Beim Thema Berufung geht es nicht um eine einmalige Kursbestimmung für das eigene Lebensschiff, sondern die Berufung muss immer wieder neu reflektiert, eingestellt und bestimmt werden – davon ist Autor Tobias Faix überzeugt. Sein Logbuch gibt dem Leser für diesen spannenden Prozess praktische Navigationshilfen an die Hand. Das ist auch deshalb so wichtig, weil die Frage, wie man Perspektiven für ein gelingendes Leben entwickeln kann, oft eng mit der eigenen Berufung zusammenhängt. Viele Menschen verpassen einen wichtigen Teil ihres Lebens, weil sie auf ihre besondere Berufung warten und nicht erkennen, was bereits in ihnen angelegt ist.
Ausgehend von der eigenen Biografie und den persönlichen Erlebnissen mit Gott wird das Thema Berufung in diesem Buch mit vielen Geschichten, Beispielen und vertiefenden Übungen lebensnah und kurzweilig aufgenommen.
€ 9,95
Preise inkl. MwSt., keine Versandkosten innerhalb Deutschlands ab € 10,00.
€ 0,00 inkl. MwSt.
1. Berufung als roter Faden in der eigenen Lebensreise
Jeder bleibe in seiner Berufung. Paulus IN 1. KORINTHER 7,20
Dieser Weg wird kein leichter sein, Dieser Weg wird steinig und schwer. Nicht mit vielen wirst Du Dir einig sein, Doch dieses Leben bietet so viel mehr.
Xavier Naidoo
Das Leben wurde in der Literatur schon oftmals als Reise beschrieben, beispielsweise von Mark Twain in Huckleberry Finn, von Homer in seiner Odyssee oder von Herman Hesse in Sid-
dhartha. Und auch von Christen wird die Metapher der Reise oft verwendet, denken wir nur an Die Pilgerreise von John Bunyan. Dafür gibt es gute Gründe, denn schon die ersten Christen wurden als „die auf dem Weg sind“ bezeichnet (Apostelgeschichte 27). Und dieser Weg ist voller Höhen und Tiefen und manchmal steinig und schwer. Und mitten auf diesem Weg suchen wir unsere Berufung. Wenn wir über Berufung reden, dann meinen wir etwas, das mit unserem Lebensweg zu tun hat, ihn beeinflusst und begleitet. Aber manchmal kommt es vor, dass unser Leben aus den Fugen gerät, dass es schwankt zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Doch das geht nicht nur uns so. In Lukas 24,13-35 wird von zwei Männern berichtet, die alles auf eine Karte gesetzt hatten. Und dann war auf einmal alles aus. Jesus, dem sie vertraut hatten, dem sie nachgefolgt waren, der sie berufen hatte, war plötzlich tot. Der Bericht aus Lukas 24 zeigt einen Weg auf, der von Verzweiflung über Hoffnung bis zum Leben führt. Aber bis dahin ist noch einiges an Wegstrecke zurückzulegen:
Es waren zwei Jünger. Der eine hieß Kleopas, er gehörte zum Verwandtschaftskreis von Jesus. Der Name des anderen wird nicht erwähnt. Vielleicht steht er für dich und deinen Weg, den du noch zu gehen hast. Die beiden waren auf dem Weg nach Hause. Nach dem Motto „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ hatten sie lange ausgehalten, aber jetzt, am dritten Tag, hatten sie kein Fünkchen Hoffnung mehr. Noch immer konnten sie es nicht fassen. Erregt diskutierten sie über die letzten Tage. Da gesellte sich ein Fremder zu ihnen, der anscheinend keine Ahnung davon hatte, was sich in den letzten Tagen ereignet hatte. Die zwei Jünger gingen mit ihm, erzählten ihm, was passiert war. Und dann steht da ein seltsamer Satz in dieser Geschichte: „Aber sie erkannten ihn nicht; sie waren wie mit Blindheit geschlagen.“ Sie konnten Jesus gar nicht erkennen, da ihnen jemand die Augen zuhielt. Wie man sich das im Einzelnen vorzustellen hat, das wissen wir nicht. Nur eines ist klar: Da war die Hoffnung neben ihnen und sie konnten sie nicht erkennen.
Diese Situation der Jünger ist auch ein Bild für uns: Mitten in den größten Krisen unseres Lebens sind wir oft blind für Jesus, für das, was er will, vielleicht auch für die Berufung, die wir nicht erkennen können. Und wir sind dann wie die beiden in der Geschichte so mit uns selbst, unserer Trauer, unserem Scheitern beschäftigt, dass wir den Hoffnungsschimmer am Horizont gar nicht wahrnehmen. Aber Jesus geht mit den beiden. Er gibt sich ihnen zunächst nicht zu erkennen, sondern ist einfach mit ihnen zusammen unterwegs. Das Leben ist manchmal mehr als Worte. Jesus ist da, auch wenn wir ihn nicht erkennen. Wenn wir ihn nicht verstehen. Ein interessantes Bild.
Es gibt Situationen, da scheint die eigene Berufung aus dem Leben „zu fallen“. Alles schien zunächst so klar, und dann spielt das Leben nicht mit. Ich glaube, dass das Bild, das die beiden Jünger abgeben, für unser Thema sehr wichtig ist. Verwirrt zu sein, die Hoffnung aufgegeben zu haben, gehört zum Leben und auch zur Frage nach unserer Berufung. Eine Berufung muss sich sozusagen im Leben bewähren, muss geprüft werden. Diese Situationen zu ertragen ist nicht leicht, es sind aber sogenannte Knotenpunkte im Leben. Da staut sich etwas an, da geht scheinbar nichts weiter, da gibt es nur Trauer, Wut und Resignation. Aber oftmals sind diese Knotenpunkte auch Wachstumspunkte. Solange wir mitten in dieser Situation stecken, können wir das nicht erkennen, aber später im Rückblick sehr wohl.
Knotenpunkte sind Wachstumspunkte
Es ist wie bei manchen Gräsern oder dem Bambus. Sie wachsen sehr schnell, dann geht scheinbar nichts mehr weiter und es bildet sich ein Knotenpunkt, bevor dann plötzlich der nächste Wachstumsschub kommt. Diese Knotenpunkte sind enorm wichtig, denn sie geben dem Bambus seine Stabilität im „Sturm des Lebens“.
Perspektivwechsel zum Leben
Zwölf Kilometer weit ist der Weg, den die zwei Jünger zurückzulegen haben. Zunächst berichteten sie dem Unbekannten von dem, was passiert war. Und dann erklärte er ihnen, was eigentlich passiert war. Zweimal dieselbe Geschichte, aber aus ganz unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Das führte zur Wende. Bei den Jüngern fing das Herz wieder an zu brennen, sie luden Jesus zu sich ein, sie aßen miteinander und erkannten ihn. Ihn, ihren Herrn, Jesus. Aber bevor sie noch jubeln konnten, war Jesus auch schon weg. Was für ein Wechselbad der Gefühle. Aber es fand eine Veränderung in ihnen statt, sie wussten erst gar nicht so genau, wie und was da vor sich ging. Eine Kraft, die wie ein Feuer in ihnen brannte. Sie spürten etwas von der Auferstehungskraft Christi, die auch uns in unserem Alltag nach „oben“ ziehen will. Das ist Hoffnung, auch wenn uns die Schwerkraft unseres Alltags immer wieder nach „unten“ zieht. Hier siegt das Leben. Eben glaubten sie noch, sie hätten ihre Berufung verloren, kurze Zeit später jagten sie ihr schon wieder nach. Das Feuer der Berufung brannte wieder: „Brannte es nicht wie ein Feuer in unserem Herzen, als er unterwegs mit uns sprach und uns den Sinn der Heiligen Schriften aufschloss?“ Das ist bis heute so: Die Begegnung mit Jesus gibt uns neue Kraft, plötzlich fängt das schon erloschene Feuer der Berufung wieder an zu brennen. Die Hoffnung kommt, sie siegt, das Leben beginnt wieder.
Berufung als roter Faden im Leben
Solche Situationen gehören zum Leben, ja sind sogar wichtig für das eigene Wachstums- und Entwicklungspotenzial, auch wenn sich in der Situation selbst manchmal die Frage stellt, ob es einen roten Faden im Leben gibt oder nur ein wirres Knäuel an Erfahrungen. Die eigene Berufung begleitet uns auf unserer Lebensreise, sie verändert sich, ist an manchen Stellen klarer zu sehen und manchmal scheint sie ganz zu verschwinden, aber im Rückblick ist sie oftmals als roter Faden erkennbar, der sich durch unser Leben zieht.
1.1 Die Grundfragen des Lebens in unserer eigenen Geschichte
Die Wissenschaft ist bedeutungslos, weil sie uns keine Antwort auf unsere Frage gibt, die für uns wichtig ist, nämlich, was sollen wir tun und wie sollen wir leben. Leo Tolstoi
Wenn wir über das Thema Berufung nachdenken, dann tun wir dies in dem Wissen, dass schon Millionen von Menschen vor uns dasselbe getan haben. Auch wenn die Menschen in jeder Epoche der Geschichte dieses Thema unterschiedlich angegangen sind, gibt es doch eine große Linie an grundsätzlichen Fragen, die die Menschheit begleiten. Für alle Menschen in allen Zeiten gelten drei Lebensfragen, die sie beschäftigen und auf die sie eine Antwort suchen:
Wer bin ich?
Wozu bin ich auf dieser Welt?
Aus welcher Quelle schöpfe ich (meine Kraft zum Leben)?
Diese drei Fragen können in diesem Buch nicht ausführlich behandelt werden, aber da sie eng mit der Frage der Berufung zusammenhängen, möchte ich sie zumindest kurz anreißen:
Vor einigen Jahren schrieb der deutsche „Volksphilosoph“ Richard David Precht den überaus lesenswerten Bestseller Wer bin ich – und wenn ja wie viele? Seine philosophische und psychologische Betrachtung des Lebens hat viele Menschen angesprochen, weshalb das Buch mittlerweile in der 24. Auflage erschienen ist. In seinem Buch macht der Autor viele interessante Beobachtungen, aber meines Erachtens fehlt eine entscheidende, die er in seinen Betrachtungen unerwähnt lässt: Der Mensch ist Ebenbild Gottes (1. Mose 1,26). Der theologische Ausdruck dafür ist „imago Dei“ und beschreibt eine zentrale Bedeutung unseres Lebens: Der Mensch ist nach der Wesensart Gottes geschaffen und deshalb spiegelt sich Gott selbst in jedem Menschen wider! Das bedeutet, dass jeder Mensch eine göttliche Würde besitzt, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Religion, Milieu oder sexueller Ausrichtung. Alle Menschen sind von Gott geliebt und durch die Schöpfung Teil seines Wesens. Auch wenn wir täglich sehen, dass der Mensch durch den Sündenfall strukturell tief in das Böse verstrickt ist, bleibt er doch Gottes Geschöpf, geliebt und gewollt. Dadurch sind zwar nicht alle Lebens- und Identitätsfragen beantwortet, aber die Tatsache, ein Geschöpf Gottes zu sein, stellt für mich eine Art Nährboden dar, der mir Sicherheit und Zuversicht gibt. Dies lässt mich wissen, dass ich nicht aus Zufall auf der Erde gelandet, dass ich nicht wertlos bin, sondern gewollt und dass dieser Gott grundsätzlich Ja zu mir sagt und einen Plan für mein Leben hat. Dazu hat Gott jedem unterschiedliche Gaben gegeben, die man zur Erfüllung seines Plans einsetzen kann. Dies führt uns gleich zur nächsten Frage:
Wozu bin ich auf dieser Welt? Sören Kierkegaard merkte zur Ebenbildlichkeit Gottes an, dass diese dem Menschen Freiheit und Würde gibt, sodass er eigene Entscheidungen treffen und so die Welt gestalten kann. Dies ist wie eine grundsätzliche Berufung, die Gott über allen Menschen ausspricht. Sie leben und gestalten das Miteinander auf der Welt zu seiner Ehre. Der Apostel Petrus beschreibt dies folgendermaßen: „Gott hat uns berufen zu seiner Herrlichkeit“ (2. Petrus 1,2). In Gottes Herrlichkeit geht es nicht um Perfektion, sondern um Beziehungen: zu Gott, zu mir selbst, zu den Menschen um mich herum und zur Natur (Matthäus 22,37). Die grundsätzliche Aufgabe für uns Menschen besteht darin, dass wir in diesen vier Beziehungsebenen leben und sie gestalten. Dabei werden und dürfen wir Fehler machen, aber Gottes Liebe und Vergebung möchten uns helfen, diese vier Beziehungsebenen zu gestalten und immer wieder herzustellen. Wenn ich in diesen Beziehungen meinen Platz, meine Heimat finde, dann bin ich auf dem besten Weg, meine eigene Berufung zu finden.
Aus welcher Quelle schöpfe ich (meine Kraft zum Leben)? Bisher wurde schon klar, dass mir persönlich die Beziehung zu Gott wichtig ist und dass diese in alle Bereiche meines Lebens hineinspielt. Dies hat mit meinem Glauben zu tun und auch mit den Erfahrungen, die ich schon mit Gott gemacht habe. Diese Erfahrungen haben mir gezeigt, dass dieser Schöpfergott genau weiß, was für mich gut ist, wo meine Grenzen sind und was ich zum Leben brauche. Keine Frage, manchmal bin ich mir nicht so sicher, ob ich meine Kraft zum Leben aus Gott schöpfe, aus mir selbst und meinen eigenen Gedanken oder einfach nur aus einer bestimmten Situation. Aber im Laufe der Zeit habe ich gelernt, dies immer mehr zu unterscheiden. Manchmal, wenn ich zurückblicke, verändert sich mein Blick auf eine bestimmte Situation oder Entscheidung auch und ich merke, dass ich mich getäuscht habe. Aber das ist o. k., denn es geht ja nicht um Perfektion. Ich bin nicht der Erste und nicht der Einzige, der sich diese Frage stellt, sondern ich stehe in einer langen Tradition, ja in einer größeren Geschichte, die Gott mit der Menschheit schreibt und in die ich meine eigene Lebensgeschichte einordnen kann. Ein Vorbild ist da für mich der protestantische Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, der sagt, dass er gerade im Widerstand gegen den Nationalsozialismus seine Kraft von Gott bekommen habe. Selbst im Gefängnis und trotz aller Zweifel und aller Demütigung habe er aus der Kraft Gottes geschöpft. Dies bewundere ich sehr.
Bonhoeffer hat selbst in schwierigsten Zeiten immer dankbar den Blick zu Gott gehalten und hat bei allen Zweifeln und Widrigkeiten des Lebens an seiner Berufung dankbar festgehalten. Dies war sein wahrer Reichtum, wie er selbst sagt, und darum soll es im folgenden Punkt gehen.
1.2 Kultur der Dankbarkeit als Nährboden meiner Berufung
Im normalen Leben wird einem oft gar nicht bewusst, dass der Mensch überhaupt unendlich mehr empfängt, als er gibt, und dass Dankbarkeit das Leben erst reich macht. Dietrich Bonhoeffer
Nicht die Glücklichen sind dankbar. Es sind die Dankbaren, die glücklich sind. Sir Francis Bacon
Vor einiger Zeit war ich zu Vorlesungen an unserer Partneruniversität in Südafrika eingeladen. Meine erste Vorlesung verlief zufriedenstellend und ich ging einigermaßen beglückt zum Mittagessen. Dort saß ich neben Manala. Manala kommt aus dem Kongo und ist dort seit vier Jahren Pastor. Nicht ganz freiwillig, wie er berichtete, da allein in seinem Gemeindeverband Tausende Pastoren fehlen. Also wurde er kurzerhand von der Gemeinde zum Pastor berufen. Diese Berufung kam etwas plötzlich, aber Manala erzählte mir, dass er sie mit klopfendem Herzen angenommen habe, da er weder zum Pastor ausgebildet war, noch sich selbst als einer sah. Eine Berufung, die sein ganzes Leben veränderte. Nun studierte er nebenbei im Fernstudium Theologie und hatte einmal im Jahr die Möglichkeit, an die Universität und somit auch in eine Bibliothek zu kommen. Hier konnte er alle Bücher kopieren, die er für das gesamte nächste Studienjahr brauchen würde. Manala erzählte mir das mit einer solchen Begeisterung, als hätte er gerade im Lotto gewonnen. Ich wurde während des Gesprächs immer stiller, während Manala von seiner wachsenden Gemeinde, seiner Frau und den sieben Kindern erzählte. Schließlich sagte ich gar nichts mehr und Tumelo mischte sich in unser Gespräch ein. Er erzählte voller Stolz, dass er seit einem Jahr Theologie studiere. Damit habe sich für ihn, den 71-Jährigen, ein Lebenstraum erfüllt.
Ein paar Tage später war mein Aufenthalt in Pretoria beendet, aber die Eindrücke der Reise blieben. Zum einen wurde mir klar, dass einem manchmal eine Berufung zugesprochen wird (egal, ob man diese annimmt oder nicht) und dass man in seine Berufung auch hineinwachsen kann. Zum anderen dachte ich an Paulus, der den Korinthern schrieb: „Kommt nicht alles, was du hast, von Gott? Wie kannst du damit angeben, als hättest du es von dir selbst?“ (1Kor 4,7). Ich habe viel, vielleicht sogar zu viel, und bin doch oftmals undankbar, und das Gift des „Haben-Wollens“ kriecht durch meinen Kopf und vergiftet mich. Alles, was ich bin und habe, kommt von Gott und gehört ihm auch. Ich verwalte es nur und kann es durch Teilen sogar vermehren. Dieser Glaube verändert meinen Blick auf mein Leben. Die Begegnung mit Manala und Tumelo hat einiges in mir bewirkt. Nicht, dass ich nun mein ganzes Leben umgekrempelt hätte, aber meine Einstellung zu dem, was ich alles habe und nutze, begann sich zu verändern. Dafür bin ich dankbar. Und ich glaube, dass diese Dankbarkeit auch mit meiner Berufung zusammenhängt. Manchmal habe ich nämlich vor lauter Unzufriedenheit meine eigene Berufung gar nicht mehr gesehen. Ich will mich von diesem schleichenden Gift nicht mehr lähmen lassen, sondern die Dankbarkeit zu einer Grundhaltung meines Lebens machen. Ich weiß, dass dies ein Prozess ist und ich immer wieder zum „defizitären Blick“ neigen werde, aber ich weiß, dass ich auf dem Weg bin. Manchmal muss ich mich bewusst für die Dankbarkeit entscheiden, denn Danken hängt eng mit Denken zusammen.
Danken hängt mit Denken zusammen
Danken und denken sind in der deutschen Sprache sehr eng miteinander verwandt. Sie klingen nicht nur ganz ähnlich, sondern stammen aus derselben Wortfamilie und stehen in der Wirklichkeit unseres Lebens oft näher zusammen, als es uns selbst bewusst ist. Das Denken kann das Danken leiten. Um eine Grundhaltung des Dankes zu bekommen, muss es eingeübt werden. Das Gute im Leben nicht nur empfangen oder es gar für selbstverständlich halten, das fängt im Denken und Reflektieren über die eigene Situation an. Es geht darum, nicht nur haben zu wollen, sondern weiterzugeben, zu teilen.
In Israel gibt es zwei große Gewässer, den See Genezareth und das Tote Meer. Der Hauptunterschied ist, dass der See Genezareth einen Zu- und einen Abfluss hat, während das Tote Meer zwar das Wasser des Jordans aufnimmt, es aber nicht abgibt. So wird das Tote Meer zu einem Sammelbecken ohne Abfluss, das allmählich versalzt und in dessen Umgebung alles Leben stirbt. Ich denke, dass es mit unserem Leben manchmal ähnlich ist: Ohne den Dank fehlt uns der Abfluss, wird unser Leben einseitig, salzig und bitter, sodass vieles langsam abstirbt, auch unsere eigene Berufung. Der amerikanische Schriftsteller Os Guinness hat dies einmal treffend formuliert, als er schrieb: „Das Problem mit den Christen in der westlichen Welt ist nicht, dass sie nicht dort sind, wo sie sein sollen, sondern vielmehr, dass sie nicht da, wo sie sind, das sind, was sie sein sollten.“ Undankbarkeit gegenüber Gott und unseren Mitmenschen verhindert, dass wir das sind, was wir sein sollen, und lässt uns und unsere Berufung langsam absterben. Vom Denken ins Danken zu kommen, ist also eine Aufgabe, die gar nicht so einfach ist, die aber meine Einstellung zum Leben verändern kann. Es geht meines Erachtens im Leben nämlich nicht nur um Erfolg.
1.3 Der Unterschied zwischen einem gelingenden und einem erfolgreichen Leben
Die Frage nach der eigenen Berufung führt meines Erachtens nicht zwangsläufig zu einem erfolgreicheren Leben. Auch wenn uns die Konsumgesellschaft immer wieder einflüstert, dass wir „better, faster, bigger, more“ werden müssen. Nein, beim Thema Berufung geht es um ein gelingendes Leben.
Erfolg misst sich immer an anderen. Wer erfolgreich ist, ist besser als andere, überflügelt sie und grenzt sich somit immer weiter ab. Dies führt zu einem ständigen Vergleichen, einem Wettbewerb, der der eigenen Berufung oftmals im Wege steht, da man seine Kraft und seine Zeit diesem Wettbewerb widmet und nicht der Frage, ob man in seiner Berufung auch tatsächlich lebt.
Ein gelingendes Leben steht im Einklang mit dem, was man selbst ist und werden kann und was Gott in einen hineingelegt hat, was seine Pläne für das eigene Leben sind. Wenn ich das weiß und innere Sicherheit und Balance für das eigene Leben finde, dann geht es nicht mehr in erster Linie um den Vergleich und den Erfolg, weil diese Maßstäbe plötzlich zweitrangig werden. Ein gelingendes Leben möchte die unterschiedlichen guten und herausfordernden Dinge des Lebens integrieren. Dies ist für die Frage der Berufung sehr wichtig und wird uns in diesem Buch auch wiederholt beschäftigen. Es geht oftmals nicht darum, gegen bestimmte negative Eigenschaften, Ereignisse oder Situationen anzukämpfen, um besser und erfolgreicher zu werden, sondern darum, sie ins eigene Leben zu integrieren. Ich möchte gar nicht behaupten, dass ein gelingendes Leben nicht auch erfolgreich sein kann. Dies ist durchaus möglich, aber es passiert nebenbei. Das Streben nach Erfolg ist nicht die Antriebsfeder. So viele Menschen ordnen ihr ganzes Leben dem eigenen Erfolg unter und merken gar nicht, dass sie an ihrer eigentlichen Berufung vorbeileben. Dazu kommt, dass auch die Gesellschaft uns von allen Seiten zuruft, es gehe um den eigenen Erfolg und jeder müsse sich um sich selbst kümmern, wenn er oder sie nicht zu kurz kommen wolle. Sich die innere Freiheit zu nehmen, um sich von den äußeren Umständen nicht gefangen nehmen zu lassen, ist für mich eine permanente Herausforderung. Ich stecke da mitten drin und merke, wie schwer mir das immer wieder fällt.
Der Geigenbauer Martin Schleske schreibt in seinem Buch Der Klang davon, wie die wunderbaren Klangfarben einer Geige entstehen. Neben der Fähigkeit, das Instrument virtuos zu spielen, kommt es sehr darauf an, wie die Geige gebaut wurde. Um einen perfekten Klang zu bekommen, braucht es dabei den richtigen Resonanzkörper, der aus verschiedenen Wechselspielen besteht, nämlich die eigentlichen gegensätzlichen Kräfte von Spannung und Bewegung. Das Wechselspiel der beide Gegensätze bildt die Resonanzen in der Geige, was dann die wunderbare Klangfarbe erzeugt. Martin Schleske überträgt dieses Bild auf unser menschliches Leben und unsere Hoffnung auf ein gelingendes und erfülltes Leben. Nicht der Erfolg und das Streben danach bringt unser Leben zum Klingen, sondern die Gegensätze, die unser Leben oftmals ausmachen. Dazu gehören auch Niederlagen, Stillstand und die Frage, für wen ich eine Erfüllung sein kann. So schreibt er:
„Wer ein erfülltes Leben sucht, hat keine andere Wahl, als zu fragen, was sich durch ihn erfüllen soll. Das ist wohl das Wesen des Glücks und entspricht darin der Arbeitsweise des Geigenbauers im Umgang mit dem Holz. Der Klang des Lebens wird im Faserverlauf des menschlichen Herzens erfüllt – und nicht daran vorbei.“
Ich merke, dass es sich lohnt zu unterscheiden, ob ich auf ein erfolgreiches oder gelingendes Leben setzen möchte. Und ich möchte lernen, das umzusetzen, bevor ich zu viel Zeit und Kraft für etwas Falsches eingesetzt habe. Sonst könnte es mir gehen wie denjenigen, von denen der Schriftsteller und Forscher Joseph Campbell einmal treffend schrieb:
„Während unserer ersten 35 oder 40 Lebensjahre haben wir uns bemüht, eine lange Treppe hinaufzusteigen, um den ersten Stock eines Gebäudes zu erreichen. Sind wir endlich unter dem Dach, stellen wir fest, dass wir uns im Gebäude geirrt haben.“
Die Suche nach der eigenen Berufung für ein gelingendes Leben möchte uns dabei helfen, im richtigen Gebäude die Treppe des Lebens zu erklimmen. Dabei werden uns ganz unterschiedliche Fragen beschäftigen. Einige grundlegende haben wir schon angerissen, weiteren werden wir auf dem Weg zur eigenen Berufung noch begegnen, wie zum Beispiel der Frage: Bin ich bereit, mich auf Veränderungen einzulassen? Wenn ich nämlich festgestellt habe, dass ich im „falschen Haus“ bin, muss ich die Treppe wieder runtergehen und ins andere, richtige Haus wechseln. Das ist oftmals ein schmerzhafter Prozess, weil man zugeben muss, dass man bisher in die falsche Richtung gelaufen ist.
Die Frage nach einem gelingenden Leben ist auch die Frage nach der Perspektive meines Lebens. Wenn ich nur auf den momentanen Erfolg schaue, mag dies für den Augenblick zwar in Ordnung sein, aber ob es den Lebenssinn trifft, bleibt zumindest fraglich. Das Beispiel des Apfelbaums hat mir das gut vor Augen geführt. Wenn man nur auf die erfolgreiche Ernte im Herbst schaut, mag das richtig und von Erfolg gekrönt sein. Aber der Sinn von Apfelbäumen ist nicht nur, dass Äpfel daran wachsen, sondern dass neue Apfelbäume entstehen! Damit dies gelingt, muss ein Teil der Ernte wieder neu eingepflanzt werden. Ein gelingendes Leben schaut nicht auf den kurzfristigen Erfolg, sondern sucht nach dem grundsätzlichen Sinn des Lebens.
Was verstehe ich unter
einem gelingenden Leben?
„Bei der Frage nach der Berufung geht es um ein gelingendes Leben, nicht um ein erfolgreiches!“
Was gehört für mich zu einem gelingenden Leben?
Die eigenen Emotionen spüren
Im Leben geht es immer wieder auf und ab und die eigenen Emotionen sind ein guter Gradmesser dafür, wie man bestimmte Situationen einschätzt. Dabei geht es jetzt nicht um ganz kleine, sondern um größere, vielleicht auch wiederkehrende Situationen im eigenen Leben.
Habe ich das Gefühl, dass mein Leben in die richtige Richtung geht?
Die „heilige Unzufriedenheit“ entdecken (Was frustriert mich in meinem Leben?)
Die „heilige Zufriedenheit“ entdecken (Was spornt mich in meinem Leben an, was motiviert mich?)
Dr. Tobias Faix
Dr. Tobias Faix lebt mit seiner Frau Christine und seinen zwei Töchtern in Marburg. Er studierte in Deutschland, Amerika und Südafrika Theologie und arbeitet als Professor für Praktische Theologie an der CVJM-Hochschule in Kassel. Er ist Autor mehrerer Bücher zu den Themenbereichen Jugend, Gemeinde und Gesellschaft.