Zudem verringert Stress nachweislich die Lebenserwartung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet Stress daher als die größte Gesundheitsgefahr des 21. Jahrhunderts.
Es lohnt sich deshalb, sich intensiv mit diesem wichtigen Thema auseinanderzusetzen, um selbst einen Beitrag für die eigene Gesundheit, aber auch die unserer Mitmenschen zu leisten. Denn es ist nicht nur so, dass uns unsere Mitmenschen stressen können, auch wir können ein Stressor für sie sein.
Aber was genau ist denn nun eigentlich Stress? Der Mediziner und Biochemiker Hans Selye gilt als Vater der Stressforschung. Er hat den Stressbegriff, wie wir ihn heute kennen und verwenden, im Jahr 1936 entscheidend geprägt (Selye, 1936). Selye spricht vom Allgemeinen Anpassungssyndrom und bezeichnete Stress als die unspezifische Reaktion des Körpers auf jede Anforderung. Es ist eine völlig normale, automatisch ablaufende Reaktion. Ohne die Stressreaktion wäre der Mensch vermutlich schon lange ausgestorben, da er sonst nicht auf lebensbedrohliche Gefahren reagiert hätte.
Selye unterscheidet drei Phasen des Stressgeschehens:
Alarmreaktion (wir registrieren Stress)
Widerstandsphase (wir mobilisieren Kräfte zur Bewältigung)
Erschöpfungsphase (wir benötigen Zeit zur Erholung)
Wenn wir im Dschungel umherlaufen und uns ein Tiger begegnet, wäre es fatal, wenn die Stressreaktion nicht einsetzen würde. Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden ganz unbedarft auf den Tiger zugehen, um ihn zu streicheln, da er doch so ein süßes Kätzchen ist. Schlechte Idee! Davor schützt uns die Stressreaktion. Sie ist also eine Art automatisiertes und zuverlässiges Notfallsystem. Wir bewerten den Tiger als Gefahr für unser Wohlbefinden und daher läuft die komplexe Stressreaktion in uns von selbst ab. Sie kann uns das Leben retten, indem sie uns vor Gefahren warnt.
Ob wir etwas als stressig erleben, hängt zum einen von unserer Bewertung ab und zum anderen von unseren (internen und externen) Ressourcen und Kompetenzen, ob uns also entsprechende Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen.
Die Stressforschung unterscheidet zwischen negativem Stress (Disstress) und positivem Stress (Eustress). Wenn Sie bis morgen das komplette Neue Testament auswendig lernen müssten, weil davon ihr Leben abhängen würde, verfielen Sie mit großer Sicherheit in negativen Stress. Wenn morgen aber das erste Date mit Ihrem absoluten Schwarm anstünde, kämen Sie hingegen vermutlich eher unter positiven Stress. Sie freuen sich auf diesen ganz besonderen Tag.
Stress lässt sich zudem in akuten und chronischen Stress unterteilen. Sie ahnen vermutlich, welche der beiden Formen die gefährlichere ist.
Stress ist kein schichtspezifisches Problem, sondern betrifft jeden Menschen, unabhängig von Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Konfession, finanziellem Hintergrund oder sozialem Status. Lassen Sie sich bitte nicht täuschen. Selbst die erfolgreichsten Geschäftsleute, die großartigsten Schauspieler oder charismatischsten Pastoren haben Stress, auch wenn sie sich das auf den ersten Blick vielleicht nicht anmerken lassen oder wir das so nicht wahrnehmen. Vor allem, wenn wir sie nur in einem bestimmten Moment erleben.
Stress gehört zum Leben dazu. Entscheidend ist allerdings, wie wir damit umgehen.
Was stresst uns?
Der Überbegriff für alle Dinge, die uns stressen, lautet Stressoren. Grob vereinfacht lassen diese sich in innere und äußere Stressoren unterteilen. Als äußere Stressoren werden alle Dinge verstanden, die von außen auf uns einwirken. Dazu zählen Umweltreize und Aufgaben sowie Anforderungen, die an uns gestellt werden, z. B. Zeitdruck, Termindruck, soziale Spannungen und Konflikte oder auch Schmerzen. Als innere Stressoren werden verschiedene Eigenschaften und damit verbundene Handlungsweisen verstanden, die dazu führen, dass wir uns das Leben selbst etwas erschweren. Dazu gehören Perfektionismus, krankhafter Ehrgeiz, Einzelkämpfertum, der Wunsch nach Anerkennung, Überfürsorglichkeit, Kontrollzwang, Unsicherheit, Ungeduld, ein geringes Selbstwertgefühl oder Selbstüberforderung. Ebenfalls dazu zählen kann man falsche oder zu hohe Erwartungen und Ansprüche an andere. Oftmals ist es das Zusammenspiel der beiden Faktoren, gepaart mit mangelnden Bewältigungsstrategien, das zu Stress führt. Stressoren lösen also eine Stressreaktion in uns aus.
Gerade in der aktuellen Coronakrise, in der ich dieses Buch schreibe, wird sehr gut deutlich, was uns Stress bereitet: die eigene Gesundheit und die von Familie und Angehörigen, finanzielle Sorgen, unsere Arbeit und Ängste vor der Zukunft: »Wie soll es nur weitergehen?« Des Weiteren können uns Konkurrenzdruck, Mobbing, Kränkungen, Schichtdienst, Schlafmangel, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Einsamkeit, Verlust, Trauer oder unbefriedigte Wünsche unter Stress setzen. Ebenso neue Situationen, an die wir uns gewöhnen bzw. an die wir uns anpassen müssen, vor allem in einer digitalen und schnelllebigen Welt. Wenn man sich die (Arbeits-)Welt in den letzten Jahren ansieht, fallen dabei folgende Begriffe auf: Globalisierung, Individualisierung, Flexibilisierung, Digitalisierung, Mobilität, Arbeitsverdichtung, Zeitdruck, Kostendruck, wirtschaftlicher Druck, Innovationsdruck, Wettbewerbsdruck, Produktivitätssteigerung, steigende Kundenanforderungen, demografischer und politischer Wandel. Die Liste an Stressoren ließe sich noch lange fortführen.
Wir sind manchmal schlicht und einfach überfordert mit dem Leben und den verschiedenen Anforderungen an uns. Alles wird uns zu viel. Aber nicht nur Überforderung kann Stress verursachen, auch Unterforderung kann für uns zu einer Belastung werden. Monotonie und Langeweile können ebenso Stress erzeugen. Wir können dann nichts mehr mit uns selbst oder unserer Umwelt anfangen. Im Extremfall kann man hier von Burn-out (bei Überforderung) und Bore-out (bei Unterforderung) sprechen.
Albert Einstein hat einmal gesagt, dass der Hauptgrund für Stress der tägliche Kontakt mit Idioten sei. In meiner Arbeit mit Menschen in psychischen Krisen würden sehr viele diese Aussage sofort unterstreichen. Mir ist an dieser Stelle immer sehr wichtig zu betonen, dass jeder Mensch eine Geschichte hat und seine Verhaltensweisen nicht von ungefähr kommen. Dies soll keinesfalls eine Entschuldigung für ihr Verhalten oder ihre Taten sein, es erleichtert aber das Verständnis enorm. Sehr viele Menschen hatten es in der Kindheit nicht leicht. Sie hatten keine sichere Bindung oder keine verlässlichen und liebevollen Bezugspersonen, hatten es mit zweifelhaften Erziehungsmethoden zu tun oder wurden Opfer von körperlicher, sexueller oder seelischer Gewalt. Dies prägt einen Menschen und hinterlässt tiefe Spuren. Sie lernen, auf bestimmte Art und Weise zu reagieren. Für sie ist es ein »normales« Verhalten. Das dies möglicherweise völlig destruktiv ist und mit den Erwartungen des Durchschnitts unserer Gesellschaft nicht übereinstimmt, scheint vielen nicht bewusst zu sein und ist dann beispielsweise Thema einer Psychotherapie.
Aber noch einmal zurück zum Zitat von Einstein: Wenn Menschen mit unterschiedlichen Prägungen, Ansichten, Bedürfnissen und Wünschen aufeinandertreffen, sind zwischenmenschliche Konflikte vorprogrammiert. Der Umgang mit Menschen bereitet uns Stress. Wenn wir uns, dieser Maxime folgend, völlig zurückziehen, isolieren und überhaupt keine sozialen Kontakte mehr pflegen, kann das ebenfalls Stress sein. Wichtig erscheint hier die Erkenntnis, dass es völlig normal ist, Stress zu haben, und dass man Stress nicht gleich verteufeln sollte. Es ist äußerst sinnvoll, genauer hinzusehen und in sich hineinzuspüren. Wir müssen lernen, Stressoren zu erkennen, Stresssymptome wahrzunehmen und richtig zu deuten. Dann können wir uns Gedanken über die richtige Strategie im Umgang damit machen und diese anwenden. Dazu müssen wir uns allerdings erst einmal ansehen, wie Stress sich bei uns bemerkbar machen kann.
Wie kann sich Stress äußern?
Die Stressreaktion ist eine Notfallreaktion unseres Körpers. Nimmt unser Organismus eine Situation als Bedrohung für das eigene Wohlbefinden wahr oder bewerten wir eine Situation als stressig, kommt es zur Aktivierung des Sympathikus (Ausschüttung von Cortisol und Adrenalin, Bereitstellung von Energiereserven). Wenn die Stresssituation nachlässt, wird der Parasympathikus aktiviert und wir können uns wieder erholen und regenerieren. Stress ist demnach eine normale, automatisch ablaufende Reaktion auf Stressoren. Bestimmte Verhaltens-/Umgangsweisen in Bezug auf Stress können allerdings erworben sein (Lernen am Modell).
Der Psychologe Richard Lazarus prägte das Transaktionale Stressmodell. Ob Stress entsteht oder eben nicht, hat laut diesem Modell immer mit unserer Wahrnehmung und Bewertung sowie verschiedenen Bewältigungsstrategien zu tun (Lazarus & Folkman, 1984). Bewerten wir eine Situation demnach als stressig oder als Bedrohung für unser körperliches oder seelisches Gleichgewicht, beginnt in unserem Körper die automatisch ablaufende Stressreaktion. Sie soll uns eigentlich zum Schutz vor Gefahren dienen. Bei akutem Stress ist die Hormonausschüttung ein lebenswichtiger Prozess, der uns Hilfestellung bei der Bewältigung der Anforderung gibt. Kommt es zu einer länger anhaltenden Überproduktion, kann sich dies schädlich auf unseren Organismus auswirken.
Stress bedeutet für jeden Menschen etwas anderes. Daher kann er sich bei jedem Menschen in einer anderen Art und Weise äußern und sich auf unterschiedliche Ebenen auswirken: auf unseren Körper ebenso wie auf unsere Psyche, unsere Emotionen und unser Verhalten, welches auch soziale Auswirkungen zeigt.
Am besten veranschaulichen lassen sich die Auswirkungen durch die Betrachtung verschiedener Redensarten, die wir aus dem Alltag kennen. Vermutlich kennen Sie die meisten dieser Redewendungen, es ist allerdings äußerst spannend, diese im Zusammenhang mit den Auswirkungen von Stress auf unseren Körper, unsere Psyche, unsere Emotionen und unser Verhalten zu beleuchten. So wird sehr gut deutlich, dass Körper, Geist und Seele eine Einheit bilden, worauf auch schon die Bibel hindeutet (1. Thessalonicher 5,23; Hebräer 4,12). Leidet ein Teil davon, sind die anderen nicht selten mitbetroffen.
Ich möchte Sie daher nun auf eine kleine Reise durch unseren Körper mitnehmen. Wir starten ganz oben, am Kopf, und arbeiten uns langsam bis zu den Füßen hinunter. Dabei betrachten wir die verschiedenen Symptome, die Stress bei uns Menschen hervorrufen kann.
Vielen Menschen bereitet Stress Kopfzerbrechen, sie zermartern sich das Gehirn. Dies äußert sich dann in Form von Kopfschmerzen, Denkblockaden, Grübelgedanken, Konzentrationsproblemen, Vergesslichkeit, Entscheidungsunfähigkeit oder Schlafstörungen. Stress beeinflusst und verändert unser Gehirn. Besonders gefährlich wird es, wenn wir Dauerstress ausgesetzt sind, wir also keine effektiven Bewältigungsstrategien und ausreichende Erholungsphasen haben. Nicht selten gesellt sich auch Schwindel hinzu. Unsere Nerven sind angespannt und liegen blank. Die winzigsten Kleinigkeiten gehen uns dann bereits extrem auf die Nerven. Manchmal verliert man seine Nerven völlig. Man wird unruhig und nervös, reagiert gereizt oder aggressiv. Wir sind dünnhäutig und fahren aus der Haut. In manchen Situationen kommt uns dabei die Galle hoch, uns platzt der Kragen und wir spritzen Gift und Galle. Wenn sich Dinge zu lange angestaut haben oder wir sie über einen längeren Zeitraum in uns hineingefressen haben, kommt das Fass irgendwann zum Überlaufen, wir können unsere Emotionen, unseren Ärger und unsere Wut nicht mehr länger bändigen und es platzt förmlich aus uns heraus.
Auf der Stirn werden durch den Anstieg der Körpertemperatur zum Hitzeausgleich Schweißperlen sichtbar und wir beginnen am ganzen Körper zu schwitzen. Durch die Erweiterung mancher Blutgefäße bekommen wir einen roten Kopf. Bei Überforderung lassen wir den Kopf hängen oder stecken ihn in den Sand. Wir wirken müde, kraftlos, lustlos, erschöpft oder hilflos, sind resigniert und empfinden manchmal sogar eine innere Leere in uns. Emotionalität und Instabilität kommen zum Vorschein. Traurigkeit wird empfunden, die mit Weinen einhergehen kann. Wir wissen oftmals nicht, wo uns der Kopf steht, wenn wir viel um die Ohren haben. Durch Stress kann ein Tinnitus ausgelöst werden.
In bestimmten Situationen bleibt uns die Spucke weg, wir zeigen die Zähne, beißen auf die Zähne oder gehen auf dem Zahnfleisch. Durch die Hemmung der Verdauung bekommen wir einen trockenen Mund. Uns fehlen in stressigen Situationen manchmal auch die Worte und wir werden handlungsunfähig. Andererseits sind wir aber dann vielleicht bissig oder wütend und versuchen, Widerstand zu leisten oder uns zu wehren. Die auftretende Anspannung macht sich in den Muskeln bemerkbar. Manch einer beginnt mit seinen Zähnen zu knirschen. Wir essen unregelmäßiger und ungesünder, können aber auch von Heißhunger und Fressattacken befallen werden. Durch den vermehrten Konsum von Alkohol, Nikotin und anderen Drogen versuchen wir, den Stress zu kompensieren und zu beseitigen. Auch das Kauen der Fingernägel kann ein Indiz für vorhandenen Stress sein.
Unterforderung kann sich beispielsweise durch Gähnen und Langeweile bemerkbar machen. Vielleicht kennen Sie den berühmten Kloß im Hals, der uns in bestimmten Situationen verstummen lässt, uns das Sprechen und Schlucken erschwert oder uns nach Luft ringen lässt. Der Atem stockt oder wird uns geraubt. Manche Menschen können sich im gestressten Zustand nicht mehr richtig artikulieren oder sie fangen plötzlich an zu stottern. Wenn wir eine Situation als stressig bewerten und womöglich dazu noch Angst im Spiel ist, können uns auch die Haare zu Berge stehen. Zwar ist dies nicht so imposant wie bei einer Katze zu beobachten, die ihren Rücken krümmt, den Schwanz nach oben richtet und die Fellhaare aufstellt, aber an den Haaren im Nacken, an Armen und Beinen kann dies auch beim Menschen beobachtet werden. Wir spüren förmlich, wie uns die Angst im Nacken sitzt. Es lastet etwas schwer auf unseren Schultern und wir haben einiges auf dem Buckel. Neben Verspannungen kommt es häufig zu Rückenschmerzen. Stress schlägt uns auf den Magen oder dreht ihn uns um. Wir bekommen Bauchschmerzen und uns wird übel, bis hin zum Erbrechen. Dinge stoßen uns sauer auf, was sich in Sodbrennen bemerkbar machen kann.
Menschen nehmen sich Dinge zu Herzen. In Angstsituationen rutscht uns das Herz in die Hose. Durch den Schrecken wird unser Puls erhöht, unser Herz beginnt zu rasen – das Herz schlägt uns bis zum Hals. Bei zu viel Stress kann uns auch der Schlag treffen und unser Herz stehen bleiben. In Japan gibt es dafür ein eigenständiges Wort: Karoshi – Tod durch Überarbeitung. Wenn wir im Stress sind, schüttet unser Körper die Neurotransmitter Cortisol, Noradrenalin und Adrenalin aus, bestimmte Blutgefäße werden dadurch verengt, wodurch unser Blutdruck ansteigt. Wenn sich Ablagerungen in den Gefäßen lösen, kann es zum Schlaganfall oder Herzinfarkt kommen. Die Ausschüttung von Endorphinen macht uns dagegen unempfindlicher gegenüber körperlichen Schmerzen.
Nehmen wir eine Situation als bedrohlich für unseren Körper oder unser seelisches Gleichgewicht wahr, stockt uns das Blut in den Adern – es gerinnt schneller. Wir erstarren vor Angst und der Schreck fährt uns in die Glieder. Ebenso sind uns aufgrund des einsetzenden Schocks manchmal die Hände gebunden. Stress lässt uns verkrampfen und wir werden dadurch bewegungsunfähig – die sogenannte Schockstarre.
Stress kann uns zudem an die Nieren gehen. Wir wirken mitgenommen oder aufgeregt. Wir haben Probleme dabei, etwas zu verdauen. Die ausgeschütteten Stresshormone, besonders Cortisol, können die Verdauung hemmen und es kann zu Obstipation (Verstopfung) kommen. Stress kann sich allerdings ebenso in Form von Diarrhoe (Durchfall) bemerkbar machen. Wenn wir gestresst sind, kann uns durch die Anspannung eine Laus über die Leber laufen, Kleinigkeiten bringen uns in Rage und wir sind schlecht drauf.
Wir kennen vermutlich alle das Sprichwort, dass man sich vor Angst in die Hose macht. Stress, in Form von Angst, aber auch Ärger, kann uns auf die Blase schlagen und wir verspüren plötzlich Harndrang oder verlieren sogar Urin (Stressinkontinenz). Die Freisetzung unserer Sexualhormone wird gehemmt und dadurch haben wir kein Lustempfinden.
Die emotionale Erschütterung geht uns letztendlich durch Mark und Bein. Wir bekommen weiche Knie, fangen an zu zittern und die Füße können schwer wie Blei werden, wir stehen da wie angewurzelt. Wir können kalte Füße (und Hände) bekommen und uns unwohl fühlen. Stress wirkt auf den kompletten Organismus, unser Immunsystem wird geschwächt und wir werden anfälliger für Infekte.
Das waren die negativen Seiten der Stressreaktion, die wir wahrnehmen können, wenn wir Stress empfinden. Da Stress aber nicht nur negativ ist, hat die Stressreaktion natürlich auch positive Seiten. Unser Gehirn wird aktiviert, was dazu führt, dass wir plötzlich hellwach und besonders aufmerksam sind. Durch die veränderte Atmung wird unser Körper besser mit Sauerstoff versorgt. Die Durchblutung wird angeregt und Zucker wird zur Versorgung mit Energie bereitgestellt, die wir zur Bewältigung benötigen. Unsere Muskeln sind angespannt und die Reflexneigung ist verbessert.
Auch in der Bibel gibt es viele Geschichten, in denen Menschen ihre Stresssymptome beschreiben. Ein Beispiel gibt uns König David. Er schreibt in Psalm 55: »Mein Herz krampft sich zusammen, Todesangst überfällt mich. Furcht und Zittern haben mich erfasst, und vor Schreck bin ich wie gelähmt« (Psalm 55,5-6).
Wie reagieren wir auf Stress?
Hat unser Gehirn Stress identifiziert, haben wir nach einer anschließenden Bewertung der Situation verschiedene Handlungsmöglichkeiten. Walter B. Cannon, ein US-amerikanischer Physiologe, hat die Reaktion 1929 als Kampf-oder-Flucht-Reaktion (Fight-or-Flight) bezeichnet (Cannon, 1929). Mittlerweile wissen wir, dass es noch weitere F-Strategien gibt, die im Rahmen einer Stressreaktion zum Einsatz kommen können. Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme und meine Frau mich anmeckert: »Wieso hast du heute nicht die Küche aufgeräumt, bevor du zur Arbeit gegangen bist?«, kann ich folgendermaßen reagieren:
1. Ich kann kämpfen (Fight), indem ich ihr entgegne, dass ich so viel zu tun und Wichtigeres im Kopf hatte, als die Küche aufzuräumen.
2. Ich kann flüchten (Flight), mich also sofort umdrehen und so schnell es geht, wieder das Haus verlassen.
3. Ich habe auch die Möglichkeit, mich auf das Sofa zu begeben, dort zu erstarren (Freeze) und so zu tun, als hätte ich ihre Ansage nicht gehört, indem ich nicht antworte.
4. Ich kann mich meiner Frau allerdings auch unterwerfen (Fawn), indem ich ihr sage, wie leid es mir doch tut, dass ich es vergessen habe und es auf alle Fälle wiedergutmachen werde.
Im christlichen Kontext steht allerdings noch eine weitere Möglichkeit zur Verfügung, die nicht mit einem F beginnt. Wir können Gott anrufen, wir können beten (Pray)!
5. Ich kann ein Stoßgebet nach oben schicken: »Bitte Gott, lass endlich ihre Periode einsetzen, damit sie wieder besser drauf ist.«
Die verschiedenen Reaktionen können wir daher »4 F + P« nennen.
Macht Stress krank?
Nach allem, was Sie bisher gelesen haben, ist die Frage, ob Stress krank macht, wohl mit Jein zu beantworten. Stress kann, muss aber nicht krank machen. Ab wann macht Stress denn krank? Manche Menschen haben eine genetische Vorbelastung. Doch selbst dann muss Stress nicht zwangsläufig krank machen. Die Epigenetik setzt sich damit auseinander. Dabei wird untersucht, wie sich bestimmte Umwelteinflüsse (z. B. Stress) in unser Erbgut einbrennen und somit an die nächste Generation weitergegeben werden können. Wenn uns allerdings Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen, muss uns Stress nicht gefährlich werden.
In der Psychiatrie oder Psychotherapie wird als Entstehungsmodell psychischer Störungen häufig das Vulnerabilitäts-Stress-Modell herangezogen (Zubin & Spring, 1977). Vulnerabilität heißt so viel wie Verletzlichkeit oder Anfälligkeit, eine psychische Störung zu bekommen. Haben wir eine erhöhte Vulnerabilität, kann Stress das Fass zum Überlaufen und die Seele aus dem Gleichgewicht bringen. Da man bekanntermaßen nicht jeden Stress vermeiden kann und soll, ist es äußerst wichtig, Umgangsformen mit Stress zu erlernen, damit er nicht krank machend wirkt.
Wir benötigen also effektive Bewältigungsstrategien im Umgang mit Stress. Übersteigen die Anforderungen unsere Bewältigungsstrategien und Handlungsmöglichkeiten, kommt es zu Stress. Häufen sich die stressigen Situationen und übersteigen die Stresssituationen die Erholungsphasen, kann es schädlich für uns werden. Dies geschieht beispielsweise, wenn wir in einer ständigen Alarmbereitschaft sind. Dann wird unser Cortisolspiegel nicht mehr abgebaut und es können verschiedene Erkrankungen hervorgerufen werden.