Murphy Shepherd ist ein Mann voller Geheimnisse. Er lebt auf einer kleinen Insel an der Küste Floridas, allein mit Zitrusbäumen, Rosenstöcken und einer verlassenen alten Kapelle. Eines Tages rettet er eine verletzte Frau namens Summer aus den Fluten der Wasserstraße und von da an ist nichts mehr, wie es war. Er unterstützt sie bei ihrer verzweifelten Suche nach ihrer spurlos verschwundenen Tochter. Dabei fühlt er sich nicht nur immer mehr zu Summer hingezogen, sondern gerät auch in den Strudel dunkler Machenschaften von Mädchenhändlern, die entlang der Ostküste agieren.
Eine fesselnde, temporeiche und dennoch poetische Erzählung von Heldenmut und der heilenden Kraft der Liebe. Inspiriert vom Gleichnis des guten Hirten auf der Suche nach dem verlorenen Schaf.
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Kapitel 1
Eine Woche verging. Ich aß fast nichts. Schlief kaum. Meistens saß ich den ganzen Nachmittag da und starrte aufs Meer. Die Tage vergingen.
Sowohl Maries als auch Fingers’ letzter Wille sahen vor, dass sie eingeäschert werden sollten. Ich ließ es geschehen.
Fingers hatte mich gebeten, seine Asche ans Ende der Welt zu bringen; Marie hatte einen Ort gewählt, der etwas näher an zu Hause lag. In ihrem letzten Brief hatte sie mir aufgetragen, ihre Asche im flachen Wasser vor der Insel zu verstreuen, wo wir als Kinder gespielt hatten. Eine Woche lang stand ich mit der Urne am Strand und sah den Gezeiten zu. Flut, Ebbe. Flut. Ebbe. Aber ich konnte meine Beine nicht dazu bringen, ins Wasser hinauszuwaten. Trotz Maries letztem Wunsch kehrte ich letzten Endes nach Hause zurück und stellte die Urne auf den Küchentisch neben Fingers’ sterbliche Überreste, die ich in seine berühmte orangefarbene Kiste getan hatte. Ein ungleiches Paar und ein seltsamer Anblick. Eine violette Urne und eine hellorangefarbene Box. Ich starrte sie an. Sie starrten zurück.
Eine weitere Woche umkreiste ich sie wie der Mond. Tageslicht. Dunkelheit. Tag. Nacht.
Fingers hatte mir alles beigebracht, was ich wusste. Er hatte mich gefunden. Hatte mich zusammengeflickt, als Hopfen und Malz verloren schienen. In meiner dunkelsten Stunde war ich irgendwo am Strand aufgewacht, ein Schiffbrüchiger mit Algenschaum und Winkerkrabben, die mich in die Nase zwickten. Fingers hatte mich aufgehoben, sauber gemacht, mir zu essen gegeben und mir wieder das Laufen beigebracht. Er hatte mich gerettet, als ich eigentlich nicht mehr zu retten gewesen war. Sein Einfluss auf mein Leben war kaum zu ermessen. Die Stille und Abwesenheit seiner Stimme waren ohrenbetäubend.
Und das Leben ohne Marie war, wie in einer Welt aufzuwachen, der man die Sonne vom Himmel gestohlen hatte. Ich hatte ihren Brief immer bei mir. Las ihn unzählige Male. Ich legte ihn mir im Bett neben das Gesicht, damit ich vielleicht noch ihre Hand riechen konnte, die ihn geschrieben hatte, aber es half kaum. Ich konnte die Uhr nicht zurückdrehen. Aber genauso wenig konnte ich, sosehr ich mich auch mühte, die Endgültigkeit akzeptieren. Es schien unmöglich. Es ging nicht. Wie konnte sie tot sein? Der Gedanke daran, wie sie allein, in Todesangst, mit einem Strick um den Knöchel diese Welt verlassen musste und dabei von Scham und Reue verzehrt wurde, war kaum zu ertragen. Ich hatte bis zur Erschöpfung nach ihr gesucht. Hatte alles gegeben. Ich war so kurz davor gewesen und hatte doch auf ganzer Linie versagt. Als sie mich brauchte, war ich nicht da gewesen.
Vielleicht tat das am meisten weh. Ich hatte mein Leben damit verbracht, Verletzte zu retten, aber bei dem Menschen, den ich am meisten liebte, war es mir nicht gelungen.
Fort George Island liegt nördlich von Jacksonville in Florida und wird von Little Talbot Island vorm Atlantik geschützt. Wer die Wasserwege kennt, kann auf dem Fort George River vom Atlantik durch die Sandbänke und das Flachwasser rund um Little Talbot bis ins ruhige Gewässer um Fort George fahren. Fort George Island ist zwar geschützt, aber keineswegs versteckt. Die Küstenwasserstraße – die die Einheimischen als Clapboard Creek kennen – führt nördlich vom St. Johns River und dem Becken der Naval Station Mayport zum Nassau Sound und nach Amelia Island. Zwischen den beiden verbindet der Fort George River Clapboard Creek mit dem Atlantik.
Das bedeutet, dass man den Fort George River bequem sowohl von der Küstenwasserstraße als auch vom Atlantik her erreichen kann. Daher hat sich die ganze Bootskultur Nordfloridas hier versammelt – inklusive der Reichen, die entweder übers Wochenende auf Amelia, St. Simons oder Sea Island sind oder gleich hier überwintern. Bei Flut sieht der Fort George River aus wie jeder andere Fluss. Wasser überall. Aber nur wenige Zentimeter unter der Oberfläche wartet eine andere Welt. Wenn sich das Wasser zurückzieht, steigen die Sandbänke um Fort George wie Atlantis empor und werden zu einem Spielplatz von der Größe von zwanzig oder dreißig Football-Feldern. An stark frequentierten Wochenenden sieht man hundert Boote vor Anker oder in einer langen Kette miteinander verbunden, alles, von einem Dreimeterkahn bis zu Sportbooten, Mittelkonsolenbooten, Geschossen mit drei Motoren, Schnellbooten und allem dazwischen. Hin und wieder liegt sogar eine 18 oder 23-Meter-Jacht im tieferen Wasser verankert und schickt ihre Beiboote auf den Spielplatz.
Die Wochenenden sind ein Kaleidoskop aus Farben und eine Geräuschexplosion. Die Bootskapitäne erregen auf drei Arten Aufmerksamkeit: durch die Farbe und das Design ihrer Boote, die Bikinifrauen an Bord und die Musik aus den Lautsprechern. Glasflaschen in Kühlbehältern, Campingstühle im Wasser, Kinder auf Flößen, Hunde, die Köderfischen nachjagen, Jungen, die Wurfnetze auswerfen, Jugendliche auf Jetskis, halb zerfallene Sandburgen, Strohhüte in allen Größen und Formen, alte Männer mit Drachen, Einmalgrills und Generatoren, sie alle bestimmen das Geschehen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang sind die Sandbänke von Fort George eine Stadt für sich, die mit den Gezeiten kommt und geht.
Meine Insel ist eine der vielen kleinen Inseln, die Fort George umgeben. Der Zugang zum Tiefwasser über die Küstenwasserstraße im Westen und die flacheren Gewässer des Flusses im Süden und Osten sorgen dafür, dass auch ich von Wasser eingeschlossen bin. Aber anders als Fort George Island ist meine Insel klein und nur mit dem Boot erreichbar. Auf Fort George gibt es Häuser, Kirchen, Klubs, Touristen und eine alte Plantage; auf meiner Insel lebe nur ich.
Und so mag ich es auch.
Ich saß am Küchentisch, schlürfte meinen Kaffee und versuchte, die Urnen nicht mehr anzustarren. Um meinen Händen irgendetwas zu tun zu geben, säuberte ich Fingers’ Pistole. Und dann noch einmal. Und noch einmal. Es gefiel mir, wie abgenutzt sie sich anfühlte. Sie erinnerte mich an ihn und an die unzähligen Male, wie er sie in meiner Gegenwart aus dem Holster zog oder wieder hineinsteckte. Ich versuchte den Klang seiner Stimme oder den von Marie wieder zu hören und stellte mir ihre Gesichter vor, aber beide waren dumpf und verwaschen. Ich konnte sie nicht richtig erkennen. Mit jedem Tag wuchs mein Bedauern, und ich hörte mich immer wieder viele Worte sagen, die ich viel früher hätte sagen sollen.
Fingers’ Abschied war plötzlich gekommen, und obwohl ich immer wusste, dass es so kommen konnte, allein schon aufgrund unserer Berufswahl, war ich doch nicht darauf vorbereitet. Erst war er da, so groß wie das Leben selbst, und mein Herz und Kopf waren voll von ihm – und dann war er fort. Ich ging diesen letzten Tag mit ihm tausend Mal durch. »Wir können mehr Gebiet abdecken, wenn du dir die Küste vornimmst und ich den Horizont«, hatte er gesagt. Wir hätten uns nie aufteilen sollen. Ich hatte es doch eigentlich gewusst: Wenn er Victors Jacht zuerst fand, würde er nicht auf mich warten. Er war älter und vielleicht schon ein Stück langsamer, also wählte er die Holzhammermethode. Der Elefant im Porzellanladen. Mit der Sig Sauer voraus. Er war ziemlich dickköpfig, was das betraf. In dem Augenblick, als er nach der Schwimmleiter der Gone to Market gegriffen hatte, musste er gewusst haben, dass es eine Reise ohne Rückfahrschein war.
Aber deswegen vertrauten die Leute ihm und ließen sich von ihm retten. Und deswegen schwärmten so viele in höchsten Tönen von ihm.
Geschichten waren Fingers’ Ventil, um mit den Erinnerungen umzugehen. Sie sprudelten nur so aus ihm heraus – eine Geschichte hörte auf und die nächste begann. Natürlich musste man erst einmal dafür sorgen, dass er lange genug still saß, aber schon ein Glas mit dem »Saft der Erde« genügte, und die Tore öffneten sich. Und wenn sie es taten, dann setzte ich mich hin, hörte zu, lachte und weinte. Uns allen ging es so.
Ich stand vor der orangefarbenen Box und betrauerte die Stille. Ich musste allmählich in die Gänge kommen, aber ich zögerte es hinaus. Der Verlust eines geliebten Menschen war niederschmetternd. Der Verlust von zweien war ... Egal, wie sehr ich es versuchte oder wie lange ich dasaß und auf den Tisch starrte – es passte nicht in meinen Kopf, dass alles, was ich über sie wusste und mit ihnen erlebt hatte, nun in zwei Behältern in einem Meter Entfernung vor mir stand. Wenn ich aus der Küche ging und wieder hereinkam, wunderte ich mich, dass sie sich nicht bewegt hatten. Violett und Orange glotzten mich noch immer an.
Es war wie ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab.
Am Sonntagnachmittag hatte sich der größte Teil der Partymeute von den Sandbänken zurückgezogen, aber ein Boot kam aus der Küstenwasserstraße und schob eine Bugwelle gegen das ablaufende Wasser vor sich her. Ein 8-Meter-Sportboot mit Doppelmotor, das als Beiboot zu einer der großen Jachten im Kanal gehörte. Zwei Kerle und zehn Mädels. Ohrenbetäubend laute Musik. Sie landeten auf einer Sandbank an, und die jungen Frauen und einer der Jungs stiegen von Bord. Der andere machte das Boot mit zwei Ankern fest, damit es nicht durch den Wind gedreht wurde und im Flachwasser auf Grund lief und er gute acht Stunden warten musste, bis er es wieder flottbekam. Offensichtlich wusste er, was er tat.
Seine Gäste verteilten sich auf der Sandbank und bauten ein Volleyballnetz auf. Die beiden Kerle waren nichts Besonderes. Tätowiert. Muskelbepackt. Ketten und Ohrringe. Wie alle anderen Möchtegerns auch. Aber die jungen Frauen waren bemerkenswert. Genau wie die Knappheit ihrer Bikinis. Das Bier und die Schirmchendrinks flossen, der Sonnenuntergang näherte sich und die Sandbank wurde bald zur Bühne eines Oben-ohne-Tanzwettbewerbs.
Das alles hatte ich schon so oft gesehen.
Ich ließ den Partylärm hinter mir und watete mehrere Hundert Meter durch das hüfthohe Wasser. Dann holte ich die Krabbenfalle ein, hob eine wütende Blaukrabbe heraus, steckte sie auf einen mittelgroßen Kreishaken und warf ein Carolina Rig in die tiefe Wasserstraße aus. Zwanzig Minuten später fing die Bremse meiner Rute an zu singen. Ein großer Roter Trommler blinkte, durch die Gerbstoffe im St. Johns und St. Marys River bronzen gefärbt, im Wasser. Sauber am Haken.
Ein Roter Trommler ist eine ordentliche Mahlzeit. Das Essen war also geklärt.
Fingers’ wasserdichte Box hatte den Erdball vermutlich ein halbes Dutzend Mal umrundet. Ein letzter Trip machte den Kohl also auch nicht fett. Ich schätze, es würde Fingers sogar gefallen. Außerdem würde die Box, falls das Boot voll Wasser lief, als eine Art Rettungsboje fungieren und womöglich mein Leben retten – Fingers’ Spezialität. Auf der Fahrt gen Süden erwarteten mich mehrere Hundert Meilen launisches und streckenweise unerbittliches Gewässer. Also plante ich genauso wie Fluggesellschaften – »Im unwahrscheinlichen Fall von Druckverlust in der Kabine«. Unwahrscheinlich, aber möglich. Ich machte Fingers’ Box auf dem Bug fest, weil ich wusste, dass ihm der Fahrtwind gefallen würde.
Eigentlich wollte ich den Whaler am Nachmittag für meine Fahrt an der Küste entlang vorbereiten, aber immer wieder blieb mein Blick an der Box hängen. Ich dachte an die vielen Male, als Fingers getan hatte, was er besonders gut konnte – alles besser machen. Vor Jahren hatte ich dem Whaler den Namen Gone Fiction gegeben aus Gründen, die nur mich etwas angingen. Fingers meinte, das sei ein bescheuerter Name. Ich erwiderte, er solle sich doch ein eigenes Boot kaufen, denn der Name würde nicht mehr geändert. Er wusste, wieso, und beließ es dabei.
Ich machte einen Ölwechsel. Dann tauschte ich den Propeller gegen einen mit mehr Steigung aus, der auf lange Strecken die Drehzahl des Motors bei höheren Geschwindigkeiten etwas reduzierte. Ich wollte Sprit sparen und zugleich die Höchstgeschwindigkeit auf über fünfundvierzig Knoten bringen, damit das Boot optimal im Wasser lag.
Ich räumte die Rechnungen von meinem Schreibtisch und setzte mich an die eine Sache, vor der es mir gegraut hatte. Ich verfasste die E-Mail, die ich niemals schreiben wollte. Und dann noch eine. Wie sagt man jemandem, dass ein geliebter Mensch gestorben ist? Ich weiß nicht, ob ich darauf eine Antwort geben kann. Als ich fertig war, starrte ich auf den Bildschirm. Eine geschlagene Stunde. Ein Anruf wäre besser gewesen – sie hätten es in jedem Fall verdient –, aber ich hatte nicht die Kraft dazu. Ich hätte meine Gefühle nicht unter Kontrolle halten können. Also drückte ich auf Absenden, fuhr den Rechner herunter, schaltete das Mobiltelefon aus und wollte gerade überall das Licht löschen, als es klopfte. Das Klopfen hallte von der schweren Tür durch den Regen über die Wiese und bis hinein in das Fenster im ersten Stock der Scheune, wo mein Arbeitszimmer lag. Weil ich von Wasser umgeben lebe, sind Besucher sehr selten. Ich wartete, aber da war es wieder, dieses Mal begleitet von einer gedämpften Frauenstimme.
Einer jungen Frauenstimme.
Ich zog mir ein Hemd über, kletterte die Leiter hinunter, überquerte den Hof im Regen und schlich barfuß durch die Dunkelheit, bis ich ihren Rücken sehen konnte. Selbst von hinten war sie hübsch.
»Hallo«, sagte ich.
Sie machte einen Satz, fiel in die Hocke und schrie. Dann lachte sie erleichtert und zugleich verunsichert auf, als ich an ihr vorbei ins Licht trat.
Sie stand auf und richtete den Zeigefinger auf mich, aber sie zeigte knapp daneben und ihre Worte waren etwas undeutlich, fast lallend. »Man soll sich nich’ so an Leute anschleichen. Jetzt muss ich wirklich pinkeln. Haben Sie offen?«
Ich klappte den Riegel hoch und schwang die massive Eichentür auf. Unsere Bewegung löste die Bewegungslichter aus, und ich konnte sie besser sehen. Sie war wirklich eine schöne junge Frau. Modelgesicht. Laufstegbeine. Pilatesfigur. Barfuß, mit schlammigen Rändern. Sie hielt sich eine Regenjacke über den Kopf, um sich vor dem Nieselregen zu schützen, und lachte peinlich berührt. »Sie haben mir vielleicht einen Riesen...« Auf einmal nahm sie ihre Umgebung wahr und schlug eine Hand vor den Mund.
»Ich, äh ... mit Ihnen habe ich nicht gerechnet. Entschuldigung.«
Ich hatte sie schon auf der Sandbank gesehen.
Charles Martin
Charles Martin ist New York Times-Bestsellerautor und hat bereits zwölf Romane verfasst. Er lebt mit seiner Frau Christy in Jacksonville in Florida. Mehr über Charles Martin auf www.charlesmartinbooks.com
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