Im Herzen ist Raum für mehr

Klare Sicht. Ruhige Flugverhältnisse. Nachdem wir eine bestimmte Flughöhe erreicht haben, wird die Wölbung der Erdkugel erkennbar. Das Meer geht nahtlos in den Himmel über. Es ist nicht länger auszumachen, wo das eine beginnt und das andere aufhört. Einmal mehr staune ich über die Wunder der Schöpfung, die ich meist für so selbstverständlich halte, dass mir gar nicht mehr auffällt, wie unglaublich sie im Grunde sind. Und sei es bloß die Tatsache, dass nichts von der Erdkugel fällt, selbst das, was in jenem Moment doch eigentlich »unten« an der Kugel ist. Wie ist es möglich, frage ich mich, dass die Erdanziehung so unglaublich stark ist, dass die Wassermassen rund um den Globus an die Erdkugel gebunden bleiben? Für mich geht dieses Wunder weit über physikalische Erklärungen hinaus.
Der Flug über Millionenstädte wie Rom und Mailand bringt mich ins Grübeln. So viele Menschen. Was bewegt sie? Was wünschen sie sich? Wonach sehnen sie sich? Wenn das Meer und die Berge, die ich sehe, Geschichten erzählen könnten, würden sie Jahrtausende weit zurückreichen … Wie kurz ist im Vergleich dazu ein Menschenleben! Menschen kommen und gehen. Trotzdem gibt es Dinge, die ganze Generationen überleben und Menschen unterschiedlichster Zeiten und Kulturen miteinander verbinden. So auch die Sehnsucht.


Geheimnisvolle Sehnsucht

Während ich aus dem Flugzeugfenster blicke, frage ich mich, wie unglaublich viel Sehnsucht bei all diesen Menschen in den winzig kleinen Dörfern und Städten weit unter mir vorhanden sein muss. Ich versuche mir vorzustellen, wie es wohl aussehen würde, wenn man Sehnsucht sichtbar machen könnte. Zum Beispiel durch einen farbigen Nebelschleier, der die Betroffenen umgeben würde. Bei dem Gedanken an die Verwirrung, die dabei entstünde, huscht ein Lächeln über mein Gesicht. Doch selbst wenn all diese sichtbar gewordenen Sehnsüchte gestillt würden – stets bliebe Raum für mehr!
Sehnsucht kann Menschen gleichermaßen in die Verzweiflung treiben, wie ihnen zu Höhenflügen verhelfen. Sie ist der schmale Pfad der Hoffnung auf der Gratwanderung zwischen Verzweiflung und Illusion. Und es stellt sich die Frage, was es auf unserer Lebensreise zu beachten gilt, damit wir nicht auf der einen oder anderen Seite des Weges in die Tiefe stürzen. Sehnsucht stellt uns immer wieder neu vor die Entscheidung, ob wir an ihr verzweifeln beziehungsweise einer Illusion nachjagen oder ob wir sie als Lebenskraft ergreifen, die unserem Leben eine sinnerfüllte und hoffnungsfrohe Perspektive schenkt.
Sehnsucht in meinen Büchern

Ich bin überzeugt, dass Sehnsucht in unserem Leben eine viel wichtigere Rolle spielt, als uns in der Regel bewusst ist. Bei mir hat es eine ganze Weile gedauert, bis ich realisierte, welch entscheidende Rolle Sehnsucht in meinem schriftstellerischen Schaffen spielt. Eigentlich wurde es mir erst vor wenigen Monaten bewusst. Und zwar während eines Interviews zu meinem damals neu erschienenen Buch Blühe dort, wo du gepflanzt bist. Als ich mich auf die Frage antworten hörte, was mich zur Abfassung dieses Buches bewegt habe, überkam mich ein Déjà-vu-Gefühl. Irgendwie hatte ich den Eindruck, als ob ich genau diese Antwort schon oft gegeben hätte. Doch es war mein erstes Interview zu diesem Buch! In jener Nacht dachte ich vor dem Einschlafen über diese seltsame Episode nach. Ich kann meine Antwort von damals nicht wortwörtlich wiedergeben, aber ich erinnere mich, dass ich als Beweggrund meine Sehnsucht genannt hatte, dass blühendes Leben nicht länger ein Wunschtraum bleiben, sondern im Leben vieler Menschen Gestalt annehmen möge. Und plötzlich erkannte ich, dass sich Sehnsucht wie ein roter Faden durch all meine bisherigen Buchprojekte (die zum Teil völlig unterschiedlich sind) zieht. Zum Beispiel die Sehnsucht danach, dass wir unserer individuellen Lebensberufung folgen, auch wenn Widerstände da sind (Juliane von Krüdener). Die Sehnsucht nach Veränderung und danach, dass wir uns nicht mit weniger zufriedengeben, als sich der Schöpfer für uns vorgestellt hat (einzigartig). Die Sehnsucht, ich selbst sein zu dürfen und zu erkennen, dass es gut ist, wie ich von Gott geschaffen bin (Die leisen Weltveränderer) – verbunden mit der Sehnsucht, einen Unterschied zu machen und etwas in dieser Welt zu bewegen.
Dass ich nun ein Buch über Sehnsucht in Angriff nehme und somit über das Thema schreibe, das all meine bisherigen Projekte verbindet, ist ein Wagnis. Es ist eine Reise, die zunächst mich als Autorin und danach Sie als Leserin oder Leser herausfordert, sich mit dem Kern Ihrer Persönlichkeit auseinanderzusetzen. Mit dem, was Sie im Tiefsten antreibt. Dem, was Sie sich vom Leben erhoffen. Aber auch dem, was Sie allenfalls blockiert. Letztlich geht es darum, dass Sie sich Ihrer tiefsten Sehnsüchte bewusst werden und sie ins Gespräch mit Gott bringen. Sodass die Dynamik Ihrer Sehnsucht nicht in Selbstzerstörung oder Verzweiflung mündet, sondern mit Gottes Hilfe in Lebenskraft umgewandelt wird.


Sehnsucht in meinem Leben

Selbstverständlich ist Sehnsucht nicht bloß in meinen Büchern ein Thema, sondern in erster Linie in meinem Leben. In meinen Büchern spiegelt sich lediglich, was ich auch im Leben durchbuchstabiert habe beziehungsweise durchbuchstabiere. Ich habe schon früh damit begonnen, mich mit meiner intensiven Gefühlswelt auseinanderzusetzen. Meiner Sehnsucht nach Liebe, der Sehnsucht nach Bedeutung, nach Lebenssinn, nach Erfüllung, nach heilen Beziehungen und vielem mehr. Auch mit der Sehnsucht, tiefer in die göttlichen Geheimnisse einzudringen: sensibler zu werden für Gottes Reden in meinem Leben; Jesus Christus immer besser kennenzulernen; mehr von der Kraft des Heiligen Geistes in meinem Alltag zu erfahren. Sehr oft ist es allerdings einfach diese undefinierbare »Sehnsucht nach mehr«, die mich umtreibt. Manchmal, indem sie mich anspornt, meine Lebenszeit zu nutzen, dann wiederum, indem sie mich lähmt, weil mich diese Gefühle überfordern und ich mich so hilflos dabei fühle.


Sehnsucht nach mehr

Sehnsucht nach mehr. Diese Aussage trifft den Kern und beschreibt das Wesen von Sehnsucht. Vielleicht gibt es Momente, in denen wir das Gefühl haben, dass unsere Sehnsucht erfüllt ist. Das ist aber bloß eine flüchtige Empfindung, die nur so lange anhält, bis wir erneut von Sehnsucht eingeholt werden.
Trotz der dunklen und schwierigen Seiten, die mit meiner Sehnsucht verbunden sind und an denen ich oft leide, erkenne ich mehr und mehr, dass Sehnsucht etwas ganz Kostbares ist. Sehnsucht erinnert mich in der Hektik des Alltags daran, dass es im Leben um mehr geht als Kinder großzuziehen, einer Arbeit nachzugehen, Rechnungen zu bezahlen, ein Hob-
by zu pflegen oder ein anständiges Leben zu führen. Damit will ich keineswegs sagen, dass all dies bedeutungslos sei! Auf keinen Fall. Aber es ist nur ein winzig kleiner Ausschnitt aus einem viel größeren Lebensbild. Sehnsucht berührt die großen, existenziellen Fragen des Lebens. Sie strebt nach Glück, Erfüllung und Sinn. Sie ist die stetige Erinnerung daran, dass wir für mehr als das irdische Leben geschaffen sind. Dass es mehr gibt als das, was wir sehen. Sehnsucht rückt unser Leben in Perspektive und verbindet uns auf unsichtbare und geheimnisvolle Weise mit der Ewigkeit. Sie ist der verzweifelt-trotzige Kampfruf über der Kleinkariertheit und manchmal auch Trostlosigkeit des Alltags:

Ich will mehr vom Leben
die leise Stimme der Sehnsucht nähren
allen Grenzen und jeder Monotonie zum Trotz

Ich strecke mich aus zum Himmel
breche auf zum Horizont
trotze mutig den Stürmen des Lebens

Auf dass der winzige Same der Sehnsucht
zu einem Baum der Hoffnung wächst
dessen Früchte des Glaubens mich stärken

Meinem Kleinmut wachsen Flügel
Ich wohne in der Schatzkammer Gottes
und trage die Ewigkeit im Herzen


Danach will ich mich ausstrecken. Nicht stillstehen, sondern mutig weitergehen und Neuland entdecken. Schritt für Schritt der Hoffnung folgen. Dort, wo ich diesem Impuls nachgehe und mich auf die Suche nach meinen tiefsten Sehnsüchten mache, beginnt meine ganz persönliche Reise der Sehnsucht.


Veränderte Perspektive

Zurück zum Flug. Wir nähern uns der Schweiz. Das ist unschwer zu erkennen an der imposanten Alpenkette, die sich majestätisch unter uns auftürmt. Die Sicht ist immer noch klar. Doch von oben sieht alles ganz anders aus und es fällt mir schwer, mich zu orientieren. Berge, die für ungeübte Bergsteiger unbezwingbar sind, wirken aus der Luft direkt harmlos. In den türkisblauen Bergseen spiegeln sich die Wolken. Wie Schlangen winden sich Flüsse durch die Landschaft. Von oben sieht die Schweiz nahezu unbewohnt aus. Ich wundere mich darüber, wie nah die Schweizer Seen und Berge beieinanderliegen, während die Distanzen im Auto viel Zeit in Anspruch nehmen. Es werden Zusammenhänge sichtbar, die vom Boden aus nicht erkennbar sind.
Im Grunde genommen ist es genau das, was ich mir von diesem Buch erhoffe: dass es Ihnen hilft, Ihr Leben aus der Sehnsuchtsperspektive zu betrachten und zukunftsweisende Schlüsse daraus zu ziehen. Denn die Art und Weise, wie wir mit unseren Sehnsüchten umgehen, entscheidet darüber, wie unsere Zukunft aussehen wird. Ich wünsche Ihnen ein neues Verständnis für den Sinn und die Bedeutung Ihres Lebens, sodass Sie mit gestärktem Herzen in der Gegenwart leben und mutig die Zukunft gestalten können. Die Sehnsuchtsperspektive schließt uns Räume der Hoffnung auf. Räume, in denen Wachstum, Leben, Entfaltung und Erfüllung zu Hause sind.
Vielleicht war Ihnen bis jetzt gar nicht bewusst, welche Rolle die Sehnsucht in Ihrem Leben spielt. Vielleicht leiden Sie aber auch an Ihren Sehnsüchten. Vielleicht haben Sie schon ein beachtliches Stück Weg mit dem Thema zurückgelegt. Was auch immer Ihr Ausgangspunkt sein mag – ich lade Sie herzlich ein, mich auf meiner Reise der Sehnsucht zu begleiten und sie zu Ihrer ganz eigenen Reise zu machen.

Debora Sommer, Flug EZY1124, Ende September 2018