Vergessen hat Siegfried Moldenhauer die Grauen des Krieges nie. Und auch nicht die Zeit danach, als er sich als »Wolfskind« durchschlagen musste. Aber es hat viele Jahre gedauert, bis er die Kraft fand, anderen von seinem Schicksal zu erzählen. Zu belastend waren all die furchtbaren Erinnerungen. Erst im hohen Alter hat er sein Schweigen gebrochen und sich Eckart zur Nieden anvertraut. Herausgekommen ist eine Geschichte, die ihresgleichen sucht, die Geschichte eines Wolfskindes, das schließlich ein Gotteskind wurde.
€ 10,95
Preise inkl. MwSt., keine Versandkosten innerhalb Deutschlands ab € 10,00.
€ 8,99 inkl. MwSt.
Kapitel 1
Königsberg 1944
Das durchdringende Auf und Ab der Sirenen reißt mich aus dem Schlaf. Einige Sekunden brauche ich, um mir die Augen zu reiben und mich zu orientieren. Als ich richtig wach bin, springe ich aus dem Bett, denn ich weiß, was zu tun ist. In fliegender Hast schlüpfe ich in Hemd und Hose. Vor lauter Hektik kriege ich die Schnürsenkel der Schuhe nicht richtig zu.
Wir haben es ja geübt.
Immer wieder, meistens nachts, waren wir aus dem Schlaf gerissen worden, um müde die Straße hinunterzustolpern, zum Bunker.
»Siegfried! Aufstehen! Fliegeralarm! Beeil dich!«, ruft Mama. Aber da stehe ich schon vor ihr.
Sie streicht mir über das Haar, aber nicht so ruhig, wie sie es sonst manchmal tut. Ich merke, dass sie in Panik ist.
Ob es diesmal auch wieder nur Fehlalarm ist? Aber der leise Zweifel, dass die ganze Hektik umsonst sein könnte, vergeht rasch, als die scharfen Knalle der Flak zu hören sind, der Fliegerabwehrkanonen. Die würden ja nicht schießen, wenn es nicht nötig wäre.
Mama ist auch schnell fertig. Bei ihrer Stiefmutter, die bei uns im Haus wohnt, dauert es etwas länger. Aber dann steht sie auch da, mit einem bleichen Gesicht und einem gehetzten Blick. Wir treten aus dem Haus. Als Mama die Tür zuschließt, murmelt sie: »Ob das Haus wohl noch steht, wenn wir zurückkommen?«
Gemeinsam laufen wir zu dem Hochbunker, diesem riesigen grauen Betonklotz, den sie nicht weit von unserem Haus entfernt zwischen die Häuser gestellt haben.
Andere müssen in ihren Kellern Zuflucht suchen. Dort sei es aber nicht wirklich sicher, heißt es. Wenn das Haus darüber zusammenbreche, könne man darunter begraben werden. Aber bei einem Hochbunker sei das nicht der Fall. Ich halte es allerdings für unsinnig, was die Leute so reden. Wie kann denn ein Haus zusammenbrechen?!
Immer noch heulen die Sirenen und verstärken damit das Gefühl von Panik in mir. Als wir geübt haben, wie es im Ernstfall ablaufen soll, fand ich das ein tolles Abenteuer. Aber jetzt, wo der Ernstfall eingetreten ist, hat die Abenteuerlust einer Beklemmung Platz gemacht. Als wir eine Weile gerannt und schon etwas außer Atem sind, besonders Oma, merke ich plötzlich, dass ich Mama an der Hand fasse. Das tue ich sonst eigentlich nicht mehr, dafür bin ich schon zu groß. Es ist wahrscheinlich wegen der Angst. Als mir das auffällt, lasse ich schnell los.
Es ist ein ziemlicher Lärm. In das Heulen der Sirenen und die Schüsse der Flak mischen sich die Rufe der Leute. Frauen versuchen ihre Kinder zusammenzuhalten, andere stützen Alte und treiben sie zur Eile an. Die Suchscheinwerfer werfen helle Striche an den dunklen Himmel. Als wir vor dem Eingang stehen bleiben müssen, schaue ich zum Himmel hinauf. Aber ich sehe kein Flugzeug. Wahrscheinlich sind sie noch nicht über der Stadt.
Viele Menschen strömen zusammen und drängen sich vor dem Eingang zu dem Schutzraum mit seiner schweren eisernen Tür. Einige sind unvollständig bekleidet, weil es so schnell gehen musste. Eine ältere Frau drängelt sich vor. Ein alter Mann hält sie zurück und winkt erst mal eine junge Frau durch, die zwei kleine Kinder an der Hand hat. Es gibt ein paar böse Worte, die aber mehr in der Angst als in wirklichem Ärger begründet sind. Die Umstehenden reden beruhigend auf die Streitenden ein. Dann sind endlich alle drin.
Der Luftschutzwart sieht sich noch einmal draußen um. Als niemand mehr kommt, wirft er die schwere Tür zu und verriegelt sie.
Wir setzen uns dicht an dicht auf die Bänke. Sofort wird es still. Die Sirenen sind durch das dichte Gemäuer nicht mehr zu hören.
Es gibt nur spärliches Licht. Aber viel sehen müssen wir ja nicht. Nur so viel, dass die Angst nicht durch die Dunkelheit noch größer wird.
Auch die vielen Menschen hier drin werden still. Die allgemeine Hektik legt sich, dafür spürt man eine mühsam beherrschte Angst. Niemand ist zu harmlosem Plaudern aufgelegt. Die meisten schauen mit bleichen Gesichtern und starrem Blick vor sich hin. Ein Mann macht irgendeine laute Bemerkung, die sich auf die teilweise unvollständige Bekleidung einiger Leute bezieht und die wohl ein Scherz sein soll, um die Stimmung etwas aufzuheitern. Man sagt den Ostpreußen einen etwas derben Humor nach. Aber niemand lacht.
Und dann fallen die Bomben. Selbst in diesem gewaltigen Betonklotz spüren wir die Erschütterungen. Manche Leute zucken bei jedem Krachen zusammen. Einige schluchzen leise, andere fluchen. Mir gegenüber sitzt eine Mutter mit einem kleinen Mädchen auf dem Schoß. Es hält sich die Ohren zu, indem es die Finger hineinsteckt, und es hat auch die Augen zugekniffen. Bei jedem Bombeneinschlag drückt es seinen mageren Körper an seine Mutter.
Es ist die Nacht vom 26. auf den 27. August 1944. Ich bin zehn Jahre alt und begreife nicht viel von der großen politischen und militärischen Lage. Ich habe zwar gehört, dass meine Heimatstadt Königsberg zur Festung erklärt wurde, kann mir aber keine Vorstellung davon machen, was das bedeutet. Ich denke nur, dass meine Vorstellung irgendwie falsch gewesen sein muss. Eine Festung, hatte ich gedacht, ist etwas Festes. Da ist man sicher. Aber das war wohl ein Irrtum.
Was ich von den Vorbereitungen auf die kommenden Gefahren mitbekommen habe, war wenig. Zunächst nur, dass überall Plakate hingen: »Pst! Feind hört mit!« Das verstand ich nicht, fand es eher lustig. Sollten wir denn flüstern, damit die Russen uns nicht hörten? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Die waren doch noch so weit weg! Eindeutiger war schon das Plakat, das einen finsteren Mann mit einem Sack auf dem Rücken zeigte: Kohlenklau.
Spürbarer war die Vorbereitung geworden, als überall in der Stadt neben den Straßen sogenannte Splittergräben gezogen wurden. Da sollte man sich wohl hineinlegen, wenn geschossen wurde, um nicht von Splittern getroffen zu werden. Einer dieser Gräben zog sich sogar durch unseren Garten. Ich erinnere mich, dass da Männer arbeiteten, die einen gelben Stern auf ihrer Kleidung hatten.
Einmal gab Mama mir eine dicke Scheibe Brot und sagte, ich solle sie dem Mann mit dem gelben Stern bringen, der da gerade mit der Schaufel arbeitete. Als ich sie ihm brachte, sah er mich mit einem langen, trüben Blick an und sagte dann freundlich: »Ich danke dir, mein Junge! Ich dachte nicht, dass es noch so viel Freundlichkeit gibt! Sieh her, ich schenke dir auch etwas!«
Er zog etwas aus der Tasche und gab es mir. Es war ein Drehbleistift. Er legte die Schaufel weg und zeigte mir, wie er funktionierte. Ich freute mich darüber, denn so etwas hatte ich noch nicht. Aber es erstaunte mich auch. Wie konnte jemand für eine schlichte Scheibe Brot so ein kleines Wunderding hergeben! Da ahnte ich noch nicht, dass andere Wertmaßstäbe gelten, wenn man hungrig ist. Stifte kann man nicht essen.
Der Mann wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Es war unschwer zu erkennen, dass er es eher gewohnt war, mit einem Stift umzugehen als mit einer Schaufel. Ich sah ihm eine Weile zu. Immer, wenn er zwei oder drei Schaufeln Erde herausgeworfen hatte, blickte er kurz zu mir und lächelte mich an.
Ich fragte Mama, was es mit diesem Mann auf sich hat, warum er einen gelben Stern trägt und warum wir ihm Brot geben. Mama hatte Mühe, mir zu erklären, was Juden sind. Und auf die Frage, warum sie so behandelt werden, wusste sie erst recht nichts zu sagen.
Als die ersten Plakate und Schmierereien »Juda verrecke« an den Hauswänden erschienen waren, konnte ich noch kaum lesen. Später hatte ich mitbekommen, dass Hunderte von Juden sich in einer ehemaligen Reithalle einfinden mussten. Von dort waren sie in einem langen Zug zum Königsberger Nordbahnhof marschiert und dort in einen Zug gesetzt worden. Wohin der Zug gefahren war, wusste niemand – oder manche wussten es vielleicht, sagten es aber nicht.
»Aber wenn die Juden alle weg sind, warum ist der dann noch da?«, fragte ich Mama. Doch auch diese Frage konnte sie nicht befriedigend beantworten. »Vielleicht ist er ein Privilegierter«, meinte sie.
»Ein was?«
»Manche sind bisher verschont worden, zum Beispiel, wenn sie mit Nichtjuden verheiratet sind.«
»Aber was ist denn so schlimm daran, ein Jude zu sein?«
»Nichts«, sagte Mama. »Im Gegenteil, auch Jesus war ein Jude. Manche Leute meinen aber, es sei schlimm, ein Jude zu sein. Und sie hassen sie. Aber du darfst nie andere Menschen hassen, hörst du?«
Das wollte ich zwar gern versprechen, aber wirklich verstehen konnte ich das alles nicht. Hatte ich doch oft mit Wolfgang Simonson gespielt, der uns gegenüber wohnte und von dem Mama sagte, er sei Jude. Dabei war er doch ein toller Spielkamerad.
Was auch in mir die Ahnung verstärkt hatte, dass sich Unheil zusammenbraute, waren die Pferdewagen, die hoch beladen vor unserem Haus vorbeifuhren. Wir wohnten direkt an der Straße, die sie nehmen mussten. Ich stand oft am Fenster und staunte über die Wagen voller Möbel und Essensvorräte, auf denen obendrauf noch Kinder und alte Leute saßen. Bauern aus den Gebieten weiter östlich waren auf der Flucht vor der he- ranrückenden »Roten Armee«. Wir in Königsberg flohen aber nicht. Wir waren ja in einer Festung.
All das geht mir durch den Kopf, während ich hier mit den vielen Leuten im Schutzbunker sitze. Das alles waren ja, wie gesagt, nur die Vorbereitungen, von denen niemand wusste, ob sie überhaupt etwas nützen würden. Jetzt aber ist alles anders. Das Verderben fällt vom Himmel und lässt unsere Splittergräben geradezu lächerlich erscheinen. Dieses Inferno konnten wir uns nicht vorstellen.
Gegen Morgen kommt die Entwarnung. Zögernd, weil wir nicht wissen, was uns draußen erwartet, verlassen wir den Bunker.
Wie eine Festung sieht unsere Stadt wahrhaftig nicht aus. Wo vorher Häuser standen, sind nur noch Trümmerhaufen. Ruinen brennen noch, als sei es nicht genug, dass die Gebäude nicht mehr stehen – auch Holz und andere brennbare Materialien müssen noch vollständig vernichtet werden.
Rauch wabert über der ganzen Stadt. Feuerwehrleute und andere Männer rennen aufgeregt hin und her. Es macht auf mich den Eindruck, als gäbe es keinen Plan, was zu tun ist. Aber hat es überhaupt einen Sinn, diese vielen Feuer löschen zu wollen?
Die Menschen, die langsam mit uns aus dem Betonklotz strömen, sehen sich entsetzt um. Schreckensschreie sind zu hören. Einige Leute weinen still vor sich hin, einige blicken nur stumm umher, sprachlos vor Entsetzen.
Mama versucht mich daran zu hindern, dass ich das ganze Elend sehe, und drängt nach Hause. Trotzdem bekomme ich mit, wie sie etwas aus den Trümmern hervorziehen, das aussieht, als sei es früher mal ein Mensch gewesen – schwarz und zur Größe eines Kindes zusammengeschrumpft.
»Mama – sieh doch! Was ist das? Ist das etwa …?«
»Komm, Siegfried! Schau nicht hin! Komm schnell, nach Hause!« Sie zieht mich mit sich fort. Oma folgt uns und weint dabei.
1941, gleich zu Beginn des Krieges gegen Russland hatten einige russische Flieger Königsberg mit Bomben angegriffen. Aber der Schaden war gering. Diesmal aber, als etwa zweihundert britische Bomber die Stadt angreifen, ist es dramatisch.
»Was wollen die überhaupt hier, die Engländer?«, frage ich Mama. »Hier kämpfen wir doch gegen die Russen!«
»Es ist die Antwort«, sagt sie, mehr zu sich selbst als zu mir.
»Was für eine Antwort?«
»Deutsche Flieger haben ihre Bomben auf englische Städte abgeworfen. Darauf ist das nun die Antwort.«
Das gibt mir viel Stoff zum Nachdenken.
Unser Haus steht noch und ist unbeschädigt. »Gott sei Dank!«, murmelt Mama, als sie die Tür aufschließt. Wir gehen hinein, legen uns aber nicht mehr ins Bett. Wir könnten jetzt sowieso nicht schlafen.
Schnell verbreiten sich Gerüchte und Nachrichten. Es wird erzählt, dass etwa tausend Menschen umgekommen sind. Zehntausend werden obdachlos.
Hier in Rothenstein, einem nordwestlichen Randbezirk, gibt es einige Fabriken und Militäranlagen. Die werden wohl das Ziel der Bombenangriffe gewesen sein. Denn die Altstadt wurde weitgehend verschont.
Aber es kommt noch schlimmer. In der Nacht vom 29. auf den 30. August, also nur drei Tage später, fliegen die Engländer einen zweiten Angriff. Diesmal kommen sie mit über sechshundert Bombern. Und diesmal ist das Ziel der Stadtkern.
Als wir nach dieser Nacht den Schutzbunker verlassen, bietet sich ein noch viel schrecklicherer Anblick. Da der Angriff der dicht bevölkerten Altstadt galt, ist bei uns nur geringer Schaden entstanden. Es gibt auch hier in Rothenstein nicht mehr viel zu zerstören. Aber der Himmel über dem Stadtkern von Königsberg ist taghell beleuchtet von den Flammen der brennenden Stadt. Stumm und entsetzt schauen wir. Kann denn ein Feuer den ganzen Nachthimmel hell und rot färben?
Und können Menschen denn willentlich solch eine Hölle entfachen? Und nicht nur die schöne alte Stadt mit dem Schloss, in dem die preußischen Könige gekrönt wurden, zerstören, und den Dom, der zu den schönsten Bauwerken der Backsteingotik gehört, sondern Tausende von unschuldigen Menschen?
Gehört das auch zur Antwort?
Wir erfahren durch Gerüchte, die überall umherschwirren, dass die Briten eine neue Methode der Bombardierung anwenden. Die ersten Flugzeuge setzen hohe Lichtzeichen, die sogenannten »Weihnachtsbäume«, damit die folgenden Flieger wissen, wo sie ihre Bombenlast abwerfen müssen. Sie werfen Sprengbomben, die Dächer aufreißen und Mauern einstürzen lassen. Und dann folgen Brandbomben, die auf diese Weise überall Nahrung finden und einen furchtbaren Feuersturm entfachen. Sie enthalten Phosphor, der sich nicht löschen lässt, und Magnesium, das besonders heiß brennt. Und wenn auf diese Weise überall erst einmal heiße Brandherde entstanden sind, sucht sich das Feuer seine Nahrung selbst. Es ist nicht mehr zu bändigen, bis alles vernichtet ist.
Ich bekomme mit, wie Oma Mama von jemandem erzählt, den sie kennt. »Der hat Phosphor aus den Bomben auf die Haut bekommen. Es waren nur ein paar Spritzer, aber er hat es nicht löschen können. Vor Verzweiflung ist er schreiend in den Pregel gesprungen. Aber auch das hat dieses Teufelszeug nicht gelöscht.«
»Schrecklich!«, sagt Mama. »Aber eigentlich ist es kein Teufelszeug, sondern Menschenzeug. Wir Menschen sind fähig, so etwas zu erfinden, um anderen Menschen zu schaden.«
»Aber wir doch nicht!«, protestiere ich. »Die Engländer!«
»Wir Menschen sind alle gleich. Und denk an das, was ich dir schon gesagt habe, Siegfried: Wir Deutschen haben angefangen und die englischen Städte bombardiert.«
»Aber nicht mit diesem … Phosphor, oder wie das heißt.«
»Na und? War es deshalb nicht schlimm?«
Oma streitet sich manchmal mit Mama und widerspricht ihr, besonders wenn sie aufgeregt ist. Jetzt sagt sie: »Willst du etwa die Engländer entschuldigen, die uns das antun?«
»Natürlich nicht. Ich will niemanden entschuldigen, aber auch uns nicht. Es gibt keine Entschuldigung für den Krieg mit all den Grausamkeiten. Entschuldigen, also die Schuld wegnehmen, das kann nur Gott, wenn wir ihn darum bitten.«
Und dann nimmt sie mich in die Arme und sagt leise zu mir: »Wir wollen Jesus bitten, dass er uns unsre Schuld vergibt. Und dass er uns bewahrt und uns am Leben erhält. Und Papa auch. Unser Vater im Himmel weiß, wo Papa jetzt ist und wie es ihm geht. Bitte Jesus immer da-rum, Siegfried! Dass er seine schützende Hand über uns hält. Nicht weil wir so gut wären, denn das sind wir nicht, sondern wegen seiner Barmherzigkeit.«
Mama hat dabei feuchte Augen. Ich glaube, sie hat sich gerade vorgestellt, wie es wäre, wenn ich so ein Feuer auf der Haut hätte, das niemand löschen kann.
Unser Haus in Rothenstein steht zwar noch, und das ist gut, aber es gibt mir trotzdem kein Gefühl der Geborgenheit mehr. Zu vieles ist anders. In jeder Hinsicht ist das Leben aus den Gleisen geraten. Meine Schule, die Rossgärter Mittelschule, steht nicht mehr. Aber da ein »geordnetes« Leben weitergehen soll, muss ich jetzt immer nach Quednau gehen. Mein Schulweg führt durch eine Ruinenlandschaft. In der ersten Zeit muss ich dabei streckenweise über eingestürztes Mauerwerk steigen. Erst allmählich werden die Straßen freigeräumt. Viele Frauen helfen dabei, denn es gibt kaum Männer, weil die alle bei der Wehrmacht sind.
Auch mein Vater ist an der Front.
Er ist von Beruf Schneidermeister. Da meine Mutter ihm oft geholfen hat, kennt sie sich aus und kann durch Schneiderarbeiten, Änderungen und dergleichen etwas Geld verdienen. So hoffen wir in diesem Durcheinander zu überleben.
Unsere Familie gehört zur Baptistengemeinde. Eines Tages besucht uns der alte Pastor. Gut, dass er alt ist, sonst wäre er nicht hier. Junge Männer sind alle in der Wehrmacht. Ich weiß nicht, was er will, denn er bringt weder etwas zu essen, was mir sehr willkommen gewesen wäre, noch bekommt er etwas. Dass er »nur« Trost bringen will, verstehe ich nicht.
Er sitzt mit Mama im Wohnzimmer und ich frage mich, was sie so lange zu bereden haben. Endlich öffnet sich die Tür. Der Pastor will gehen. Dann dreht er sich aber noch einmal um und ich höre, wie er meiner Mutter eindringlich sagt: »Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.«
Was mag das für ein Schirm sein?, denke ich. Einer, der die Bomben abhalten soll? Ich kenne nur Regenschirme. Und so stelle ich mir einen riesigen Regenschirm vor, mit Punkten, so wie ein Fliegenpilz. Aber der Schirm, von dem hier die Rede ist, müsste wesentlich größer und stabiler sein.
Ich weiß zu dieser Zeit noch nicht, welche Zuversicht der Glaube an Gott geben kann. Wer zu dem Herrn spricht: »Meine Burg«, der meint nicht eine menschliche Festung, sondern er erwartet Schutz und Geborgenheit von dem, der helfen und in Not trösten und Kraft geben kann. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis ich das verstand. Mama verstand es sicher.
Weitere Fliegerangriffe bleiben aus. Es ist auch nicht mehr viel zu zerstören. Allerdings fliegen noch einmal Bomber über uns hinweg. Sie werfen ihre zerstörerische Last auf Tilsit ab.
Was wir davon mitbekommen, ist seltsam: Eines Tages finde ich auf der Straße angekohlte Reste von Lebensmittelkarten. Ich zeige sie Mama. »Hier, Mama, die habe ich gefunden. Dafür können wir Brot oder Wurst kaufen.«
»Zeig mal! Nein, da steht Tilsit. Die gelten hier nicht. Außerdem sind sie angekohlt hier am Rand.«
»Aus Tilsit? Aber wie kommen die denn hierher?«
»Wahrscheinlich sind sie beim Bombenangriff in die Luft gewirbelt worden. Vielleicht als das Rathaus getroffen wurde. Und dann hat der Wind sie bis hierher geweht.«
»Och – schade!«
Auch wenn keine Bomber mehr kommen, ist nicht die Zeit, befreit aufzuatmen. Alle wissen: Wenn die Rote Armee kommt, wird es noch schlimmer. Allmählich beginnt auch ein neugieriges Kind wie ich die Situation zu begreifen, obwohl kaum jemand von den Erwachsenen wagt, laut etwas gegen die offiziellen Siegesparolen der Regierung zu sagen.
Viele Leute reden davon, dass sie gern fliehen würden, so wie die, die mit ihren Pferdewagen an unserem Haus vorbeikommen. Aber das dürfen wir nicht. Die Bauern mit ihren Planwagen kommen von weiter östlich. Da sind schon die Russen. Aber wir wohnen ja in der Festung. Wer jetzt flieht, zeigt ja, dass er nicht an den Sieg glaubt. Und das darf nicht sein!
Es ist streng verboten, nicht an den Sieg zu glauben. Und wer doch seine Zweifel hat, muss sie für sich behalten. Mama spricht nicht viel darüber mit mir und beantwortet meine Fragen nur ausweichend. Vielleicht hat sie Angst, dass ich anderen von ihren Gedanken erzähle. Aber einmal höre ich, wie sie sich mit ihrer Stiefmutter unterhält, zu der ich Oma sage. Die meint: »Wenn alle Leute nach Westen fliehen, verlieren die deutschen Soldaten den Mut und kämpfen nicht mehr richtig.« Mama sagt dazu nichts, sondern geht einfach weg. Ich merke, dass sie nicht mit Oma einer Meinung ist.
Erst später erfahren wir, dass der Gauleiter Erich Koch, der der Bevölkerung jede Flucht verboten hat, sich als einer der Ersten aus dem Staub gemacht hat.
Die »Festung Königsberg« ist von einem weiten Verteidigungsring umgeben. Zum Teil sind das auch Wälle und Bunker, die schon vor langer Zeit gebaut wurden. Die kann die Wehrmacht jetzt nutzen. Aber unter dem Druck der Russen müssen die Deutschen sich immer mehr zurückziehen und kleinere Verteidigungsringe aufbauen. Die Front ist so nah, dass Tag und Nacht das Donnern der Geschütze zu hören ist. Man kann nicht unterscheiden, ob es deutsche oder russische Kanonen sind.
Es ist kein Geheimnis, dass die Wehrmacht zahlenmäßig der Roten Armee haushoch unterlegen ist. Es sollen zweihundertfünfzigtausend Russen sein, die inzwischen um Königsberg herum stehen.
Mama sieht es nicht gern, wenn ich draußen spiele. Und da Wolfgang Simonson nicht mehr da ist, und auch sonst keiner, und es auf Dauer langweilig ist, in Ruinen herumzuklettern, tue ich, was Mama sagt, und bleibe im Haus.
Inzwischen ist es Winter geworden. Viel Schnee fällt und es ist eisig kalt. Eines der letzten Bilder in meiner Erinnerung aus der Zeit, bevor die Russen kommen, ist das Königsberger Weihnachtsfest, 1944. Wir besuchen Nachbarn. Auf dem Weg zum Nachbarhaus muss ich durch fast kniehohen Schnee stapfen. In dieser Zeit liegt uns viel an den Beziehungen zu anderen. Es tröstet, mit Menschen zusammen zu sein, die das gleiche Elend erleben und die gleichen Ängste haben. Man gibt sich gegenseitig Halt. Das bedeutet innere Wärme, auch wenn draußen Frost herrscht.
Sonst ist mir zu Weihnachten im Kerzenschein auch immer innen warm geworden. Aber in diesem Jahr will dieser innere Friede nicht kommen.
Eckart zur Nieden
Eckart zur Nieden arbeitete nach seiner theologischen Ausbildung in einem Missionswerk und dann 35 Jahre beim Evangeliums-Rundfunk (ERF) in Wetzlar. Er schrieb viele Bücher für Kinder und Erwachsene.
Eine Echtheits-Überprüfung der Bewertungen hat vor deren Veröffentlichung nicht stattgefunden. Die Bewertungen könnten von Verbrauchern stammen, die die Ware oder Dienstleistung gar nicht erworben oder genutzt haben.