1. Die Entscheidung
Als ich aufwachte, umfing mich der frische Geruch eines morgendlichen Sommerregens, der gleichmäßig gegen die Scheibe meines leicht geöffneten Schlafzimmerfensters trommelte. Da es noch still in der Wohnung war, nahm ich an, dass Laura, mit der ich die Wohnung teilte, noch schlief. Obwohl ich noch gar nicht richtig wach war, merkte ich doch, dass die Bettdecke in meinen zusammengeballten Fäusten zerknüllt war. Mein ganzer Körper war verspannt, und ich fühlte mich so erschöpft, als ob ich keine volle acht Stunden geschlafen hätte.
Ich atmete tief durch, um die Verspannungen etwas zu lösen.
In dem Augenblick, in dem ich richtig wach wurde, wusste ich, was für ein Tag heute war: Dienstag, 1. Juli. Um neun Uhr hatte ich meinen Termin in der Klinik. Während ich mich auf einem Ellbogen aufrichtete, dachte ich: Ich kann immer noch absagen. Und dann: Nein, ich muss es hinter mich bringen.
Ich schlug die Decke zurück und setzte meine Füße mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Taub. Empfindungslos. Seitdem der Termin feststand, hatte ich mir keinerlei Gefühle mehr erlaubt. Diese Empfindungslosigkeit ist gut, Susan, sagte ich mir, während ich nach meinem rosafarbenen Morgenrock griff. Nur so kommst du da durch.
Ich stand auf und ging ins Badezimmer, um mich zu duschen. Frühstücken stand nicht zur Diskussion. Ich hörte, wie draußen vor der Wohnung ein Wagen angelassen wurde – wahrscheinlich einer meiner Nachbarn, der versuchte, den morgendlichen Berufsverkehr in die Stadt hinein zu vermeiden. Ich schaute durch die Regenschlieren des Badezimmerfensters nach draußen. Warum musste es an diesem Tag auch noch trübe und kalt sein? Der Himmel sah wie harter, nasser grauer Beton aus, und ich wusste, dass es wieder einmal einer dieser Tage war, an dem es von morgens bis abends regnet.
Normalerweise hätte ich hastig meine Unterlagen zusammengesucht, schnell etwas Make-up aufgetragen und wäre dann zu meiner morgendlichen Psychologievorlesung geeilt, die ich an der nahe gelegenen Universität abhielt. Dort hatte ich im Frühjahr jenes Jahres, 1975, promoviert und das Glück gehabt, sofort eine Stelle an der Universität zu bekommen.
Von „Glück“ würde Frank allerdings nicht sprechen, sagte ich mir, als ich aus der Dusche stieg. Er hatte die meisten Probleme in unserer Ehe auf meine Promotion geschoben, auf meinen Versuch, eine sinnvolle berufliche Laufbahn einzuschlagen, auf „diesen ganzen Emanzipationskram“ – auf alles andere, nur nicht auf die wirklichen Risse, die unsere Ehe mürbe gemacht hatten. Noch vor wenigen Monaten war ich fest davon überzeugt gewesen, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab, ihn dazu zu bringen, mir zuzuhören, meine Bitten anzuhören – indem ich ihn damit schockierte, dass ich zeitweilig auszog.
Wenn es nur geklappt hätte! Wenn das nur die ganze Wahrheit wäre. Während ich mich anzog und versuchte, meinem schulterlangen, dunklen Haar einen Anflug von Ordentlichkeit zu verleihen, musste ich mir ehrlicherweise gestehen, dass meine Entscheidung nicht klug gewesen war. Ich starrte auf die bleiche Haut meines Spiegelbildes, die dem hellen, zarten Teint meiner englischen Großmutter so ähnlich war und durch die meine dunklen, müden Augen eingefallen wirkten. Ich war emotional zu verletzlich geworden und hatte viel zu viel Zeit damit vergeudet, in Frank den hartherzigen schwarzen Ritter zu sehen. Und doch – wie sehr liebte ich Frank immer noch, und wie sehr wünschte ich, dass unsere Ehe wieder in Ordnung käme!
Wenn das stimmt, warum hast du dann ...? Ich schloss die Augen und hielt mich am Waschbecken fest. Ich war kaum in der Lage, mir selbst ins Gesicht zu sehen, geschweige denn, diesem Gedanken standzuhalten. Ich war aus guter Familie, betrachtete mich selbst als intelligent und wohlerzogen. Ich kämpfte meine tiefe Selbstverachtung nieder.
Ich verließ das Badezimmer, nahm meinen Regenschirm aus dem Flurschrank und trat dann hinaus in den gleichmäßig fallenden Regen. Während ich ins Auto stieg, setzte ich meinen inneren Dialog fort, in dem ich so kühl und sachlich sprach, wie es sich für die professionelle Beraterin, die ausgebildete Psychologiedozentin, die ich inzwischen geworden war, gehörte. Doch der Autoschlüssel zitterte so sehr in meiner Hand, dass ich ihn kaum ins Zündschloss bekam. Trotzdem schaffte ich es irgendwie, den Wagen anzulassen, atmete noch ein paarmal tief durch und fuhr vom Parkplatz.
Beim Fahren setzte ich meine innere Moralpredigt fort. Ich hielt mir vor, dass ich dieses Chaos meinen eigenen Gefühlen zu verdanken hatte und dass ich nun versuchen musste, der Stimme der Vernunft zu folgen, wenn ich wieder aus dem Schlamassel heraus wollte. Ungeachtet meiner religiösen Erziehung, ungeachtet meiner weiblichen Instinkte schien es nur einen Ausweg zu geben. Und dieser besagte, dass ich den „Eingriff“ hinter mich bringen musste, für den ich mich angemeldet hatte.
Wie ich es schaffte, durch die regennassen Straßen zu fahren, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich das Lenkrad fest umklammert hielt und versuchte, den Aufruhr meiner Gefühle im Zaume zu halten. Es war mein Verstand, der meine Gefühle in der Gewalt hatte: nicht nachgeben. Mein eigener Verstand war zu meinem Feind geworden, der mich anklagte und mir vorhielt, was für eine Närrin ich gewesen war. Nachts lag ich wach und stellte mir die schockierten Gesichter meiner Eltern, meiner Brüder und der Freunde meiner Familie vor – und natürlich Franks Gesicht. Ich wagte nicht, daran zu denken, wie sehr er außer sich sein würde, wenn er erfahren würde, was vorgefallen war. Deshalb vermied ich es lieber, überhaupt darüber nachzudenken.
Im Grunde hatte ich vom ersten Moment an versucht, mein „Problem“ ganz zu ignorieren. Während ich vor einer roten Ampel hielt, dachte ich noch einmal an den Morgen, an dem ich festgestellt hatte, dass meine Brüste schmerzten und leicht vergrößert waren. Ich hatte immer viel Sport getrieben und kannte meinen Körper gut. Aber diese Anzeichen konnte ich einfach nicht akzeptieren – das heißt, jedenfalls so lange nicht, bis die Periode ausblieb. Das war noch nie passiert! Plötzlich befand ich mich in einer völlig verwickelten Lage: Frank und ich hatten uns entfremdet, hatten monatelang nicht zusammengelebt, aber ich wollte dennoch eine Versöhnung. Wie sollte ich diese jetzt herbeiführen? Wie konnte ich zu ihm hingehen und so ganz nebenbei erwähnen, dass ich seit einem Monat schwanger war?
Meine Gedanken verweilten nur flüchtig bei diesem letzten Wort. Das „Ding“ in mir war höchstens ein paar Wochen alt. Ich war katholisch erzogen worden – wie ich mich beschämt erinnerte – und konnte mir dennoch das „Ding“ nicht im Entferntesten als lebendes Wesen vorstellen. In meinem sachlichsten Beratertonfall hatte ich mir daher befohlen, nicht emotional zu werden, eine Klinik anzurufen und die „Ansammlung von Zellen“ entfernen zu lassen.
Ich bog bei der nächsten Ampel links ab und fuhr eine von Bäumen gesäumte Auffahrt hinauf zum Parkplatz der Klinik. Wenn dies ein normaler chirurgischer Eingriff ist – so, als ließe ich mir eine Zyste entfernen –, warum habe ich dann der Sekretärin am Telefon einen falschen Namen angegeben? Von meiner beruflichen Warte aus ermutigte ich meine Klienten immer dazu, selbst die Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Trotzdem war ich nicht fähig gewesen, den Termin auf meinen eigenen Namen, Dr. Susan Stanford, auszumachen. Und warum habe ich so eine panische Angst empfunden, als mir die Sekretärin sagte, dass ich zehn Tage warten müsse, weil vorher kein Termin mehr frei ist?
Diese Stiche schmerzten. Eine Zeit lang musste ich das Denken noch ausschalten – bis alles vorüber war. Ich stellte den Motor ab und starrte auf den Backsteinbau vor mir. Er war modern, sauber, einladend und groß. Ich würde dort nicht auffallen – nur ein Gesicht unter vielen sein. Meine Handflächen waren feucht, und ich kämpfte gegen das Gefühl der Schwäche an, das von meinen Armen und Beinen Besitz ergriff. Da der Regen nachgelassen hatte, ließ ich meinen Schirm im Wagen, als ich ausstieg.
Dann stand ich beklommen an der Anmeldung, während ich darauf wartete, dass die Sekretärin ihr Telefongespräch beendete. Als sie mir einen Blick zuwarf, flüsterte ich: „Mein Name ist Sarah Wagner. Ich habe einen Termin für neun Uhr.“ Ohne zu zögern reichte sie mir einen Stift und eine Schreibunterlage mit einem langen Formblatt und bedeutete mir, es auszufüllen.
Mechanisch kritzelte ich die Antworten in die vorgesehenen Rubriken. Als ich ihr das Formblatt zurückgab, hatte sie ihr Telefongespräch beendet. Sie lächelte mich an und sagte: „Ich will Ihnen nun den Ablauf erklären.“ Zunächst würde ich mit einer Beraterin sprechen. Dann würde ich in den Raum gebracht werden, in dem der Eingriff vorgenommen werden sollte. Der Eingriff. Es entging meiner Aufmerksamkeit nicht, dass auch sie es vermied, genau wie ich selbst, das andere Wort dafür zu benutzen. Anschließend würde ich in einem dafür vorgesehenen Raum ruhen, bis man sicher sei, dass ich alles gut überstanden hatte. Die ganze Angelegenheit würde ungefähr drei oder vier Stunden in Anspruch nehmen. Die Sekretärin führte mich in ein kleines privates Büro zu meiner Beraterin, einer hübschen, ungefähr dreißigjährigen Blondine.
„Ich heiße Julia“, sagte sie herzlich, indem sie mir die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte. „Bitte setzen Sie sich, Sarah. Ich möchte nun den Eingriff mit Ihnen durchsprechen.“
Den Eingriff. Während sie weitersprach, wurde mir etwas leichter ums Herz. Sie hatte eine sanfte Art. Und ich hatte das Gefühl, dass sie weder unerfahren noch abgebrüht oder leichtsinnig sei. Sie schien ehrlich besorgt um mich – Sarah oder wer auch immer ich war. Ich richtete meinen Blick auf ihre dezent geschminkten Lippen und versuchte, die Wogen meiner Gefühle einzudämmen.
Sie begann: „Ich möchte Ihnen dabei helfen, sich über Ihre Gefühle klar zu werden.“
„In Ordnung.“ Mehr brachte ich nicht heraus. Ich merkte, wie mein Kinn zitterte.
„Wie stehen Sie“, fuhr sie fort, und meine Augen wanderten von ihrem Gesicht zum Boden, „zu Ihrer Entscheidung, eine Abtreibung vornehmen zu lassen?“
Ich schluckte. Ich sah meine Hände in meinem Schoß nur noch wie durch einen Schleier. „Ich habe viel nachgedacht ... Ich habe so das Gefühl ... es ist eine Entscheidung von ungefähr achtzig zu hundert.“
„Wie meinen Sie das?“, hakte Julia nach.
Ich öffnete meine Lippen, um zu antworten, aber ich brachte nur ein Schluchzen heraus. Tränen tropften auf meine geballten Fäuste. Ich weinte und weinte und weinte. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich gleich völlig die Kon-trolle über mich verlieren.
Wie aus weiter Ferne drang Julias Stimme durch den Aufruhr meiner Gefühle: „Sarah, ich habe den Eindruck, dass Sie sehr aufgewühlt sind. Vielleicht sollten wir den Eingriff etwas verschieben. Warum gehen Sie nicht nach Hause und denken noch eine Woche darüber nach? Es kommt mir so vor, als ob Ihnen das, was Sie vorhaben, zu viel Schmerz bereitet.“
Ich ballte meine Fäuste noch fester zusammen. Ich hatte mich so sehr auf mein Vorhaben versteift, dass dies der einzige Ausweg für mich war. Ich konnte nicht länger warten, keine Woche, nicht einmal mehr eine Stunde. Unter Aufwendung all meiner Kraft unterdrückte ich noch einmal meine Gefühle und meine weiblichen Instinkte. Der nüchterne Verstand musste die Oberhand gewinnen.
Ich hörte mich antworten: „Nein. Ich werde ihn nicht verschieben. Es ist alles zu kompliziert geworden. Es wird alles einfacher machen, sodass ich mein Leben wieder bewältigen kann. Die Schwangerschaft fortzuführen, ist keine Alternative.“ Damit war’s heraus. Ich hatte mich entschieden. Meine Entscheidung war unumstößlich. Die Gefühle waren wieder unter Kontrolle.
Julia nickte. Ihr Lächeln sagte irgendwie: „Sie sind eine tapfere Frau. Dann wollen wir also anfangen.“
Ich seufzte tief und erhob mich, um ihr in den Behandlungsraum zu folgen. Sie strich mir über den Arm und ließ mich allein. Gleich darauf kam eine Schwester herein und händigte mir ein Krankenhaushemd aus. „Der Arzt kommt gleich.“
Ich zog mir das Hemd über, setzte mich und starrte die Wand an. Die Schwester hatte „gleich“ gesagt. Warum hatte ihre Stimme dabei so kühl, so nüchtern geklungen? Gleich würde alles vorbei sein. Dann konnte ich diesen Tag aus meinem Gedächtnis streichen. Ich konnte weiterleben und versuchen, mich mit Frank auszusöhnen. Das Leben würde wieder seinen normalen Verlauf nehmen.
Aber das Leben würde für lange, lange Zeit keinen normalen Verlauf mehr nehmen. Denn in diesem Raum würde noch mehr sterben als mein Kind. Und meine eigene seelische Kraft würde nicht ausreichen, um dort Leben zu spenden, wo der Tod Einzug gehalten hatte.
Ich würde einer Kraft bedürfen, die weitaus größer war als alles, was ich bisher kennen gelernt hatte.
Ich wartete schweigend und versuchte, an nichts zu denken. Aber es war zwecklos. Vor meinem geistigen Auge flackerten Erinnerungen auf, als ob mein Unbewusstes gegen meinen Willen versuchte, den Sinn hinter all dem zu entdecken, was ich tat: Wie es möglich war, dass ich – die ich nicht nur Abtreibungen verabscheute, sondern auch Heimlichkeiten und Menschen, die ein Doppelleben führten –, wie es nur möglich war, dass ich mich an diesem Ort befand.