1. Warum hat unsere Gesellschaft eigentlich immer etwas gegen Schwule gehabt?
In aller Auseinandersetzung innerhalb der christlichen Szene und zwischen ihr und der LSBTI-Bewegung ist ein entscheidender Gesichtspunkt manchmal fast aus dem Blick geraten: Schwulenfeindlichkeit ist traditionell kein christliches Problem, sondern war immer ein gesamtgesellschaftliches; in unserem Land spätestens seit dem Mittelalter bis weit in die Nachkriegszeit hinein.
Noch vor zwanzig, höchstens 25 Jahren war es eine gesellschaftliche Schande, als homosexuell »enttarnt« zu werden. Das kostete Betroffene in der Regel die weitere Karriere. Nur im künstlerischen Bereich galten etwas liberalere Maßstäbe.
Gut zwei Jahrzehnte länger ist es her, dass wir noch den Paragrafen 175 in unserer Rechtsprechung hatten, der Homosexualität unter Strafe stellte.
Bis heute ist zu beobachten, dass unsere gesellschaftlichen Konventionen im nördlichen Europa einen bestimmten »Sicherheitsabstand« zum eigenen Geschlecht vorschreiben, der in südlichen Ländern so nicht zu beobachten ist. Dort ist es z. B. völlig in Ordnung, wenn Männer sich gegenseitig in den Arm nehmen oder Frauen im türkischen Bad sich gegenseitig liebevoll den Körper pflegen. Langsam ändert sich offensichtlich auch in unserem Land etwas. Ich bin jetzt in einem Männer-Hauskreis, wo man sich gegenseitig immer mit Umarmung begrüßt. War mir neu, aber warum nicht? Doch Begrüßungen mit Küsschen-Küsschen gehen als Mann nach wie vor nur befreundeten Frauen gegenüber. Anders ist es gar nicht vorstellbar.
Gleichzeitig zu diesem größeren äußeren Nähe-Tabu in unseren Breiten gab es aber eine verbreitete Unkultur von diskriminierenden Anzüglichkeiten in Bezug auf Homosexualität und Schwulenwitze. Noch vor gar nicht so langer Zeit waren unter Männern Schwulenwitze eine der beliebtesten Witzekategorien. Erfolg war nahezu garantiert, so dümmlich der Witz auch war. Ich war in der Schule in einer reinen Jungenklasse und habe mich damals schon darüber gewundert.
Aus tiefenpsychologischer Sicht liegt nahe – und ich mute Ihnen diese Aussage jetzt einmal zu –, dass es dabei insgesamt vor allem um die Abwehr eigener homoerotischer Anteile ging. Natürlich auch im eben genannten Beispiel, einer Schulklasse pubertierender Jungen. In einer Kultur, in der ein bestimmtes Empfinden tabuisiert wird, also immer wieder klargestellt wird, dass man dies und das auf keinen Fall sein darf oder empfinden darf, da versuchen Menschen, sich innere Sicherheit zu verschaffen. Das machen sie, indem sie äußeren Abstand einhalten und unerlaubte eigene Gefühle verleugnen, projizieren und andere Abwehrmechanismen anwenden – immer im Sinne der Verdrängung.
Hier stoßen wir jetzt übrigens schon an eine Grundbedingung, um die wir nicht herumkommen, wenn wir konstruktiv mit homosexuell empfindenden Menschen umgehen wollen. Wir brauchen einen zumindest einigermaßen intakten Zugang zu unseren eigenen homoerotischen Anteilen.
Jede tiefe Freundschaft zwischen Frauen und zwischen Männern hat diesen homoerotischen Anteil, auch wenn es beiden nicht um körperlich-sexuelle Annäherung geht, also sie selbstverständlich und ohne Leidensdruck diese Grenze einhalten. Gute Freundschaft unter Angehörigen des gleichen Geschlechts stellt eine hohe Stufe von Sublimierung homoerotischer Anteile dar, könnte man aus tiefenpsychologischer Perspektive sagen.
Damit ist gemeint, dass es beiden gelingt, innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen, gefühls- und gewissensmäßigen Grenzen einen großen Freiraum zu gestalten, in dem sie ihre Freundschaft genießen können und oft auch Ideen und Aktivitäten nach außen hin entwickeln können.
Freundschaftliche Beziehungen – zu beiden Geschlechtern, aber oft gerade zum eigenen – sind die inspirierendste Quelle unserer Kreativität.
Wie weit Menschen homoerotische oder heteroerotische Impulse empfinden, ist übrigens recht unterschiedlich verteilt. Letztlich liegen alle Menschen auf einem Kontinuum, das stärker an dem einen oder dem anderen Pol liegen kann. Es gibt aber keinen Menschen, der absolut ausschließlich Empfindungen der einen oder anderen Art hätte.
Wer in Bezug auf die eigenen homoerotischen Anteile stark von unbewussten Abwehrmechanismen bestimmt wird, hat hier ein großes Problem. Das ist dann der Fall, wenn auf der einen Seite ein sehr starres Tabu aufgerichtet wurde, zu »solchen Menschen« auf keinen Fall gehören zu wollen und auch nicht für einen solchen Menschen gehalten zu werden, und sich auf der anderen Seite aufgrund der individuellen Veranlagung immer wieder recht starke homoerotische Impulse melden.
Attraktivität von Menschen des gleichen Geschlechts muss schon vor dem Bewusstwerden vom Unbewussten abgefangen werden und durch Abwehrmechanismen unkenntlich gemacht werden. Wenn einem Menschen mit dieser Kon-stellation homosexuell empfindende Menschen begegnen, also spürbar wird, dass möglicherweise auf der anderen Seite kein so klares Tabu besteht, müssen alle Register der in-trapsychischen Abwehr gezogen werden, damit die Situation nicht zu gefährlich wird.
Besonders prekär ist das in einem Beratungskontext. In einem solchen Fall würde ein Seelsorger dann vielleicht sehr schnell den Betreffenden mit mosaischen Geboten konfrontieren und zur Buße aufrufen – mit dem unbewusst erwünschten Erfolg, den Ratsuchenden bald als »unbußfertig« los zu sein. Ein Therapeut, der an dieser Stelle selbst eine starke neurotische Abwehr hat, würde vielleicht mit einem streng-rigiden Verhalten das Entstehen einer gedeihlichen therapeutischen Beziehung verhindern und wäre dann auch die Gefahr los. Jeder Ratsuchende merkt schnell, ob er wirklich angenommen oder unterschwellig abgelehnt wird. Glücklicherweise ziehen im zweiten Fall die meisten Klienten die Konsequenzen und wenden damit ab, in einer solchen Beziehung nachhaltig geschädigt zu werden. Manche schaffen das aber auch nicht, was dann zu sehr unglücklichen Entwicklungen führen kann, gerade im Bereich unseres Themas.
Von homosexuell empfindenden Menschen wurde jahrhundertelang in unserer Kultur absolute Verleugnung nach außen und möglichst auch sich selbst gegenüber gefordert. Wo die homosexuelle Orientierung aber eindeutig war, kam es dann oft irgendwann im Leben zu einem Zusammenbruch der Verdrängung. Ein Coming-out fand statt, auch wenn dieser Begriff erst später geprägt wurde. Coming-out bedeutet Zusammenbruch der Verdrängung. Betroffene verachteten sich anschließend aber oft selbst für ihre geächtete Neigung und entwickelten häufig eine entsprechend wenig wertschätzende und fatalistische Haltung sich selbst gegenüber. Oft gerieten sie in einen selbstdestruktiven, hoch promiskuitiven Lebenswandel, der stark um die suchtartig wiederholte körperlich-sexuelle Befriedigung zentriert war. So menschenunwürdige Orte wie Bahnhofstoiletten oder schmuddelige Autobahnrastplätze wurden nicht selten zu Treffpunkten. Das wiederum wurde dann in der Gesellschaft als »die« homosexuelle Lebenspraxis wahrgenommen, führte zu einer weiteren Entwertung und rief Abscheu und Ekel hervor.
Eine Frage, die sich hier aufdrängt, ist: Warum gab es in unserer Gesellschaft über Jahrhunderte unserer Geschichte hinweg eine derartige Ächtung homoerotischer Impulse?
In der klassischen Antike war das ganz offensichtlich nicht so. Bei Platon wird die Homoerotik sogar als die reifste Form menschlicher Sexualität beschrieben.
Woher kam und kommt in unserer Kultur das besonders starke Bedürfnis, homoerotische Anteile unter sicherem Verschluss zu halten?
Sicherlich könnte man sagen, dass eine Wurzel die christlich-abendländische Tradition ist, in der traditionell Bibelstellen im Alten und im Neuen Testament so verstanden wurden, dass Homosexualität sündiges Verhalten sei bzw. ein Ausdruck von Gottesferne. Dazu möchte ich inhaltlich in Kapitel 4 noch eine ganze Menge sagen. Andererseits haben theologische Gesichtspunkte gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in der Regel meist sehr wenig prägen können.
Denken Sie zum Beispiel an die ständigen Eroberungskriege im Lauf der Weltgeschichte, an Grausamkeiten und Gnadenlosigkeit anderen Menschen gegenüber, die ständige grenzenlose Gier und Ausbeutung, die die Triebfeder so vieler Entwicklungen war und ist – all das hat sicherlich so ganz und gar nichts mit dem Vorbild Jesu zu tun. Trotzdem wurden auch bei all diesen so offensichtlich unchristlichen Lebensweisen laufend pseudochristliche Argumente verwendet, um all das zu rechtfertigen. Dass das überfallene Land nicht den rechten Glauben habe, dass die schwarze Rasse minderwertig und zur Sklaverei bestimmt sei, dass wirtschaftlicher Erfolg den Segen Gottes sichtbar mache. Es gibt kaum eine Fehlhaltung, die in der europäischen Geschichte nicht theologisch begründet worden wäre.
Die Wurzel für die Ächtung der Homosexualität in der Geschichte liegt also mit größter Wahrscheinlichkeit an anderer Stelle als in der Theologie. Es muss noch spezifischere Quellen geben. Und wenn man an dieser Stelle sucht, stößt man auf die preußisch-soldatische Herkunft unseres jetzigen Staatswesens. Das würde auch das traditionelle Nord-Süd-Gefälle erklären. Immerhin lag das Zentrum kirchlicher Macht während des gesamten Mittelalters in Rom und trotzdem war das Homosexualitäts-Tabu nördlich der Alpen deutlich stärker ausgeprägt als im Süden.
Im Militär musste unbedingt ein sehr starkes Tabu gegen »wehrkraftzersetzende« Liebesbeziehungen zwischen Männern aufgerichtet werden. Offiziere hatten damals die Aufgabe, ihre Soldaten so stark in Angst und Schrecken zu halten, dass sie sie im Bedarfsfall auf den Feind und in den Tod hetzen konnten. Das hätte niemals funktioniert, wenn irgendwelche Liebesbeziehungen zwischen ihnen bestanden hätten, eventuell sogar hierarchieübergreifend. In militaristischen Gesellschaften musste unablässig darauf geachtet werden, dass genau das nicht passierte. Vielleicht kennen Sie den Ausspruch Friedrichs des Großen, der sinngemäß gesagt hat: »Meine Soldaten müssen mich mehr fürchten als den Feind.«
Dadurch ist es auch erklärbar, dass weibliche Homosexualität fast vollständig unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle der Öffentlichkeit blieb. Das ist, wenn man von den bemühten moralischen oder gar theologischen Argumenten ausgeht, doch gar nicht erklärbar. Weibliche Homosexualität interessierte wehrtechnisch gesehen ganz einfach nicht. In diesem Fall waren die Schwulen die Leidtragenden. Sie wurden gedemütigt, bestraft und gefoltert.
Anderseits haben für außenstehende Beobachter oft gerade militärische Männerkameradschaften eine unverkennbar sublimativ-homoerotische Komponente. Nur eben verdrängt, in Biergelagen und ggf. Schwulenwitzen ausgetobt.
Das Militär wiederum war die »Schule der Nation« und prägte das Staatswesen.
Ich nehme übrigens an, dass die noch bestehende ausgeprägte Schwulendiskriminierung in vielen islamischen Ländern auch damit zu tun hat, dass der Islam in seiner Verbreitungszeit von einer ausgeprägt militaristischen Männergesellschaft getragen wurde. Dieses Thema würde eine eigene Untersuchung lohnen.
Im »Dritten Reich« als düsterster Phase deutscher Geschichte kam es dann zu einem besonderen Phänomen. Unter dem Druck der von einem paranoid-narzisstischen Diktator geprägten Gesellschaft entstand einerseits Angst vor Ausgrenzung und Sanktionen, andererseits die Möglichkeit, als »Arier« selbst Anteil an der angebotenen unreifen narzisstischen Aufwertung zu haben. Menschen, die sonst kaum Chancen gehabt hätten, sich hervorzutun, bekamen jetzt auf einmal die Möglichkeit, sich durch Entwertung anderer Bevölkerungsgruppen als etwas Besonderes zu fühlen und besondere Rechte zu bekommen. Sehr viele ergriffen diese Gelegenheit, stützten das System und verbreiteten Angst. Es wurde immer schwerer, einen eigenständigen Standpunkt zu bewahren, und immer mehr Menschen schlossen sich an, um sich in Sicherheit zu bringen. Anschließend rechtfertigten sie ihre neuen Einstellungen vor sich selbst und anderen, indem sie sich die Propagandameinungen bald tatsächlich zu eigen machten. Tiefenpsychologisch gesehen bedeutete das Regression großer Teile der Bevölkerung auf ein niedrigeres Strukturniveau. Wo vorher neurotische Mechanismen vorgeherrscht hatten wie Verdrängung, verbunden immerhin mit der Fähigkeit zu einer gewissen Wertekonstanz, herrschte jetzt die Spaltung vor als handlungsleitendes Schema. Es wurde salonfähig, bestimmte Bevölkerungsgruppen pauschal auszugrenzen und zum Ziel unkontrolliert verteufelnder Projektionen und Übertragungen zu machen.
Die Homosexuellen gehörten dazu, viele wurden Opfer der Vernichtungsmaschinerie.
Spätestens nach 1945 sollte von daher der Zweifel am »gesunden Volksempfinden« als Maßstab für den Umgang mit Bevölkerungsgruppen erlaubt sein.
Homosexuellen Menschen ist im Laufe der Geschichte unendlich viel Unrecht geschehen. Das gilt auch für die Zeiten unserer Bundesrepublik. Erst seit vielleicht 15 Jahren prägt eine starke emanzipatorische Bewegung das Bild in der öffentlichen Wahrnehmung, zu der auch eine erfolgreiche politische Lobbyarbeit gehört. Inzwischen bedeutet es eine starke Rufschädigung, in der Öffentlichkeit als »homophob« dargestellt zu werden. Mit diesem Begriff ist nicht der eigentliche Wortsinn einer Angst vor dem Gleichgeschlechtlichen gemeint, sondern eine feindselige, aggressive Haltung. Diese Einstufung kann zu heftigen Anfeindungen und politischem Ausgrenzungsdruck führen.
Unterschwellig, jenseits oberflächlicher politischer Korrektheit – oder auch Angst vor dem »Homophobieverdacht« –, existiert in großen Teilen unserer Bevölkerung aber weiterhin die Fortsetzung der alten Diskriminierung. Das sieht man immer wieder an den Reaktionen von Familien auf ein Coming-out. Diese Diskriminierung beruht auf der erlernten Übernahme traditioneller Tabus, diese wiederum gründen – wie ausgeführt – großenteils auf kollektiver neurotischer Abwehr homoerotischer Anteile der eigenen Psyche. Diese wiederum hatte eine bedeutende Funktion in unserer militaristischen Vergangenheit.
Pressestimmen
01.03.2023Björn Büchert, CVJM Landesreferent Es geht um Menschen, nicht um ein Thema - dies wird bei der Lektüre dieses Buches deutlich. Martin Grabe bringt Unsicherheiten zur Sprache, die im Blick auf Homosexualität unter Christinnen und Christen vorhanden sind. Er geht darauf ein, woher homosexuelles Empfinden kommt und ob etwas dagegen getan werden kann. Er macht deutlich, wie stark die gesellschaftliche Prägung über Jahrhunderte
auch in christlichen Gemeinden Raum genommen hat. Darüber hinaus nimmt er einzelne Bibelstellen und deren Kontext genauer in den Blick und zeigt auf, wie diese heute verstanden werden können. "Es nützen keine gut gemeinten Hinweise auf Gotttes Liebe, sondern es ist eine echte, ehrliche und gründliche Auseinandersetzung mit allen auf Homosexualität bezogenen Bibelstellen erforderlich." Seine Erfahrungen aus der Seelsorge und Psychotherapie fließen ebenso ein wie sein theologische Denken.
In drei Worten: notwendig. hilfreich. kompakt.
Hotline 1/2023 Das Magazin des CVJM Baden Württemberg
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04.05.2021Dr. Andreas Heek auf https://kath-maennerarbeit.de Ist es tröstlich, dass die evangelischen Schwesternkirchen auch mit Homosexualität immer noch teilweise fremdeln? Oder ist es beneidenswert, dass mittlerweile in allen evangelischen Landeskirchen möglich ist, einen Ehe-Segen in einem offiziellen Gottesdienst zu bekommen? Beide Fragen mit Ja zu beantworten, hinterlässt bei einem Katholiken ein mulmiges Gefühl. Denn schließlich ist die katholische Kirche in dieser Hinsicht mit sich selbst
noch lange nicht im Reinen.
Aber nun zum Buch selbst.
Martin Grabe ist Chefarzt der Abteilung Psychotherapie und Psychosomatik der Klinik Hohe Mark in Oberursel und engagierter evangelischer Christ. In seinem Büchlein fasst er die derzeitige Stimmung zu Homosexualität in der evangelischen Kirche zusammen und stellt die ambivalente Haltung von Teilen der evangelischen Kirche neben seinen eigenen klaren positiven Gedanken als evangelischer Christ und Psychotherapeut. Beim Lesen dieser Darstellung ist die frühere ambivalente Einstellung des Autors spürbar, die aber seit langem vollständig überwunden ist. Nun setzt er sich vehement für das Menschenrecht auf Religionsausübung homosexuell begehrender Menschen einsetzt in seiner Kirche ein.
Woher stammt diese Ambivalenz von manchen Christinnen und Christen? Die evangelische stand in früheren Zeiten der Ablehnung homosexueller Menschen der katholischen Kirche in nichts nach. Sicher ist dies begründet in der Berufung auf ähnliche Quellen: das Naturrecht aus der griechischen Tradition und die Bibel, in der Homosexualität angeblich eindeutig verurteilt würde (was längst exegetisch widerlegt ist, in beiden Theologie-Schulen). Vielleicht gibt es eine relativ einfache, psychologische Antwort auf diese Frage. Grabe berichtet, dass Klassenkameraden in seiner Jugendzeit ihn mit „sexuellen Themen“ in Verlegenheit bringen konnten, was er seiner eigenen Suchbewegung nach sexueller Identität zuschrieb. Möglicherweise ist der tiefste Grund für die immer noch in kirchlichen Kreisen verbreitete Homophobie die ambivalente Haltung gegenüber der sexuellen Identität derer zu suchen, die Hass und Ablehnung gegenüber homosexuellen Menschen verbreiten?
Genauer betrachtet ist es in der evangelischen Kirche nicht anders als in der katholischen: eine überwiegende Mehrheit der Kirchenmitglieder steht homosexuellen Menschen freundlich gegenüber. Noch empathischer wird dann ihre Haltung, wenn eigene Verwandte und Freunde sich als homo- bi- trans- oder intersexuell outen. Es sind oftmals die "Hüter" biblizistischer Interpretation der Bibel (evangelisch) und die "Wächter" über die „authentische“ Lehre (katholisch), die sich auf der Spur der "Wahrheit" wähnen. Es handelt sich vielmals um diejenigen, die die Begegnung mit homosexuellen Menschen eher scheuen, einer grundsätzlichen Idee der Komplementarität der Geschlechter anhängen und das Chaos der Schöpfung, aus dem je etwas Neues und Großartiges entsteht, einfach nicht anerkennen können.
Die Ordnung der Welt nach den Maßstäben menschlicher "Logik" gibt es schlicht nicht. Dieses Bedürfnis nach Ordnung und nach gedanklichen Konstrukten ist dem menschlichen Geist inhärent, aber findet in der Schöpfung Gottes keine Entsprechung. Die Anerkennung dieser Inkongruenz zwischen der Schöpfung selbst und den eigenen Wünschen wäre eine große Leistung der christlichen Religion. Die evangelischen Schwestern und Brüder tun sich damit mitunter auch noch schwer, aber sie sind den katholischen mindestens einen Schritt voraus. Eine vollständige Auflösung der Ambivalenz ist wohl weder dort noch hier in nächster Zeit nicht zu erwarten. Aber die Entwicklung in der Schwersternkirche kann Mut machen, auch in der katholischen Kirche für weitere Schritte der Anerkennung homosexueller Frauen und Männer und anderer geschlechtlicher Identitäten einzutreten.
Der evangelische Bruder Martin Grabe hat dazu mit seinem wichtigen Buch seinen Beitrag geleistet.
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20.07.2020Sabine Müller auf www.mindo-magazin.de Wer hat's geschrieben?
Dr. Martin Grabe ist Ärztlicher Direktor der „Klinik Hohe Mark“ in Oberursel, wo er die Abteilung Psychotherapie und Psychosomatik sowie ein Weiterbildungsinstitut für Psychotherapie leitet. Darüber hinaus ist er Vorsitzender der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge (APS), hat Lehraufträge in Masterstudiengängen im Fach „Praktische Theologie“ und ist Mitherausgeber der Zeitschrift „P & S – Magazin für Psychologie
und Seelsorge“. Grabe ist verheiratet und hat vier Kinder.
Worum geht's?
„Dürfen Christen, die die Bibel als Gottes verbindliches Wort auch in Fragen der Sexualethik betrachten, Homosexualität bejahen und – falls sie selbst betroffen sind – diese im Rahmen einer verbindlichen Beziehung (sprich: einer Ehe) auch ausleben?“ – Um nur weniges wird in der (vorwiegend) evangelikalen Welt zurzeit wohl kontroverser und leidenschaftlicher gestritten, als um die richtige Antwort auf dieses heiße Eisen. Nicht von ungefähr: Kaum ein Thema ist mit so vielen menschlichen und gesellschaftlichen, vor allem aber auch geistlichen Ängsten behaftet wie Homosexualität, dementsprechend stark polarisiert es. Homosexualität und Glaube – das ist tatsächlich weithin genau das Beziehungsdrama, das der Buchtitel nahelegt.
Martin Grabe kennt den Kampf, den Christen, die sich an der Bibel orientieren wollen, im Blick auf dieses Thema führen, nur zu gut. Lange Zeit vertrat auch er die theologisch traditionelle Position, die zwar dafür plädiert, homosexuell empfindenden Menschen Wertschätzung entgegenzubringen, die aber gleichzeitig jegliche Form des Auslebens von Homosexualität als sündhaft versteht und darum von Betroffenen einen zölibatären Lebensstil erwartet.
Als Therapeut kennt er jedoch auch die andere Seite: das oft jahrzehntelange Leiden betroffener Christen und Christinnen, die verzweifelt versuchen, ihre sexuelle Identität und ihren Glauben miteinander zu versöhnen. Etwas, das in der Praxis nahezu unmöglich ist, und daher nicht selten im Zerbrechen des Glaubens oder aber im psychischen Zerbrechen des Betroffenen endet.
Im Buch nimmt Grabe den Leser mit auf die persönliche Reise, die er in den letzten Jahren als Christ und Therapeut unternommen hat: hinein in das schmerzhafte Erleben homosexueller Christen, hinein in seine Erfahrungen mit den Grenzen sogenannter „Konversions-Therapien“, hinein in die neuesten Erkenntnisse aus Medizin und Forschung. Vor allem aber hinein in seine theologische Auseinandersetzung, die darin mündete, dass er zu einer völlig neuen Bewertung kam.
Wie ich es finde.
Ein unerwartetes, ein mutiges, ein wichtiges Buch. Denn bisher haben sich im deutschsprachigen Raum nur wenige (keine?) evangelikale Theologen oder Therapeuten so eindeutig für die Akzeptanz homosexueller Partnerschaften im christlichen Kontext ausgesprochen wie Martin Grabe es auf den vorliegenden 96 Seiten tut. Jedenfalls bieten seine Schlussfolgerungen jede Menge Sprengstoff für eine bisher doch eher einseitig geführte Diskussion.
Was das Buch so nachdenkenswert macht, ist, dass sich hier nicht irgendjemand unreflektiert äußert, sondern dass sich vielmehr ein Arzt, Therapeut und evangelikal geprägter Christ zu Wort meldet. Ein Mensch, der sich, berührt vom Schmerz seiner homosexuellen Mitchristen, auf die Suche nach Antworten gemacht hat. Einer, der es sich nicht leicht gemacht hat. Einer, der seine vermeintlich sichere Position verlassen und sich von persönlichen Begegnungen, vor allem aber von intensivem theologischen Nachdenken hat hinterfragen lassen. Und der sich im Verlauf mehrerer Jahre vom Nein zum Ja und von der Ablehnung zur Unterstützung homosexueller Partnerschaften gearbeitet hat.
Die Kürze, in der Martin Grabe diese herausfordernde Thematik abhandelt, macht einerseits die Würze des Buches aus und kann gleichsam zum Stolperstein werden. Vor allem seine theologische Argumentation wird in ihrer Knappheit jene, die eher der traditionellen Auslegung folgen, womöglich nicht überzeugen.
Bei allem bleibt: Grabe lädt ein, tradierte Positionen nicht unhinterfragt zu lassen, neue Erkenntnisse aus Biologie und Psychologie in den Blick zu nehmen und auch andere Lesarten der betreffenden Bibelstellen zumindest mitzudenken.
Wer sollte es lesen?
Jeder menschlich und geistlich redliche Christ sollte sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zumindest einmal ernsthaft und offen mit der Thematik auseinandergesetzt haben. Es wird in den nächsten Jahren sicher nur wenige Fragen geben, die vom evangelikalen (und sicher auch katholischen) Teil der Christenheit kontroverser diskutiert werden, als die Frage danach, ob das Thema Homosexualität neu bewertet werden muss und ob und wie homosexuelle Christen ihren Platz in der Gemeinde finden. Das Buch von Martin Grabe ist eine erste Handreichung, sich dem Thema aus einer anderen als der traditionellen evangelikalen Perspektive zu nähern. Welchen Standpunkt man auch einnehmen mag – es bleibt nicht zuletzt eine Frage der Barmherzigkeit und Liebe, dass Christen einander immer wieder zuhören, mutig nachdenken und, falls nötig, auch neu Position beziehen. So langwierig und schwierig dieser Prozess auch sein mag.
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07.08.2023Angela Barmherzig!
01.07.2021Anonym Absolut lesenswert!
29.12.2020Frank Spratte Schon seit mehr als 30 Jahren berührt dieses Thema mich, als seelsorgerlich veranlagten Beobachter, eher schmerzhaft. Aufgewachsen und erzogen in einem streng evangelikalen Sinne, habe ich als junger Mensch die gängigen Positionen zum Thema Homosexualität übernommen und gleichzeitig einen aufkeimenden Dissens in mir gespürt. Einen Widerstand des Gewissens gegen die gemeinhin herrschende "das ist dem Herrn ein Gräuel"-Auffassung. Oder
vielleicht auch eine "heilige" Unzufriedenheit mit den Konsequenzen dieser theologischen Sichtweise.
Aber wenn man allein mit seinen Zweifeln am theologischen Tenor und dem daraus resultierenden Verhalten dasteht, dann entsteht dadurch genau jene geistliche Haltung die Martin Grabe in seinem Buch beschreibt: Man flieht vor der Verantwortung des Weiterdenkens oder gar davor, Gott um eine Antwort auf die eigenen Fragen zu bestürmen. Man gibt sich vorschnell mit dem scheinbaren Argument zufrieden, dass ja alles zu dem Thema bereits gesagt ist und an Stelle X, Y oder Z nachzulesen sei. Und statt den roten Faden der Bibel zu betrachten, pickt man sich die entsprechenden Stellen heraus, die das Thema zu behandeln scheinen, isoliert sie und gibt sich mit den Einzelaussagen zufrieden.
Doch diese Form der Verdrängung schafft keinen Frieden, sondern allenfalls eine kurzfristige Gewissens-Ruhe. Gerade so lange, bis die nächste Begegnung mit einem Betroffenen die Frage wieder aufwirft und mich erneut ins Zweifeln bringt.
Unabhängig davon, ob dieses Buch selbst die "theologische Gründlichkeit" an den Tag legt, die es einfordert, halte ich das Buch für einen Augenöffner und wertvollen Beitrag zu einer neuen Diskussionsrunde zum Thema Homosexualität in der Gemeinde. Denn aus meiner Sicht ist es unabdingbar, dass wir als Christen zumindest die verschiedenen geistlichen Ansatzpunkte, die Martin Grabe aufzählt, in Betracht ziehen, Nur so können wir uns eine eigene, vertretbare Position erarbeiten um an dem Diskurs teilhaben zu können. Denn es reicht nicht die Bibel zu lesen. Wir müssen Gottes Reden verstehen lernen und in unserem Leben verwirklichen (vergl. Jak.1,22ff).
Das Buch enthält sehr viele wohl durchdachte Ansätze sich dem Thema zu nähern und es von unterschiedlichsten Perspektiven zu beleuchten. Es deckt eben nicht die Decke des Schweigens darüber, wie wir es häufig aus der Gemeinde gewohnt sind, sondern hilft durch die Anregung zur persönlichen Auseinandersetzung die Sprachlosigkeit zu überwinden.
Ich bin Martin Grabe sehr dankbar für dieses Buch, genau wie dem Francke Verlag für dessen Veröffentlichung. Denn eines ist mir nach der Lektüre deutlicher denn je geworden: Unsere Erkenntnis, auch um das Wesen Gottes und seinen Willen, ist und bleibt Stückwerk, bis er selbst es einmal vervollständigen wird (frei nach 1.Kor.13).
Übrigens, wem es schwerfällt sich emotional in die Rolle eine Homosexuellen in christlichen Kreisen hineinzudenken, dem könnte die folgende Vorstellung helfen:
1. Stell Dir vor DU bist nicht nur ein Teil der Gemeinde Christi, sondern Du repräsentierst die Gemeinde Christi.
2. Stell Dir vor, wie Du in einem Brautkleid mit Schleier vor Jesus trittst um ihn zu heiraten.
3. Stell Dir vor, wie Jesus Deinen Schleier wegnimmt und Du plötzlich alles um Dich herum klar und deutlich sehen kannst.
4. Frage Dich selbst: Wie fühlst Du Dich in dieser Situation"
Bedenke Mann, Du bist nicht der Bräutigam.
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24.08.2020Leserstimme Danke für den verlegerischen Mut, dieses Buch herauszubringen. Es war ja lange überfällig, dass ein evangelikaler Verlag mit einem ausgewiesenen Autor in dieser Weise zu diesem Thema Stellung bezieht. Wir haben den Eindruck, dass Grabes Buch ein guter und hilfreicher Beitrag in dieser unseligen Diskussion ist. Er schreibt nicht nur gut verständlich und sachlich komptetent, sondern kann aus seinem
Erfahrungsschatz etwas beisteuern, was in der Debatte bisher noch nicht so zum Tragen kam, nämlich den therapeutischen Aspekt und die kulturelle Einordnung der Thematik.
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13.08.2020Anonym Ich bedanke mich herzlich für dieses längst überfällige Buch! Ich bin dankbar, ein wenig mehr zu verstehen und ein wenig besser darüber reden zu können.
25.07.2020Olaf Bogdan Dieses Buch erscheint zur richtigen Zeit und ich sage vielen Dank.
Die Frage nach dem Umgang mit homosexuell lebenden Frauen und Männern in unseren Gemeinden und Kirchen ist in den vergangenen Jahren zu einer Art "Messerklinge" geworden, an der 2 eigentlich zusammen gehörende Teile voneinander getrennt werden könnten. Dies war und ist in der Tat schmerzlich und ein wirkliches
Drama.
Für mich als Schwulen ist Grabes Buch eine Bestätigung dessen, wie ich meine Identität und mein Christsein selbst erfahre. Die Qualifikation und sein Amt in der Klinik Hohe Mark verleihen diesem Buch eine gewisse Glaubwürdigkeit.
"HOMOSEXUALITÄT UND CHRISTLICHER GLAUBE ein Beziehungsdrama" hat die Chance, für Gemeinden und ganze Kirchen zu einem wichtigen Brückenstein zu werden. Es erweitert unseren Wissenshorizont, auf dem es auch in Zukunft Menschen geben wird und darf, die anders denken und verstehen als ich. Die Aussicht auf ein Happy End für die beiden o.g. Teile bleibt davon unbenommen.
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22.07.2020Johannes Traichel Ein Buch zum Thema Homosexualität und christlicher Glauben ist grundsätzlich ein Ein Buch zum Thema Homosexualität und christlicher Glauben ist grundsätzlich ein mutiges Unterfangen. Es ist eine brennende Frage in unserer Zeit die Emotionen und auch Gegenwind auslösen kann und meistens auch tut.
Martin Grabe hatte den Mut sich diesem Thema zu stellen.
Ihm durfte bewusst sein, wie heiß
dieses Thema auch innerhalb seiner evangelikalen Community diskutiert und bearbeitet wurde. Sachliche Diskussionen in großen Runden sind oft zu einer Herausforderung geworden. Die Diskussionen in den sozialen Netzwerken können ohne großen Aufwand ein explosives Niveau erreichen.
Martin Grabe, ein Chefarzt im Bereich Psychotherapie und Psychosomatik nähert sich diesem Thema an. Neben seinen medizinischen Fachgebieten greift er auch theologische Fragestellungen auf, sowie praktische Auswirkungen seiner Ergebnisse.
Das Buch ist bei dem evangelikal geprägten Francke Verlag im Juli 2020 erschienen. Der Autor wurde kurz nach Erscheinen auch im christlichen Medienmagazin Pro dazu interviewt. Das Buch ist mit 96 Seiten sehr knapp gehalten und kann somit lediglich als ein Extrakt der Sicht von Grabe angesehen werden.
Zum Inhalt und dessen Diskussion.
Zu seinem persönlichen Werdegang gibt Grabe in seinem Buch die Informationen weiter, dass er bereits in seinem Studium sich mit der Frage der Homosexualität beschäftigt hat. Bereits nach seinem Studium kostete ihm die Sicht, dass es zunächst von Gott gewollt sei, wenn ein Homosexueller homosexuell ist, eine mögliche Anstellung. Ein Artikel von ihm in der Zeitschrift „P & S“ löste 2008 einige Gegenreaktionen aus. 2009 wurde der APS Kongress in Marburg Zielscheibe massiven Protestes, weil Referenten auftraten, die zur Frage der Homosexualität, den Gegendemonstranten widerstrebende Ansichten vertraten. Die APS wurde als homophobe Gruppierung verschrien. Gewandelt hat sich Grabes Sicht vor allem durch die Gesprächswochenenden der Evangelischen Allianz, in welchem auf vielfältiger Weise über dieses Thema debattiert wurde.
Grabes Ziel mit dem Buch ist es, dass homosexuelle Christen ihren Platz in der Gemeinde finden, dass sie als Christen akzeptiert und in Liebe aufgenommen werden.
Grabe beginnt seine Abhandlung damit, dass er nach Ursachen für gesellschaftliche und christliche Ablehnung von homoerotischen Handlungen sucht. Er sieht ihre Quelle in der militaristischen Vergangenheit. Seine Sicht ist es, dass dies dann noch theologisch untermalt wurde. Allerdings habe die Kirche sich der Gesellschaft angepasst (35).
In evangelikalen Kreisen sieht Grabe ein dieser Frage eine Scheu von Denkarbeit und sauberer theologischer Arbeit (19). Eine tiefe theologische Auseinandersetzung finde demnach in Freikirchen selten statt (20). Er fordert, dass „tatsächlich und ehrlich“ in die Bibel geschaut wird.
Hier dürfte sich von meiner Seite die Frage stellen, ob diese theologische Auseinandersetzung wirklich nicht stattfindet“ Es seien an theologisch gründlich Bücher erinnert wie z.B. Preston Sprinkle „People to be loved“ oder das Gutachten der britischen Evangelischen Allianz, dass 2016 im Brunnen-Verlag Gießen veröffentlicht wurde. Auch gehen evangelikale Kommentare (HTA) gründlich auf die exegetisch relevanten Texte ein. Ob Interview-Aussagen von Grabe hierfür hilfreich sind, wage ich sehr zu bezweifeln, wenn er (bei Christliches Medienmagazin pro) sagt: „Manche Menschen sind so stark durch ihr Gewissen gebunden, dass sie nicht bereit sind, sich auf eine ehrliche und tiefgehende inhaltliche Auseinandersetzung einzulassen. Stattdessen ist die Angst so stark, dass sie aggressiv reagieren und zum Beispiel diejenigen am liebsten aus dem Amt entfernen, die nicht ihrer Meinung sind.“
Aus therapeutischer Sicht kommt Grabe zu dem Ergebnis, dass Homosexualität tief im Wesen des Menschen verankert ist und ebenso wenig änderbar ist wie die Heterosexualität (25). Ausnahmen bestehen, z.B. bei traumatischen Erfahrungen.
Als Theologe möchte ich mir nicht anmaßen hier eine psychologische Frage zu beurteilen. Es gibt verschiedene Berichte und Sichtweisen, aber fachgerecht werde ich diese hier nicht einordnen können.
Mehrfach verweist Grabe in seinem Buch auf die schmerzhaften Erfahrungen Homosexueller in evangelikalen Gemeinden, die in dem Buch „Nicht mehr schweigen“ dokumentiert sind.
Als einer der dieses Buch auch gelesen hat, kann ich bestätigen, dass diese Berichte einem das Herz brechen. Ich stimme zu, dass Homosexuellen in christlichen Gemeinden viel Unrecht angetan wurde, sie lieblos und herablassend behandelt wurden. Hierfür können wir Evangelikalen uns von Herzen entschuldigen und es in Zukunft besser machen!
Schauen wir uns nun den theologischen Bereich an.
Auf 14 Seiten behandelt Grabe die Bibelstellen, die zum Thema Homosexualität etwas aussagen.
Grabe vertritt die Sichtweise, dass der biblische Schriftbefund zu einvernehmlich homosexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenen nichts sagt (ich behandele in der Rezension des Umfangs halber die NT Stellen).
Die Bibelstellen im Korinther- und Timotheus Brief deutet er als Prostitution mit festgelegten Rollen und gleichgeschlechtlichen Sex mit Minderjährigen.
Ebenso vertritt er die Sichtweise, dass Paulus im Römerbrief sich nicht grundsätzlich zur Homosexualität äußern möchte. Paulus, so Grabe beschreibe hier den Exzess von Orgien von mit Frauen verheirateten Römern.
Etwas erstaunt hat mich die Feststellung, dass Grabe eine gründliche theologische Arbeit fordert, diese selbst aber schmerzlich vermissen lässt. Historische Nachlässigkeiten sind an sich zwar nicht dramatisch, wenn das Buch allerdings den Anspruch hat, die Bibelstellen richtig zu verstehen, sind diese historischen Fehler weitreichend.
Grabe hat recht, wenn er darauf hinweist, dass es in der griechisch-römischen Welt sowohl Päderastie (hier wurde mit einem 12-18 Jähriger von einem über 30 sexuell verkehrt) als auch männliche Prostitution für männliche Zielgruppen gab (Dies ergibt sich aus dem Roman „Satyrikon des Petronius“). Grabe übersieht allerdings, dass es auch gleichgeschlechtliche Beziehungen gab, die auf gleicher Ebene und lebenslang waren. So gab es die Eliteeinheit der „Heiligen Schar von Theben, welche aus homosexuellen Liebespaaren bestand. Des Weiteren geben Quellen, wie z.B. die
Schriften Platons (Symposion), an, dass die klassische Epoche Griechenlands homosexuelle Liebesbeziehungen zwischen erwachsenen Männern kannte, welche lebenslang andauerten.
Das die neutestamentlichen Autoren die drei genannten Formen der Homosexualität nicht kannten, ist somit äußerst unwahrscheinlich und eine wahrhaft mutige These, die sich historisch kaum halten lässt.
Die Auslegung, dass die Korinther- und Timotheus Texte nicht von einer gleichberechtigten und einvernehmlichen homosexuellen Beziehung sprechen ist umstritten und m.E. exegetisch sehr fraglich, wenn nicht definitiv falsch. Grabe behandelt die Begriffe arsenokoitai und malakos. Welche er im Sinne von Knabenschänder (arsenokoitai) und Lustknaben (malakos ) versteht.Gemäß dem führenden Neutestamentler N.T. Wright besteht ein Konsens, dass die Begriffe den passiven und aktiven Partner bei einem männlichen homosexuellen Geschlechtsverkehr bezeichnen. Der Begriff „arsenokitai“ besteht aus dem Begriff „arsän“ (=männlich) und aus dem Wortstamm „keimai“ (=liegen). Der Begriff koitäs wird als ein weitverbreiteter Euphemismus für Geschlechtsverkehr verwendet. Somit ist der arsenokitäs als ein Mann zu verstehen, der mit anderen Männern schläft. Und zu malkos kann gesagt werden, dass nicht jeder der mit malkos bezeichnet wurde, den passiven Part im homosexuellen Geschlechtsakt einnehmen musste, aber jeder der diesen Part eingenommen hatte, malkos genannt werden konnte.
Dies dürfte, der Kürze geschuldet, ausreichen um die exegetische Arbeit des Autors einzuschätzen.
Hier muss bei aller Wertschätzung gesagt werden, dass diese einige große Schwächen aufweist und somit die theologische Begründung auf sehr schwachen Beinen steht.
Das Ergebnis des Autors, dass er sich wünscht, dass Gemeinden in Zukunft auch gleichgeschlechtliche Paare trauen und für eine Ehe segnen, gründet auf theologisch schwachen Argumenten. Der Autor wird dem selbstgesteckten Anspruch nicht gerecht, selbst gründlich theologisch sauber zu arbeiten. Mir scheint, dass der Wunsch (welcher sehr verständlich ist) vielmehr die ganze theologische Arbeit überlagert hat.
Das Ergebnis einer sauberen theologischen Arbeit ist dieses Buch leider nicht.
Dieses Buch kann schwer evangelikalen Kreisen helfen weiter über diese wichtige Frage zu diskutieren. Die von Grabe unterschwellig verbreiteten Vorurteile (fehlende Denkarbeit und schlechte und unehrliche Beschäftigung mit der Bibel - 19) eignen sich hierfür nicht, sondern dienen vielmehr der Polarisierung.
Daher ist eine Empfehlung von diesem Buch schwer möglich. Es schafft es leider nicht, dass Thema die Beschäftigung zu geben, die es zweifelsfrei verdient.
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