Carolina, geboren, nicht in Casings, wie sie immer geglaubt hatte. In ihrem Kopf verschwamm alles, als sie zu verarbeiten versuchte, dass nichts so war, wie sie immer gedacht hatte. Nicht einmal sie selbst.
Gina Holmes
Gina Holmes ist gelernte Krankenschwester und begann ihre schriftstellerische Laufbahn mit dem Schreiben von Zeitschriftenartikeln und Kurzgeschichten.
Die Autorin, deren Debütroman "Wo mein Gestern dein Heute berührt" ist, lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Virginia.
Eine Echtheits-Überprüfung der Bewertungen hat vor deren Veröffentlichung nicht stattgefunden. Die Bewertungen könnten von Verbrauchern stammen, die die Ware oder Dienstleistung gar nicht erworben oder genutzt haben.