War Paulus ein Jude? Oder war er der Gründer des Christentums? Für die einen ist der streitbare Apostel ein Held, weil er die engen Grenzen des Judentums durchbrach und aus dem Christentum eine Weltreligion machte. Für andere gilt er als Abtrünniger und Verräter, der den Glauben seiner Väter verließ.
In neuerer Zeit mehren sich jedoch die Stimmen, die ein anderes Bild von Paulus entwerfen: Das Bild eines Juden, der seinem Glauben treu blieb, aber ihn hineintrug in eine neue und veränderte Welt. Dieses Buch geht den Spuren dieses Weges nach und zeigt, dass für den Juden Paulus der alte Glaube der Bibel nicht im Widerspruch steht zu den neuen Herausforderungen einer veränderten Kultur.
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Kapitel 1
Paulus: Alte und neue
Perspektiven
Eine Einführung
Vor drei Jahren habe ich in meinem Buch über Jesus, den Juden, viele meiner Erfahrungen und Entdeckungen in der Begegnung zwischen Christen und Juden beschrieben. Nun folgt ein weiteres Buch über einen berühmten Juden des ersten Jahrhunderts: Paulus. Pharisäer und Missionar, Christenverfolger und Gemeindegründer, Handwerker und Schriftsteller. Autor der ältesten uns bekannten christlichen Schriften. Und ein Jude aus tiefster Überzeugung.
Aber genau hier beginnt schon die Frage: War Paulus denn wirklich ein Jude? In gleicher Weise wie Jesus? Und blieb er es bis zum Ende seines Lebens? Oder hat Paulus nicht doch irgendwann die Grenzen des jüdischen Glaubens verlassen, um sich einem neuen Glauben zuzuwenden? In diesem Buch möchte ich dieser Frage nachgehen.
Ein Experiment
Dieses Buch ist kein Lehrbuch über Paulus.
Keine umfassende Darstellung seines Lebens, keine Zusammenfassung seiner Theologie. Es gibt bereits viele gute Bücher, die sich dieser Aufgabe gewidmet haben.1 In meinem Jesus-Buch habe ich den Fehler gemacht, das nicht deutlich genug und gleich am Anfang gesagt zu haben. So gab es viele Leser, die in dem Buch Wichtiges vermisst haben, was auch noch über Jesus hätte gesagt werden müssen, um das Bild abzurunden. Natürlich kann man über Jesus mehr sagen, als dass er ein Jude war. Und über Paulus auch. Darum soll es aber in diesem Buch nicht gehen. Ich möchte vielmehr zu einem Experiment einladen. Zu einem Experiment, dessen Ausgang für mich, das gebe ich ehrlich zu, selbst noch nicht feststeht. Das Experiment lautet: Wie ändert sich mein Bild von Paulus, wenn ich ihn nicht durch die gewohnte Brille meiner christlichen Tradition betrachte, sondern durch die Brille des jüdischen Glaubens? Was kann ich lernen, wenn ich auf die Stimmen jüdischer Forscher und Ausleger höre, die Paulus oft so ganz anders sehen und verstehen als ich? Wie klingen die Briefe des Paulus, wenn ich sie neben die Schriften der jüdischen Rabbinen und der Rollen vom Toten Meer lege? Klingt dann vielleicht manches, was mir bisher vertraut war, ganz anders? Und ist es möglich, Paulus als einen Juden zu verstehen, der das Judentum zeit seines Lebens nicht verlassen hat? Der festhielt am Glauben seiner Väter, am Gesetz des Moses, am Tempel in Jerusalem, an der Hoffnung auf den Messias? Und der dennoch diesen Glauben auch mit denen teilen wollte, die keine Juden waren?
Ehrliche Fragen – offene Antworten
Ich gebe zu, dass ich selbst noch nicht auf alle diese Fragen Antworten gefunden habe. Und dass ich noch nicht weiß, wohin dieser Weg führt, wenn man ihn einmal einschlägt. Aber ich möchte ihn neugierig gehen und Sie einladen, mich zu begleiten. Denn so viel kann ich jetzt schon sagen: Im Blick auf Jesus gab es für mich so viel Neues, Interessantes und Überraschendes zu entdecken, nachdem ich angefangen hatte, ihn durch die Augen jüdischer Kollegen, Freunde und Autoren zu sehen. Ich bin daher davon überzeugt, dass es bei Paulus ähnlich viel zu entdecken gibt. Aber ich habe inzwischen auch gelernt, dass die Forschung im Blick auf Paulus noch weit unausgereifter, die Meinungen deutlich geteilter und die Emotionen merklich angespannter sind als bei der Frage nach Jesus. Paulus ist nicht nur innerhalb der Christenheit, sondern auch zwischen Juden und Christen umstrittener als Jesus. Aber genau das macht mich neugierig. Neugierig, den Weg weiterzugehen, den ich bei Jesus begonnen habe. Aber ich möchte ihn fragend gehen. Suchend, bereit, Neues zu entdecken und aus Fehlern zu lernen.
Neues aus der Welt der Paulusforschung
Nicht alles ist dabei unsicher: Die neuere Forschung zu Paulus und seiner jüdischen Welt hat in den letzten Jahrzehnten jede Menge guter, interessanter und neuer Einsichten erbracht, die in der wissenschaftlichen Welt inzwischen zum Allgemeinwissen gehören. Viele davon sind aber bisher nur in Fachbüchern zu finden, die für Nicht-Theologen schwer zugänglich sind. Mit diesem Buch möchte ich daher dazu beitragen, dass diese neuen Entdeckungen eine weitere Verbreitung in Gemeinden, Bibelkreisen und Predigten finden. Manches in diesem Buch ist aber tatsächlich auch neu, ungewohnt und selbst unter meinen theologischen Kollegen nicht unumstritten. Es sind Beobachtungen, Ideen, Entdeckungen, die mir wichtig geworden sind. Interessante Einsichten, die ich aus dem jüdisch-christlichen Gespräch gewonnen oder in Forschungsarbeiten jüdischer Autoren gefunden habe. Und ich bitte darum, sie als einen Vorschlag zum Gespräch zu verstehen. Aus den Schriften der alten Rabbinen habe ich gelernt, dass es gut ist, unterschiedliche Meinungen offen zu diskutieren und auszutauschen, auch dann, wenn sie auf den ersten Blick abwegig zu sein scheinen. Dort wird nicht erst das aufgeschrieben, was als fertiges Ergebnis feststeht, sondern auch der Prozess der Suche selbst und die unterschiedlichen Meinungen der Rabbinen, die über eine Sache streiten. In jüdischen Lehrhäusern ist es üblich, in Partnerarbeit (hebr. chevruta) zu lernen, um gemeinsam Texte zu studieren, Lösungen für Probleme zu entwickeln und Antworten auf knifflige Fragen zu finden: Zwei Toraschüler sitzen sich dabei an einem Pult oder Tisch gegenüber und tauschen sich intensiv und oft auch lautstark über das aus, was sie beim Studium von Tora oder Talmud entdecken. Ich lade Sie also ein zu einer solchen chevruta: Dieses Buch enthält meine Entdeckungen, Vorschläge und Ideen. Und ich bin gespannt darauf, welche Reaktionen, Antworten, Ergänzungen und Widersprüche es hervorrufen wird.
Von Jesus zu Paulus: Eine Fortsetzung des Weges
Dieses Buch ist also in gewisser Weise eine Fortsetzung meines Jesus-Buches. Aber ich habe versucht, es so zu schreiben, dass man es auch lesen kann, ohne das erste Buch zu kennen. Manches Grundlegende allerdings will ich hier nicht in gleicher Breite noch einmal sagen. Dazu gehört der ausführliche Einblick in meinen eigenen Lebensweg und meine Begegnung mit dem Judentum in Schule, Studium und einigen Jahren des beruflichen Lebens in Jerusalem. Ein Weg, auf dem ich bei mir viele Vorurteile und Missverständnisse über das Judentum entdeckt, aber auch viele interessante Menschen kennengelernt habe, die mir geholfen haben, solche Vorurteile zu überwinden. Einige davon habe ich in meinem Jesus-Buch beschrieben. Und aus den Reaktionen von Lesern habe ich erfahren, dass es vielen anderen tatsächlich ganz ähnlich ging wie mir.
Ich habe außerdem in meinem ersten Buch versucht, ein Grundwissen über die wichtigsten Inhalte des jüdischen Glaubens und Lebens zu vermitteln, sowie die grundlegenden Texte und Quellen des Judentums und die bedeutendsten Rabbinen der Reihe nach vorzustellen. Das alles will ich hier nicht noch einmal wiederholen, sondern setze es voraus. Allen Lesern, die sich bisher mit dem Judentum nicht viel beschäftigt haben, lege ich also nahe, zunächst mit dem ersten Buch zu beginnen. Wer aber ein gewisses Grundwissen über das Neue Testament und das Judentum mitbringt, der wird diesem Buch hier folgen können, auch ohne das erste zu kennen.
Paulus und Jesus: Zwei Welten?
Dass Jesus ein Jude war und zeit seines Lebens blieb, ist heute für viele Christen eine Selbstverständlichkeit. Zwar mussten dazu in den letzten Jahrzehnten eine ganze Menge von Missverständnissen, Vorurteilen und Schieflagen der Vergangenheit ausgeräumt und überwunden werden. Leider hat erst die schreckliche Katastrophe der Schoa hier wirklich zu einem tiefen Umdenken beigetragen. Aber heute ist der jüdische Jesus ein selbstverständliches und wichtiges Bindeglied zwischen Juden und Christen geworden.
Bei Paulus aber liegt die Sache ganz anders: Für viele Menschen bildet er noch immer die entscheidende Trennlinie zwischen den beiden Religionen. Seine Bekehrung „vom Saulus zum Paulus“ stellt für sie nicht nur eine Wende vom Bösewicht zum Glaubenshelden dar, sondern eben auch eine Abwendung vom Judentum und eine Bekehrung zum Christentum. Julius Wellhausen, einer der großen Bibelforscher des 19. Jahrhunderts, war seiner Zeit voraus, als er 1905 den berühmten Satz schrieb: „Jesus war kein Christ, sondern Jude.“2 Weniger bekannt ist allerdings, wie er diesen Gedanken nur wenige Sätze später zu Ende führte: „Man darf das Nichtjüdische in ihm, das Menschliche, für charakteristischer halten als das Jüdische.“3 Deshalb sei es nur konsequent gewesen, dass Paulus den Bruch mit dem Judentum vollzog, den Jesus noch zu vermeiden versucht hatte:
„Man kann sich nicht wundern, dass es den Juden so vorkam, als wollte er [Jesus] die Grundlagen ihrer Religion zerstören. Seine Absicht war das freilich nicht, er war nur zu den Juden gesandt und wollte innerhalb des Judentums bleiben (...). Der Schnitt erfolgte erst durch die Kreuzigung und praktisch erst durch Paulus. Er lag aber in der Consequenz von Jesu eigener Lehre und seinem eigenen Verhalten.“ 4
Als ich mein Jesusbuch kurz nach dem Erscheinen einmal an einer deutschen Hochschule im Kreis von Kollegen vorstellte, warnte mich einer der Professoren wohlmeinend vor den unausweichlichen Folgen eines allzu jüdischen Jesus: „Je jüdischer Sie Jesus machen, desto tiefer treiben sie den Keil zwischen Jesus und Paulus, zwischen Jesus und seine Nachfolger. Das ist ein gefährlicher Weg. Sind Sie wirklich sicher, dass Sie ihn gehen wollen?“ Ich habe diese Warnung als Anlass und Herausforderung genommen, tatsächlich noch ein Stück weiter und intensiver dieser Spur zu folgen: nämlich um herauszufinden, ob das wirklich stimmt: Muss man zwischen einem jüdischen Jesus und einem nichtjüdischen Paulus wirklich eine so deutliche Trennlinie ziehen? Oder was wäre, wenn Paulus, ebenso wie Jesus, sich selbst als gläubigen und gesetzestreuen Juden gesehen hätte, der seinen jüdischen Glauben nie aufgegeben hat?
Jesus und Paulus aus jüdischer Sicht
Die scharfe Trennung zwischen Jesus und Paulus hat auch die jüdische Forschung über Paulus lange Zeit geprägt. Zwar hat man bis zur Aufklärungszeit sowohl Jesus als auch Paulus gleichermaßen als „Ketzer“ behandelt. In nahezu allen modernen Jesusdarstellungen seit dem 19. Jahrhundert aber wird Jesus dann von jüdischen Autoren ganz selbstverständlich als „einer von uns“ ins Judentum zurückgeholt: Er war vielleicht ein ungewöhnlicher Jude, ein Reformjude, ein größenwahnsinniger Jude, ein verrückter Jude. Aber ohne Zweifel ein Jude. Ganz anders ist es mit Paulus: Er wird in der älteren jüdischen Forschung fast durchgängig als ein „Abtrünniger“ dargestellt. Einer, der das Judentum verließ und eine neue Religion gründete. Heinrich Graetz etwa, der bekannteste jüdische Historiker des 19. Jahrhunderts, beschrieb Jesus, damals revolutionär, als einen gesetzestreuen Juden, der nur aufgrund eines Missverständnisses gekreuzigt wurde. Paulus dagegen erscheint bei ihm noch in ganz anderem Licht:
„Schwach an Körper und kränklich, verband er damit eine Zähigkeit, die vor keinem Hindernis zurückwich. Reizbar und heftig an Seelenstimmung, war er maßlos einseitig, eckig, beharrlich und verfolgungssüchtig (...). Er hatte nur geringe Kenntnis vom judäischen Schrifttum und kannte die heilige Schrift nur aus der griechischen Übersetzung. (...) Paulus ging aber geradezu darauf aus, die Fäden zu zerreißen, welche die Christuslehre mit dem Judentum verknüpfte. (...) Paulus fasste daher das Christentum als völligen Gegensatz gegen das Judentum auf.“5
Ähnlich urteilen nach ihm auch die meisten übrigen jüdischen Gelehrten: etwa Kaufmann Kohler, ein führender Denker des entstehenden Reformjudentums in den USA, oder auch der britische Neutestamentler Claude Montefiore.6 In Israel erscheint im Jahr 1939 das erste Paulusbuch in hebräischer Sprache. Es stammt aus der Feder von Joseph Klausner, Professor an der gerade neu gegründeten hebräischen Universität von Jerusalem. Für ihn war Paulus schon durch seine Herkunft aus Tarsus ein „Diaspora-Jude“, der sich vom eigentlichen Judentum entfremdet hatte.7 Er habe den Wunsch gehabt, Judentum und Heidentum zu einer weltweiten Einheitsreligion zu verbinden, und zu diesem Zweck habe er die neue Religion, das Christentum, gegründet:
„Ohne Jesus hätte es weder Paulus noch das Nazarenertum gegeben. Aber ohne Paulus hätte es kein Weltchristentum gegeben. In diesem Sinne ist nicht Jesus der Stifter des Christentums, wie das die allgemein verbreitete Ansicht unter den Völkern ist, sondern Paulus, der ‚Heidenapostel‘.“8
Martin Buber unterschied in seinem berühmten Werk „Zwei Glaubensweisen“9 den jüdischen Glauben deutlich vom christlichen. Der jüdische Glaube, hebräisch emuna, sei in der Bibel immer eine persönliche Vertrauensbeziehung zwischen dem Menschen und Gott. Diesen Glauben sieht Buber in typischer Weise in Jesus repräsentiert. Paulus dagegen gebrauche für den Glauben das griechische Wort pistis, das nach Bubers Ansicht ein reines Für-wahr-Halten von Glaubenssätzen bezeichne. Dieses sei typisch für den christlichen Glauben geworden und bei Paulus liege daher auch der tiefe Grund für die Trennung zwischen Judentum und Christentum. Auch Bubers Zeitgenosse und Landsmann Leo Baeck folgte einer ähnlichen Linie, obwohl er gegen Ende seines Lebens einräumte, dass Paulus zwar
„... auf der einen Seite seine Freiheit und Unabhängigkeit vom Judentum verkündet, (aber) auf der anderen Seite festhält am Forschen in diesem Judentum und an der jüdischen Denkweise und der jüdischen Lehrart. Er hat so tief im Judentum gelebt, dass er seelisch und geistig niemals von ihm freigekommen ist.“10
Die traditionelle Trennung zwischen einem jüdischen Jesus und einem nichtjüdischen Paulus hält sich in vielen Köpfen bis heute. Noch im Jahr 1986 sorgte das Buch eines englischen jüdischen Gelehrten für Aufsehen: „Der Mythenschmied – Paulus und die Erfindung des Christentums“.11 Darin wird Paulus nicht nur als der eigentliche Gründer des Christentums dargestellt, sondern es wird sogar bezweifelt, dass er überhaupt je ein Jude gewesen sei.
Eine Trendwende kündigt sich an
Gleichzeitig hat sich aber in den letzten Jahrzehnten der Wind merklich gedreht: Der aus Deutschland stammende und später nach Israel emigrierte Gelehrte Schalom ben Chorin etwa veröffentlichte schon 1970 ein Paulus-Buch, das damals völlig gegen den Trend lief. Er beginnt sein Buch mit den programmatischen Worten:
„Es gibt ein wissenschaftliches Dogma, das vor allem unter aufgeklärten Juden sehr verbreitet ist, aber heute auch unter Christen zahlreiche Anhänger findet: Jesus war und blieb Jude; Paulus vollzog den Schritt vom Judentum zum Christentum. Paulus also ist der Stifter des Christentums, nicht Jesus von Nazareth. Ich glaube das nicht. (...) Paulus ist Jude gewesen und geblieben. Das hat ihn nicht daran gehindert, seine Botschaft in die Völkerwelt zu tragen. In seiner Argumentation, in seiner Theologie und insbesondere auch in seiner Christologie, seiner Lehre vom Messias, ist er jüdischer Theologe geblieben.“12
Das waren für einen jüdischen Autor ungewöhnlich positive Töne. Aber der streitbare Publizist fand großen Anklang und ist vielleicht einer der bekanntesten deutschsprachigen Vertreter einer neuen Sicht des Paulus, die sich in der jüdischen Forschung immer mehr durchsetzt. Zehn Jahre vorher hatte schon der jüdische Religionswissenschaftler Hans-Joachim Schoeps eine „Heimholung des Ketzers“13 angeregt: Paulus gehörte auch für ihn ins Judentum hinein. Verschiedene englische, amerikanische und israelische Autoren schlossen sich dieser neuen Richtung an.14 Sehr kämpferisch und besonders radikal folgt auch Pinchas Lapide diesem neuen Weg:15 Wie man es von seinen Büchern kennt, versucht er aufgrund einer Reihe von vermeintlichen Fehlübersetzungen und Falschinterpretationen nachzuweisen, dass Paulus in Wirklichkeit ein Angehöriger der essenischen Gemeinschaft von Qumran war und eigentlich schon im Neuen Testament völlig falsch gedeutet wurde. Der Keil, der früher zwischen Jesus und Paulus getrieben wurde, entsteht also nun zwischen Paulus und dem späteren Christentum. Und es stellt sich die Frage: Haben die Christen nun nicht nur Jesus, sondern auch noch Paulus missverstanden? Diese Frage wird noch zu klären sein.
Ein „liberaler“ oder ein „orthodoxer“ Paulus?
Einig sind sich alle diese neuen jüdischen Paulusdarstellungen aber in einem Punkt: Sie sehen in Paulus einen „liberalen“ Juden. Einen, der es mit der Tora und der jüdischen Tradition nicht so ganz ernst nahm. Die verbreitete christliche Ansicht, Paulus habe die „Freiheit vom Gesetz“ gepredigt, ist auch unter seinen jüdischen Lesern weitverbreitet. So deuten sie Paulus ganz im Licht des modernen „Reformjudentums“, eines Judentums, das zwar Grundwerte des jüdischen Glaubens bewahrt, aber die Treue zu Tora und jüdischer Lebensweise (halacha) weithin aufgibt. In letzter Zeit jedoch mehren sich die Stimmen, die auch diese Ansicht nun noch einmal infrage stellen und noch einen Schritt weiter gehen: Immer mehr jüdische Forscher, vor allem aus dem englischen Sprachraum, zeichnen mittlerweile ein noch konsequenteres Bild eines „orthodoxen“ jüdischen Paulus. Für sie blieb er zeit seines Lebens nicht nur in seinem Denken, sondern auch in seiner Lebenspraxis der Tora und dem Tempel treu. Er feierte weiterhin jüdische Feste, praktizierte die Beschneidung, ging in den Tempel und hielt sich an die biblischen Speise- und Reinheitsgebote. Und das nicht nur dann, wenn es ihm gerade passte, sondern grundsätzlich. Das klingt für christliche Ohren zunächst befremdlich und schnell hat man Bibelstellen zur Hand, die einem solchen Paulusbild scheinbar widersprechen. Diese Stellen werden wir in den folgenden Kapiteln noch genauer betrachten. Ich möchte aber zunächst dieser neuen Spur einmal ernsthaft folgen und in diesem Buch Schritt für Schritt prüfen, ob sich anhand des Neuen Testaments tatsächlich ein solches Bild von Paulus zeichnen lässt.
Christliche Paulusbilder im Wandel
Auch unter christlichen Forschern hat sich das Bild von Paulus im vergangenen Jahrhundert deutlich verändert. Die Entwicklung ist dabei ganz vergleichbar mit den jüdischen Stimmen: Das eingangs zitierte Wort von Julius Wellhausen über den „Schnitt“ zwischen Jesus und Paulus, der gleichzeitig ein Bruch mit dem Judentum war, ist kein Einzelfall. Fast zeitgleich mit ihm veröffentlichte der Theologe William Wrede eine sehr bekannte Paulus-Biografie, die für viel Aufsehen sorgte: Laut Wrede war Paulus der „zweite Stifter des Christentums“16, weil das, was er in seinen Briefen schrieb, mit der Botschaft und Lehre Jesu fast nichts gemeinsam habe. In einem Rückblick auf das Wrede-Buch titelt der SPIEGEL gut sechzig Jahre später: „Paulus hat Jesus nicht verstanden“. Das Verhältnis des Paulus zum Judentum fasst Wrede so zusammen:
„Er hat den Jesusglauben nicht nur über die Enge des Judentums hinausgehoben, sondern vom Judentum selbst losgerissen und damit der christlichen Gemeinschaft erst das Selbstbewusstsein einer neuen Religion gegeben.“17
Auch für Rudolf Bultmann, den wohl wichtigsten neutestamentlichen Forscher der Nachkriegszeit, klafft zwischen Jesus und Paulus eine deutliche Lücke: Die Briefe des Paulus zeigten seiner Ansicht nach „kaum Spuren eines Einflusses (...) der Geschichte und Verkündigung Jesu“. Für Paulus sei an Jesus nur das eine bedeutsam: „Dass er als Jude unter Juden gelebt hatte und dass er gekreuzigt worden war.“ Die Heilslehre des Paulus sei daher „keine Wiederaufnahme oder Weiterbildung der Verkündigung Jesu“.18 Diese Linie setzt sich vereinzelt bis heute noch fort. Im Jahr 2008 veröffentlichte der Göttinger Neutestamentler Gerd Lüdemann sein Buch „Paulus – der Gründer des Christentums“. Lüdemann hatte schon einige Jahre früher von sich reden gemacht, als er die Auferstehung Jesu als eine Erfindung bezeichnete und daraufhin seine kirchliche Anerkennung als Professor der evangelischen Theologie verlor. Sein Lehrstuhl wurde daraufhin umbenannt in „Professur für Geschichte und Literatur des frühen Christentums“, und so konnte er bis zu seiner Emeritierung 2011 weiterhin evangelische Pfarrer und Religionslehrer ausbilden. Für ihn jedoch ist das Ergebnis seiner lebenslangen Paulusforschung ernüchternd:
„Die christliche Kirche verdankt diesem jüdischen Mann aus Tarsus fast alles. Er ist der wahre Gründer des Christentums. (...) Dabei versetzte er die Religion Jesu, so wie er sie missverstand, auf heidnisches Territorium und bewirkte, ohne es wirklich zu wollen, die andauernde Trennung von Kirche und Israel. (...) Er war gewiss eine wahrhaft große Gestalt im Christentum, ja ihr Gründer. Aber die bis heute vertretene Auffassung, seine Briefe enthielten Gottes Wort, ist ein trauriger Verrat an der Vernunft und eine Flucht vor dem Leben.“19
Dr. Guido Baltes
Guido Baltes ist evangelischer Theologe und Pfarrer und lebt mit seiner Frau Steffi in Marburg. Er arbeitet als Dozent für Neues Testament am MBS Bibelseminar und ist Lehrbeauftragter für Neues Testament an der Philipps-Universität Marburg.