Als FBI-Agent Paul Falcon die Polizistin Ann Silver kennenlernt, ist er augenblicklich fasziniert. Ihre Ermittlungen könnten ihm zum Durchbruch
in einem wichtigen Fall verhelfen – und sie ist ohne mit der Wimper zu zucken bereit, ihm das Feld zu überlassen. Außerdem scheint jeder sie zu kennen. FBI-Kollegen, Spione, US-Marshals und selbst der frühere Vizepräsident vertrauen ihr zutiefst. Wer ist Ann? Je mehr Paul über sie erfährt, desto neugieriger wird er.
Bald hält ihn nicht nur die Jagd nach der gewieftesten Auftragskillerin aller Zeiten in Atem, sondern auch das mysteriöse Geheimnis, das sich Ann nennt.
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Kapitel 1
„Ich bin gerade vor Ort eingetroffen. Es gibt vier Tote, aber Jackie wurde nicht verletzt. Sobald ich mehr weiß, melde ich mich wieder, Dad.“ FBI Special Agent Paul Falcon parkte hinter einem Streifenwagen der Chicagoer Polizei. Während er sein Handy zurück in seine Tasche schob, richtete sich sein Blick bereits auf die blauweiße Restaurantmarkise, über deren Stoff sich der Name Falcons zog. Es war kurz nach dreiundzwanzig Uhr und die sonst dunkle Straße wurde von den flackernden Blinklichtern auf den Einsatzwagen beinah taghell erleuchtet.
FBI Agent Sam Truebone kam Paul entgegen, als er zwischen dem Notarztwagen und dem Wagen der Spurensicherung hindurchging.
„Ich habe Jackie gesehen und mit ihr gesprochen“, sagte Sam sofort. „Deine Schwester ist wütend, aber wohlauf.“
Paul spürte, wie sich seine Anspannung legte. Als die Schießerei stattgefunden hatte, war er am anderen Ende der Stadt gewesen, und die Fahrt hierher hatte sich angefühlt wie ein Albtraum. „Wer leitet die Ermittlungen?“
„Lieutenant Sinclair.“
Die Polizei von Chicago hatte einen der führenden Beamten ihrer Mordkommission geschickt. Die Frau war nicht schwer auszumachen, da sie die Führung am Tatort übernommen hatte und permanent Leute auf sie zugingen und sich wieder von ihr entfernten. Paul lief zielstrebig auf sie zu.
„Hallo, Kate.“
„Deiner Schwester geht es gut.“
„Das habe ich schon gehört.“
„Einer der Läden deines Vaters“, fügte sie hinzu.
„Wie immer.“ Das Imperium seines Vaters war so groß, dass die Familiengeschäfte überall auftauchten, wo er hinsah. „Brauchst du Hilfe?“
Sie warf ihm ein Lächeln zu. Nicht so eins, wie er es sonst von ihr gewohnt war – herzlich, einladend, oft belustigt –, sondern ein Polizistinnenlächeln, kühl und abschätzend, jedoch nicht auf Konfrontation aus. „Es macht mir nichts aus, mit dem FBI zusammenzuarbeiten, wenn es mir passt, und in diesem Fall passt es mir. Dieser Schütze ist einer von eurer Liste.“
„Das passt dazu, wie dieser Abend sich entwickelt. Wer ist es?“
„Andrew Waters. Wir haben ihn auf Band. Rick Ulaw, verdeckter Ermittler der Drogeneinheit im sechzehnten Bezirk, hat mit seiner Frau hier zu Abend gegessen. Waters ging an seinen Tisch und schoss ihm zweimal in den Rücken und einmal in den Kopf. Dann hat er drei Zivilisten getötet, die ihm im Weg waren. Er hat den Tatort in einer dunkelblauen Limousine verlassen. Sein Foto wurde an jeden Polizisten im Bundesstaat geschickt und in den Nachrichten ist es auch gerade veröffentlicht worden. Wenn er in Chicago ist, gehört er uns. Wenn er entwischt ist, kannst du mir helfen, indem du ihn zurückholst, damit ich ihn einbuchten kann.“
„Du bekommst alles, was wir über ihn haben, innerhalb der nächsten Stunde. Und ich übernehme persönlich jeden Job, den du mir geben willst. Wenn du möchtest, dass Plakate an die Telefonmasten in Mexiko geklebt werden, dann bin ich dein Mann.“
„Ich habe schon Marcus angerufen und ihm gesagt, dass Quinn heute Nacht die Verfolgung koordinieren soll. Überlass mir Sam und gib mir Christopher Zun dazu. Ich mag ihn.“
„Du bekommst sie.“
Kate war mit einem FBI-Agenten verheiratet, gut mit dem Leiter der US Marshals befreundet und in der Chicagoer Polizei zu Hause. Sie würde bekommen, was immer sie brauchte, um den Fall aufzuklären. Und er war klug genug, ihr freie Hand zu lassen. Wenn die Möglichkeit bestand, Waters noch in dieser Nacht dingfest zu machen, würde Kate dafür sorgen, dass es geschah. Die Arbeit konnte Paul delegieren, die Familienangelegenheiten jedoch nicht. Und im Moment musste er sich um seine Familie kümmern.
Kate hatte offenbar den gleichen Gedanken wie er. Sie deutete mit dem Kinn in Richtung Restaurant. „Geh und rede mit deiner Schwester. Sie sollte nach Hause gehen. Wir haben die Sache hier unter Kontrolle. So hässlich dieser Fall auch ist, er ist wenigstens klar. Ich werde den Spuren nachgehen, um herauszufinden, wer Waters angeheuert hat, um einen Polizisten umzulegen, und dann jage ich ihn irgendwo in ein Rattenloch.“
„Waters hat keine Familie oder Freunde in Chicago, soweit wir wissen, aber er hat Beziehungen zum Lacomb-Verbrechersyndikat, und die arbeiten so weit im Norden.“
„Danke.“
Paul nickte und ging ins Restaurant. Er wusste, wem er trauen konnte, und Sam und Kate konnte er trauen. Der Fall und die Verfolgung des Täters waren in guten Händen.
Waters. Der Name war ihm tatsächlich gleich in den Sinn gekommen, als er die Nachricht von der Schießerei erhalten hatte. Paul wusste, wie der Mann arbeitete, und der ursprüngliche Bericht hatte nach seiner Vorgehensweise geklungen. Waters war für neun Morde angeheuert worden und die Anzahl der zusätzlich von ihm zu verantwortenden Leichen lag inzwischen bei sechzehn. Jetzt waren es zehn bzw. neunzehn. In Virginia hatte die Polizei Waters’ Wagen gerammt, in Boston hatte man ihn in die Ecke getrieben und in Philadelphia war er einmal angeschossen worden, aber noch nie war jemand nah genug an ihn herangekommen, um ihm Handschellen anzulegen. Vor drei Jahren war er in Mexiko untergetaucht und sie hatten seitdem erfolglos versucht, ihn ausfindig zu machen. Diesmal hatte er nicht einmal eine Stunde Vorsprung. Vielleicht erwischten sie ihn heute Nacht.
Der Essbereich des Restaurants zeugte von dem Chaos der Ereignisse – umgefallene Stühle, zurückgebliebene Mahlzeiten, die Gewalt an Tisch zweiundzwanzig. Die Leiche von Officer Ulaw war bereits abtransportiert worden, ebenso wie die von zwei der Zivilisten. Leiche Nummer vier wurde gerade noch vom Gerichtsmediziner untersucht. Es handelte sich um die der Bedienung, die ebenfalls erschossen worden war. In der Luft hing der Geruch von Blut und Schießpulver, überlagert allerdings von dem Gestank angebrannten Essens.
Dieses Ausmaß an Gewalt war völlig unnötig gewesen. Waters hätte den Detective auf dem Parkplatz erschießen können oder auf einer menschenleeren Straße oder in seinem Auto an einer Ampel. Stattdessen hatte er sich jedoch dafür entschieden, sein Opfer in einem vollen Restaurant zu töten. Er genoss es, wenn andere seine Gewalttaten sahen; es machte ihm Spaß, unbeteiligte Personen zu erschießen, die ihm im Weg waren. Sie würden ihn fangen müssen, um das Ganze zu beenden. Waters liebte das Töten zu sehr, um jemals damit aufzuhören. Wenn Kate ihn heute nicht schnappte, würde Paul es irgendwann in der Zukunft tun. Ein Falcon hörte nicht auf zu jagen – das war eine Art Familienmotto.
Während Paul den Tatort betrachtete, ertappte er sich dabei, wie er sich wünschte, seine Ladykillerin wäre hierfür angeheuert worden anstatt Waters – wenigstens wäre dann niemand umgekommen, nur weil er zufällig in der Nähe gewesen war. Sie hatte nie auf jemand anderen geschossen als auf ihr Ziel und hatte ihr Opfer nie dort getötet, wo seine Familie den Tod mit ansehen konnte oder ein Kind zugegen gewesen war. Sie hatte dreißig Leute in den Kopf geschossen, aber für sie war es eine Arbeit, die sorgfältig und präzise zu erledigen war. Und sie hatte seit neun Jahren nichts mehr von sich hören lassen. Er war nie nah dran gewesen, sie zu fangen, aber sie war ihm im Gedächtnis geblieben. Und insgeheim jagte er sie noch immer.
Er war der beste FBI-Beamte, was die Aufklärung von Morden betraf, und Auftragskiller standen auf seiner Prioritätenliste weiterhin ganz oben. Heute Abend bedauerte er mehr denn je, dass er Waters nicht rechtzeitig geschnappt hatte. Vorsichtig durchquerte Paul den Raum und folgte dem Klang der Stimmen, die aus der Küche zu ihm herüberdrangen.
Sein Vater würde bei Tagesanbruch hier sein und tun, was er konnte, um den Familien der Opfer zu helfen und denen, die Zeuge der Gewalt geworden waren. Das Falcons würde seine Türen erst wieder öffnen, nachdem es entkernt und die Bilder der Tragödie ausgelöscht worden waren.
Und wenn es wieder öffnete, würde sein Vater an der Tür stehen und die ersten Gäste persönlich begrüßen. Paul kannte seinen Dad.
Und er kannte seine Schwester. „Nicht werfen, Jackie.“
Er duckte sich, als eine weiße Rührschüssel auf ihn zugeflogen kam. Sie traf die Tür und schlug dann auf dem Boden auf, wo sie in Stücke zerbarst.
„Du jagst den Kerl seit Jahren und hast ihn immer noch nicht geschnappt? Du lässt zu, dass er da draußen herumläuft und meinen Gästen, meinem Restaurant so etwas antut?“
Paul wich einer zweiten Schüssel aus. Er hatte ihr das Werfen beigebracht, als sie noch klein gewesen war, und offensichtlich hatte er ganze Arbeit geleistet. Rasch hob er eine Hand und zeigte mit dem Finger auf seine Schwester. Sie zögerte, die dritte Schüssel in der Hand, und stellte sie dann auf die Arbeitspatte.
„Der Abend war nicht gut. Tut mir leid.“
Er war jetzt nah genug, sodass er einfach den Arm um ihre Schultern legen und sie umarmen konnte.
„Vier Menschen sind tot, Paul. Vier.“ Ihre Stimme klang gedämpft durch sein Hemd.
Er fuhr mit der Hand über ihr Haar und atmete aus. „Ich bin froh, dass du nicht einer von den vieren bist.“
„Trish hat seit einem Jahr für mich gearbeitet. Sie war so ein liebes Mädchen.“
„Niemand wird ruhen, bis dieser Kerl geschnappt ist. Das ist alles, was wir tun können, und wir werden es tun.“
„Er hat einen Polizisten ermordet.“ Ihre Stimme zitterte. „Das ist dein Tisch, wenn du hier isst. Er hätte genauso gut dich abknallen können.“
„Hat er aber nicht.“
Er konnte die Kraft und Leidenschaft fühlen, die Jackie ausströmte. Ein Absperrband markierte den Tatort und damit den Bereich, den seine Schwester nicht betreten durfte, aber was sie hatte erreichen können, war geschrubbt und aufgeräumt worden. Die Grills und Herde blitzten, die Lebensmittel waren verpackt und verstaut. Wenigstens lief sie nicht davon, sondern machte ihren Anspruch auf diesen Ort deutlich. Die Familie würde ihr helfen.
„Komm, lass uns gehen, Jackie. Ich bringe dich nach Hause und morgen kümmern wir uns um den Rest hier.“
Sie griff nach einem Beutel, in dem sich ihre Rezepte und ihre persönlichen Kochmesser befanden sowie die Kladde, die sie als ihren Geschäftsplan betrachtete. „Kannst du mit Sirene fahren, damit wir nicht eine Stunde brauchen?“
„Blaulicht ja, Sirene nein. Du wolltest doch in einem Vorort wohnen.“
„Du lebst im vierten Stock eines Gebäudes ohne jegliches Grün. Ich wollte etwas Besseres aus meinem Leben machen.“
Paul lächelte erleichtert, als er die übliche Spitze hörte. Sie gingen durch den Hintereingang hinaus, durch die Gasse und hinten herum zu seinem Wagen, um den Medien aus dem Weg zu gehen, die auf der Jagd nach einem Foto und einer Story waren. Dann brachte er seine Schwester nach Hause.
Paul betrat das Hauptquartier der Chicagoer Polizei um 4 Uhr 17 in der Früh, passierte den Sicherheitscheck und ging zielstrebig zu Lieutenant Kate Sinclair in die Kommandozentrale im dritten Stock. In dem verdunkelten Raum drängte sich ein ganzer Haufen Leute, die eine Live-Übertragung an der Wand verfolgten, die von einem Polizeihubschrauber eingespielt wurde.
Sam kam auf ihn zu und reichte ihm einen Kaffee. „Er ist auf der Interstate 74 in Richtung Westen unterwegs. Zwei Polizisten haben Waters und das Fahrzeug an einer Ampel am Stadtrand von Peoria identifiziert und verfolgt. Er hat ein paar Schüsse abgefeuert, dann hat er versucht, eine Böschung hinunterzufahren, um dem Streifenwagen zu entkommen, und dabei seinen Wagen demoliert. Er fährt jetzt vor ihnen und verliert Öl. Weitere Wagen sind angefordert, um ihn einzukesseln. Die Staatspolizei wird ihn bei Sanders Point aufhalten.“
Ein grelles Licht flammte auf und machte den Raum auf einen Schlag taghell.
Die Kamera des Helikopters stellte scharf und ein brennendes Wrack erschien auf der Leinwand – unbeweglich, zerschmettert, Flammen werfend.
Die Streifenwagen, die das fliehende Fahrzeug verfolgt hatten, kamen ins Blickfeld der Kamera und hielten in gebührendem Abstand. Der Pilot des Hubschraubers hatte bei der Explosion das Steuer he-rumgerissen und schwenkte jetzt über eine merkwürdig dunkle Stelle, um dann ein Stück von der Unfallstelle entfernt in der Luft stehen zu bleiben.
„Was ist passiert? Macht eine Kopie und spielt sie auf dem zweiten Monitor ab“, befahl Kate.
Der Unfall wurde noch einmal gezeigt.
„Sieht nicht so aus, als hätte er die Kontrolle verloren. Er ist mit hundertfünfzig Sachen in einen Strommast gerast“, sagte ein Polizist neben ihr.
Die Aufnahme wurde zurückgespult und noch einmal gezeigt. Der Beamte nickte und benutzte seinen Zeigestock, um über einen Teil des Bildes vor und nach dem Crash zu fahren. „Der Transformator ist in die Luft geflogen und hat einen Stromausfall in den umliegenden Häusern verursacht. Seht mal, dort, wo die Lichter nicht mehr an sind.“
Sam trat einen Schritt zur Seite, damit er das Video besser sehen konnte. „Dieses Ende hätte ich nicht erwartet.“
„Mir ist diese Lösung eindeutig lieber als eine Schießerei mit der Polizei“, sagte Paul. Es war vorbei. Waters war gestorben, ohne noch mehr Polizisten mit in den Tod zu reißen, und das war eine Erleichterung.
Kate, die vor der Leinwand stand, die Hände in den Hosentaschen vergraben, beobachtete, wie die Polizisten vor Ort jetzt mit Feuerlöschern versuchten, den Brand einzudämmen. Paul trat vor und gesellte sich zu ihr. „Tut mir leid, Kate. Du wirst ihn nicht mehr fragen können, wer ihn angeheuert hat.“
„Ich kriege es trotzdem heraus.“ Sie drehte sich um und sah ihn an. „Dieser Teil des Falls ist abgeschlossen, abgesehen vom Papierkram. Hast du was dagegen, wenn ich deine Jungs noch ein paar Stunden damit beschäftige, nach dem Warum zu fragen?“
„Kein Problem. Danke, dass du meine Arbeit gemacht hast.“
Sie lächelte kurz. „Du hättest zu Recht darauf bestehen können, den Fall zu übernehmen. Aber das hast du nicht, also würde ich sagen, dass wir quitt sind. Tut mir leid, dass es in einem Lokal deiner Familie passiert ist.“
„Komm vorbei, wenn nächsten Monat die Neueröffnung ist, und sei mein Gast. Und falls du Hilfe brauchen kannst, um herauszufinden, wer einen Auftragskiller angeheuert hat, um deinen Polizisten umzulegen, lass es mich wissen.“
„Mach ich.“
Er nickte und ging in Richtung Tür.
„Paul?“
Er drehte sich um.
„Wenn sie dir den Topjob anbieten, nimm ihn.“
Er lächelte. „Warum bedrängst du mich so, schöne Kate?“
„Solange ich zurückdenken kann, ist dies das erste Mal, dass die örtliche Polizei und das FBI nicht versucht haben, sich gegenseitig in den Chicago River zu schubsen. Ich gewöhne mich allmählich an dich.“
„Ich muss gestehen, dass es mir ähnlich geht.“ Sie hatte einen guten Freund von ihm geheiratet und mit jedem Jahr, das verging, mochte er diese Chicagoer Polizistin ein wenig mehr. „Ach, und Kate?“ Er hob seinen Becher hoch. „Das FBI hat immer noch den besseren Kaffee.“
Ihr Lachen folgte ihm, als er ging. Den Tag, der vor ihm lag, würde Paul mit nur zwei Stunden Schlaf überstehen müssen, denn er hatte um sieben Uhr die erste Besprechung, aber es würde trotzdem ein guter Tag werden.
Das FBI-Büro in Chicago verfügte über Explosionssperren am Straßenrand und mehrere andere Sicherheitsvorkehrungen, die es zu bewältigen galt, bis man zu den Aufzügen kam. Da sie diesen Prozess in der Vergangenheit schon einige Male durchlaufen hatte, ließ Ann ihren wissenden Blick durch den Eingangsbereich schweifen und ging zielstrebig auf einen der erfahreneren Beamten an der Rezeption zu. Sie zeigte ihm ihre Marke. „Officer Ann Silver. Ich möchte gerne mit Special Agent Paul Falcon sprechen.“
„Haben Sie einen Termin, Ma’am?“
„Nein.“
Er erkannte den Polizeibezirk auf ihrem Ausweis nicht, war aber so höflich, das nicht zu sagen. „Ich müsste nur Ihre Daten überprüfen, Ma’am. Haben Sie eine Visitenkarte mit der Telefonnummer Ihrer Abteilung?“
Sie zog eine aus ihrer Tasche. „Fragen Sie nach dem kommissarischen Sheriff.“
Er nahm den Hörer vom Telefon und tätigte den Anruf.
Ihr Büro stellte den Anruf durch. Das Telefon in ihrer Tasche klingelte.
„Hallo.“ Sie klappte das Handy mit einem Lächeln zu. „Tut mir leid, ich konnte nicht widerstehen.“
Er lehnte sich gegen den Tresen und erwiderte ihr Lächeln. „Kleine Abteilung?“
„Sie haben gerade mit dem gesamten Personal gesprochen.“
„Jetzt stecken wir in einer Zwickmühle.“
„Wie wäre es hiermit: Ich bin nach Chicago gekommen, um heute Abend das Spiel der Cubs gegen die Cardinals zu sehen – und ich habe Karten in der dritten Reihe hinter der ersten Base ergattert. Rufen Sie Agent Falcon an und bitten Sie ihn, in die Lobby zu kommen. Ich will ihm zwei Fotos zeigen. Wenn sich herausstellt, dass ich seine Zeit verschwendet habe, können Sie die Karten für das Spiel behalten.“
„So sicher sind Sie sich Ihrer Sache?“
„Das bin ich.“
„Um welchen Fall geht es denn?“
„Ich habe keine Ahnung, welche Aktennummer es ist. Sagen Sie ihm, es geht um die Killerin, die er seit mehreren Jahren jagt.“
Der Beamte am Empfang tätigte den Anruf. „Er kommt runter“, sagte er zu ihr, „aber es kann ein paar Minuten dauern. Sie werden feststellen, dass die Bank bequemer ist als die Stühle.“
„Danke.“ Sie ließ sich darauf nieder, um zu warten, und zog aus reiner Gewohnheit ein Buch aus ihrer Tasche. Es machte ihr nichts aus zu warten. Der heutige Tag war einem Urlaubstag ähnlicher als alles, was sie in diesem Jahr gehabt hatte, und wenn sie noch einen Fall von ihrem Schreibtisch bekommen konnte, umso besser. Nach dem Spiel wollte sie nach Hause fahren, heiser und mit Hotdogs und Popcorn vollgestopft. Wenn ihre Zeitplanung aufging, würde sie früh genug im Stadion sein, um den Spielern beim Training zusehen zu können und das eine oder andere Autogramm zu ergattern.
„Officer Silver?“ Der Beamte am Empfang deutete mit einem Nicken auf den Mann, der aus einem der Aufzüge stieg. „Da ist er.“
Sie erhob sich von der Bank und wartete, während Special Agent Falcon durch die Sicherheitsschleuse kam. Er war ein groß gewachsener Mann, dessen Gang Autorität ausstrahlte, und sein Anzug kam nicht von der Stange. Sie hatte genügend Nachforschungen angestellt, um mit seinem Ruf und seiner Arbeit vertraut zu sein. Trotz seines Rangs und Dienstalters arbeitete er lieber an Fällen, als ein Amt zu leiten. Er hielt sich so weit von der FBI-Politik fern, wie ein Beamter der Mordkommission es nur tun konnte, und deshalb war er der Mann, der etwas mit dem anfangen würde, was sie hatte. Im Moment funktionierte er mit zu viel Kaffee und zu wenig Schlaf, dachte sie, als sie den Kaffeebecher in seiner Hand sah und die düsteren Schatten um seine Augen. Sie hätte sich fragen können, woran das lag, aber sie hatte selbst zu viele Tage ohne Schlaf verbracht, um daran irgendetwas ungewöhnlich zu finden.
„Agent Falcon, das ist Officer Ann Silver.“
Sie entfernte sich einige Schritte von den anderen im Eingangsbereich, öffnete ihren kleinen Koffer und holte zwei Fotos heraus. Sie machte sich keine Mühe, etwas zu erklären, sondern hielt sie ihm einfach hin. Er nahm die Bilder. Seine Armbanduhr sah teuer aus und der Ring war von der FBI-Akademie. Sie hatte angenommen, dass er verheiratet war, aber an seiner Linken trug er keinen Ring.
Sie sah Wut in seinen Augen aufblitzen, als er die Morde erkannte. Da die Fotos Kopien von denen in seiner eigenen Akte waren, hatte sie vermutet, dass er so reagieren würde. Er hob den Kopf und warf ihr einen Blick zu. Sie akzeptierte die Verärgerung, die darin lag, weil sie sie verdient und weil sie genau darauf spekuliert hatte. Aus gutem Grund hatte sie diese beiden Morde aus den dreißig ausgesucht, die diese Frau begangen hatte. Aber im Grunde genommen waren die Fotos nur ein Vorwand für ihren Besuch. Das, was sie ihm mitteilen wollte, würde sie nirgends aufschreiben. „Ich habe den Kerl, der ihre Dienste vermittelt hat, in meiner Leichenhalle“, sagte sie leise, ohne Umschweife, und ließ die Worte in der Stille zwischen ihnen hängen. Sie wusste, was sie bedeuteten.
Und er wusste es auch. Er betrachtete ihr Gesicht, wägte das, was sie gesagt hatte, ab, dann wanderte sein Blick zu dem Ausweis an ihrem Gürtel und er nickte in Richtung Aufzug. „Kommen Sie mit mir nach oben.“
Der Beamte am Empfang lächelte, als er ihr einen Besucherpass reichte. Sie befestigte ihn an ihrer Jacke und folgte Agent Falcon zum Sicherheitsscanner, wo sie ihre Taschen in einen Korb ausleerte.
„Ihre Waffe müssen Sie abgeben, Ma’am. Sie können sie wieder abholen, wenn Sie fertig sind“, sagte der Sicherheitsbeamte.
„Nein. Sie können mir einen Passierschein für meine Waffe geben. Bitte tun Sie das.“
„Ich kann einen solchen Passierschein nicht ausstellen ohne –“
„Ich bürge für sie.“ Der Leiter der Antiterror-Abteilung für den Mittleren Westen war unbemerkt hinter sie getreten und unterbrach den Beamten jetzt. „Geben Sie ihr den Schein. Wie geht es dir, Ann?“
„Ich will heute Abend zum Spiel.“
Er war jetzt am Aufzug, hielt ihr aber die Tür auf, bevor er selbst eintrat. „Ach ja? Brauchst du eine Begleitung?“
„Lisa war schneller.“
„Schade. Ruf mich an, bevor du gehst. Der Antrag auf Abhörung ist genehmigt.“
„Hättest du diese Neuigkeit nicht bis nach dem Spiel aufheben können?“
Er grinste. „Passen Sie gut auf sie auf, Falcon. Ich schulde ihr noch zwei Bußgelder wegen überhöhter Geschwindigkeit.“
Ann steckte ihren Passierschein an und stopfte ihr Hab und Gut wieder in ihre Taschen. Sie wartete, bis sie im Aufzug allein waren. „Seine Mutter ist meine Nachbarin“, sagte sie, obwohl sie nichts erklären musste. Aber sie hatte sich überlegt, dass es nicht schaden konnte, gar nicht erst irgendwelche Spekulationen aufkommen zu lassen.
Der Agent lächelte. „Ich habe nicht gefragt.“
„Das brauchten Sie auch nicht.“
Im sechsten Stock folgte sie ihm einen langen Flur entlang. Paul Falcon arbeitete in einem Büro, das eine ordentliche Größe hatte, aber die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch sahen unbequem aus. Ann wählte den an der Wand und ließ ihren Koffer auf den anderen fallen. Dann stellte sie ihr Diktiergerät auf den Tisch und schaltete es ein.
„Vor vier Wochen gab es auf der Interstate 72 einen Unfall. Der Fahrer starb. Irgendetwas war merkwürdig an der Sache, also hat die Polizei mich zu Rate gezogen. Stellen Sie sich heftigen Regen vor, einen wolkenverhangenen Mond und Lastwagenfahrer, die in einem Konvoi Getreide abtransportierten, weil die Schiffe auf dem Fluss sich an einer defekten Schleuse stauten. Keine ideale Situation für die Untersuchung eines Autounfalls. Der Wagen hatte sich gedreht, überschlagen und war auf dem Dach in einem Bohnenfeld gelandet. Dabei hatte er einen kleinen Metallcontainer, sechs Zaunpfähle und ein paar Meter Elektrozaun und Stacheldraht mitgenommen. Der Angus-Bulle auf dem Feld mit dem Stacheldraht war nicht glücklich über das Blaulicht und den ständigen LKW-Verkehr, und da er eine sechsstellige Summe wert war, bekam er zeitweilig genauso viel Aufmerksamkeit wie der Unfallwagen, nachdem sicher war, dass der Fahrer tot war und die Feuerwehr gebraucht wurde, um ihn herauszuschneiden.“
Ann sah Falcon an, während sie sprach, und lächelte ein wenig, als sie die Pause-Taste des Tonbandgeräts drückte. „Holen Sie sich was zu trinken, gehen Sie auf und ab, schneiden Sie vor dem Fenster Grimassen, was auch immer … ich erzähle lange Geschichten, genieße das Erzählen und habe nicht vor, alles später noch einmal zu wiederholen, wenn Sie wissen, wem Sie diesen Fall übergeben wollen. Also erzähle ich so, wie es mir passt, und nehme alles auf, dann wissen Sie anschließend, was ich weiß. Ich werde nicht noch einmal in den Norden fliegen, nur weil ich eine Einzelheit vergessen habe, die Sie irgendwann vielleicht brauchen.“
Die ganze Angelegenheit machte ihr Spaß, stellte Paul fest, und ihre Geschichte würde offensichtlich eine interessante Wendung nehmen. Sie hatte ihre Äußerung in der Lobby mit hervorragendem Timing vorgebracht. Allem Anschein nach hatte sie das Zeug zu einer guten Geschichtenerzählerin und erzählte gerne Geschichten. Und er hatte das Gefühl, dass sie ihre anfänglichen Worte mit knallharten Fakten untermauern würde. „Was kann ich Ihnen zu trinken anbieten?“
Ann beschloss, dass sie Pauls Lächeln mochte, und erwiderte es. „Koffeinfreie Cola light, wenn Sie welche haben, heißen Kakao, wenn Sie wollen, dass ich eine Weile den Mund halte, oder Limonade, wenn Sie auf Streit aus sind.“
Er öffnete den kleinen Kühlschrank unter seinem Schreibtisch und reichte ihr eine Cola light ohne Koffein, zog ein Malzbier für sich selbst heraus und lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück.
„Dafür, dass die Cola so schön kalt ist, gibt es Bonuspunkte.“ Ann drehte den Verschluss auf und stellte das Diktiergerät wieder an. „Da der Beamte vor Ort ein argwöhnischer Kerl ist und ich ihm darin selbst an guten Tagen in nichts nachstehe, haben wir uns die Zeit genommen, eine Plane über das Auto zu legen, bevor wir uns um den sechsstelligen und sehr wütenden Bullen kümmerten. Die Plane konnte die Sturzflut, die vom Himmel herunterkam, nicht ganz abhalten, aber so lief nur wenig Wasser in das Fahrzeug.
Die Feuerwehr von Caldwell County kam, um das Wrack aufzuschneiden, der Gerichtsmediziner holte die Leiche heraus, und alles, was nicht Dreck, Bohnen oder Gras war, wurde auf eine Pritsche geladen, wieder mit der Plane bedeckt und zur Untersuchung in ein gesichertes und zum Glück trockenes Lagerhaus gebracht.
Es gibt so viele Videoaufnahmen und Fotos vom Unfallort, dass man das Gefühl hat, selbst dabei gewesen zu sein. Allerdings sind durch die vielen Blitze einige ansonsten völlig scharfe Fotos überbelichtet. In der Nacht hat der Blitz drei Bäume gespalten und einer davon hat nachts um kurz nach drei eine Spur der Autobahn blockiert. Meiner Meinung nach haben wir uns den Überstundenausgleich redlich verdient. Ich bezweifle, dass ein Rockkonzert in der ersten Reihe lauter gewesen wäre als dieses Gewitter.“ Sie unterbrach ihren Bericht, um einen Schluck zu trinken, dann fuhr sie fort.
„Dem Streifenpolizisten gefiel der Unfall nicht. Er ergab in seinen Augen keinen Sinn. Ich hatte ein ähnlich unbehagliches Gefühl. Warum raste der Typ trotz des schlechten Wetters so? Sein Verhalten war unsinnig, es sei denn, er hatte Selbstmordgedanken. Der Fahrer war kein junger Kerl. Sonst hätte man annehmen können, dass er auf den Kick aus war, auf einer nassen Autobahn Schleuderübungen zu machen. Er hatte auch keinen Herzinfarkt. Er hat einfach beschlossen, auf der Interstate mit 140 km/h zu fahren, hat sich zwischen den LKWs durchgeschlängelt und ist schneller gefahren, als er bei dem Regen mit seinen Scheinwerfern sehen konnte. Da war ein Unfall vorprogrammiert und das muss er gewusst haben. Warum also diese Geschwindigkeit?“
Sie ließ die Frage in der Luft hängen, während sie die Beine ausstreckte und die Füße übereinanderschlug, um ihren Körper an den Stuhl anzupassen, der nicht sehr bequem war.
„Die Brummifahrer auf der Strecke dort sind mitten in der Nacht freundliche Leute. Wir haben eine ganze Reihe Augenzeugen für den Unfall und seine Folgen. Die meisten Befragungen wurden per Funk vorgenommen, aber sie sind ausreichend zuverlässig und geben genügend Einzelheiten wieder, um das Mosaik zusammenzusetzen.
Zwei LKW-Fahrern zufolge ist die Limousine bei Meilenstein 35 auf die Interstate aufgefahren. Bis zur Markierung 52 ist der Wagen ganz normal mit dem Verkehr gefahren, dann hat der Fahrer beschleunigt. Bei Meilenstein 65 beschwerten die Brummifahrer sich untereinander per Funk über den Idioten, der um sie herumraste. Ein Streifenwagen fing die Gespräche auf, drehte um und fuhr wieder auf die Autobahn auf.
Dann hat der Fahrer die Kontrolle verloren und bei Meilenstein 82 den Unfall gebaut. Um 10.19 Uhr gingen mehrere Funkmeldungen bei der Notrufzentrale ein und meldeten den Unfall.
Aussagen von vier Lastwagenfahrern bestätigen, dass ein zweiter Wagen anhielt, um zu helfen. Eine weiße Limousine mit einem Nummernschild des Staates Missouri, zwei Männer in Jacken und Schirmmützen. Alle sagten, es habe so ausgesehen, als wollten die beiden Männer dem Fahrer helfen. Wir haben die Bestätigung, dass das zweite Fahrzeug etwa drei Kilometer entfernt war, als der Unfallwagen sich überschlug.
Das zweite Fahrzeug war nicht an der Unfallstelle, als der Polizist dort eintraf.
Ich habe inzwischen das Material der Überwachungskameras an jedem Rasthof, Lagerhaus oder Geschäft, die in der fraglichen Nacht zwischen Meilenstein 20 und 100 auf die Interstate gerichtet waren. Der zweite Wagen fuhr auch zu schnell, aber nicht so extrem. Die beiden Autos waren nie weniger als anderthalb Kilometer auseinander. Es war kein Auffahrunfall oder eine Verfolgungsjagd. Nachdem die weiße Limousine gehalten hatte, um zu helfen, ist sie weitergefahren und hat die Autobahn zwischen Meilenstein 85 und 90 verlassen. Von dieser Ausfahrt aus gelangt man nur auf ein Netz kleiner Landstraßen, was vermuten lässt, dass die Männer aus der Gegend stammten und sich auskannten. Nach vier Wochen Herumstochern hätten wir den Wagen eigentlich ausfindig machen müssen, wenn er einem Ortsansässigen gehörte, aber er ist nicht mehr gesehen worden. Das bleibt also ein Rätsel.“
Ann mochte keine Rätsel, auch wenn sie ihre Arbeitstage damit zubrachte, sie zu lösen, und runzelte ein wenig die Stirn, als sie an die Suche nach dem zweiten Fahrzeug zurückdachte. Es war ihr gelungen, die meisten losen Enden dieses Falles zusammenzufügen, aber ein paar unbekannte Faktoren blieben. Sie blickte auf und sah, dass Paul Falcon sie beobachtete. Sie wusste einen Mann zu schätzen, der zuhören konnte, ohne sie zu unterbrechen. „Weil ich nicht nur argwöhnisch, sondern auch neugierig bin, habe ich nachgeforscht, was der Fahrer am selben Tag vor dem Unfall getan hat.
Der Tote betrat an dem Tag, an dem er starb, um 11.17 Uhr die First National Bank in Dorado Springs, Missouri, und löste ein Schließfach auf. Der Bankangestellte, der ihm dabei behilflich war, sagte, es sei ein Schließfach der Größe vierzig mal zwanzig mal fünf Zentimeter gewesen und ziemlich schwer, als er es zu der Kabine brachte. Der Fahrer hatte das Schließfach achtunddreißig Jahre lang. Die Überwachungskamera hat eine ordentliche Aufnahme gemacht, die ihn dabei zeigt, wie er einen schwarzen Aktenkoffer in die Bank hinein- und wieder hinausträgt.
Unser Toter hat in Jefferson City zu Mittag gegessen und den Koffer mit ins Lokal genommen, wo er ihn auf der Bank neben sich abstellte, aber nicht öffnete. Er bestellte ein Rindersteak, aß allein und die Bedienung erinnert sich an einen stillen Typen, der bar bezahlt und ein großzügiges Trinkgeld gegeben hat. In Farber hat er bei der Shell-Tankstelle gehalten und vollgetankt. Wieder zeigen die Überwachungskameras ihn allein. Bei Meile 35 ist er auf die Interstate 72 aufgefahren und bei Meile 82 war er tot.“ Ann zögerte, weil ihr wieder einmal die Traurigkeit seines letzten Lebenstages bewusst wurde. Sie konnte Antworten finden, aber die Tragödie konnte sie nicht ändern.
„Zurück zu dem Unfall. In der Morgendämmerung gingen der Streifenpolizist und ich über das Bohnenfeld und den Straßenrand entlang, verglichen unsere Notizen und machten uns dann auf den Weg zu dem Lagerhaus, in dem das Beweismaterial untergebracht und das Wrack inzwischen einigermaßen trockengelegt war.
Das Erste, was wir aus dem Wagen holten, war eine hübsche Glock, zwei volle Magazine, keine Schüsse abgefeuert. Sie war unter dem Beifahrersitz festgeklebt.
Im Handschuhfach befanden sich das Serviceheft, die Fahrzeugpapiere, eine Versicherungskarte, eine halbe Rolle Fünfundzwanzig-Cent-Münzen und Karten von Ohio, Illinois, Missouri und Iowa.
Der Kofferraum war zerdrückt, und als er aufgehebelt wurde, war er leer, abgesehen von einem Ersatzreifen, dem Wagenheber und einem Kanister Scheibenwischflüssigkeit, der kaputt und ausgelaufen war.
Ein Kleidersack auf dem Rücksitz enthielt eine Wechselgarnitur Kleidung, Hygieneartikel und ein Paar Anzugschuhe. Schöne Sachen, aber nicht neu.
Verschiedene Gegenstände, die unter dem Wrack im Dreck gefunden wurden, nachdem der Wagen aus dem Bohnenfeld abtransportiert worden war, waren eine Tüte von McDonald’s, eine Windjacke und zwei alte Taschenkalender mit braunem bzw. blauem Einband, von vor zehn bzw. dreizehn Jahren.
Der kaputte Griff eines Aktenkoffers wurde aus der zerquetschten Beifahrertür gezogen. Der Schnappverschluss war abgerissen. Den beschädigten Aktenkoffer selbst haben wir noch nicht gefunden. Er war nicht im Unfallwagen und er war auch nicht ins Bohnenfeld oder irgendwo an den Straßenrand geschleudert worden.
Persönliche Gegenstände, die am Unfallort gesichert wurden, waren eine Brille, eine schöne Uhr, ein einfacher Ehering und ein aktueller Kalender aus seiner Hemdtasche. Seine Brieftasche enthielt achtundvierzig Dollar in bar, zwei Kreditkarten, eine Tankkarte, einen Führerschein und eine Quittung von einer Buchhandlung in Missouri, ausgestellt über zwei Zeitungen. Keine Fotos. Keine Krankenversicherungskarte. Kein Scheckbuch.
Er hatte kein Telefon bei sich. Wir haben das Wrack gründlich nach einem Handy durchsucht oder nach irgendeinem Hinweis da-
rauf, dass es eins gegeben hat – ein Ladegerät, eine Hülle – und haben nichts gefunden. Die Bänder der Überwachungskameras zeigen ihn nie mit einem Telefon in der Hand.“ Ann fand es immer noch erstaunlich, dass sie kein Mobiltelefon gefunden hatten.
„Von dem Unfallwagen sind wir zur Gerichtsmedizin gefahren. Der Verstorbene ist weiß, männlich, Anfang bis Mitte siebzig, zweiundsiebzig Kilogramm, eins neunundsiebzig, braune Augen, guter Gesundheitszustand, keine verschreibungspflichtigen Medikamente. Die Todesursache sind Aufprallverletzungen.
Seine Fingerabdrücke sind nicht in der Datenbank. Seine DNA ergab keine Übereinstimmung. Nirgendwo in den Vereinigten Staaten wird jemand vermisst, auf den seine Beschreibung passt.
Sein Führerschein ist eine gute Fälschung. Seine Kreditkarten sind Kopien von Karten, die einem Mann gehören, der in Oregon im Hospiz liegt. Das KFZ-Kennzeichen am Auto passt nicht zur Fahrzeugregistrierung. Die Registrierung und die Nummernschilder gehören zu einem verschrotteten Fahrzeug derselben Marke und gleichen Bautyps in Indiana. Die Spur der Waffe verliert sich in einem Polizeibericht über gestohlene Gegenstände von einem Überfall auf ein Waffengeschäft in Nevada vor sechs Jahren.
Der Kalender in seiner Tasche ergibt keinen Sinn, genau wie die beiden Kalender, die unter dem Wagen lagen. Einer von vor zehn Jahren, der andere dreizehn Jahre alt, ein aktueller Kalender in seiner Hemdtasche. Wo sind die anderen? Ich vermute, der aufgerissene und jetzt vermisste Aktenkoffer enthielt einen Stapel davon.
Im Moment gehen wir von folgendem Szenario aus: Er hat ein Schließfach ausgeleert, jemand wusste davon, hat ihn verfolgt und wollte an den Inhalt des Schließfachs gelangen. Er hat seine Verfolger entdeckt und versucht, ihnen zu entkommen, ist dabei aber gescheitert und verunglückt. Sie haben angehalten, sich davon überzeugt, dass er tot ist, den Koffer und wahrscheinlich ein Handy an sich genommen und sich so weit vom Unfallort entfernt, wie sie konnten, bevor die Polizei eintraf.“ Sie hielt inne und neigte ihre Getränkeflasche in seine Richtung. „Eine hübsche Geschichte, wie ich sie gerne erzähle, und reine Vermutung, aber es ist eine nette Theorie.“
Sie konnte nicht sagen, ob Paul ihre nette Theorie gefiel oder nicht, aber sie war so oder so gut. Er drehte seinen Stift zwischen den Fingern um hundertachtzig Grad, Spitze über Spitze, in einem gleichmäßigen Zwanzig-Sekunden-Rhythmus, und er hörte immer noch aufmerksam zu. Sie mochte Männer, die einer Geschichte zuhören konnten, die den Fluss der Erzählung zu schätzen wussten und sie nicht unterbrachen. Sie wusste, dass sie seine volle Aufmerksamkeit haben würde, wenn dieser Stift in seiner anmutigen Bewegung innehielt, und was nützte eine gute Geschichte, wenn sie nicht ein Überraschungsmoment in ihre Erzählung einbauen konnte? Sie stellte ihr Getränk auf den Untersetzer zurück und kam zu dem Grund, warum sie an einem ihrer seltenen freien Tage in seinem Büro saß.
„Die Kalender waren in einer Art Code geschrieben und das fesselte mich trotz des furchtbaren Regens in jener Gewitternacht und auch in den nächsten paar Tagen, als verschiedene Hinweise auftauchten, denen wir nachgehen mussten, ließ es mir keine Ruhe. Mein Fahrer blieb ein Rätsel und ich kam im Hinblick auf seine Identität keinen Schritt weiter. Da der Kalender in seiner Tasche meine beste Chance zu sein schien, ihn zu identifizieren, begann ich damit, an dem Code zu arbeiten. Und da ich nicht nur argwöhnisch bin, sondern auch hartnäckig, gelang es mir vor vier Tagen endlich, ihn zu knacken.
In allen drei Kalendern kam der gleiche Code zum Einsatz. Offenbar war mein Toter ein Gewohnheitstier.
Die Kalender sind alles in allem eine langweilige Lektüre.
Er schrieb den Dieselpreis auf, Spielergebnisse, die Schlussnotierung des Dow-Jones-Indexes und gelegentliche Spesen für Mittagessen. Nichts sieht aus wie eine Telefonnummer. Es gibt einige Termine – Ort, Zeit und Initialen –, darunter mehrere Verabredungen für die nächsten paar Monate. Als ich die drei Kalender endlich transkribiert und gelesen hatte, stachen ein paar der Notizen hervor. Wenn man alles Triviale weglässt, fallen sie auf.
Da ich mir merkwürdige und unbedeutende Fakten noch lieber merke, als ich Geschichten erzähle, müssen Sie mir im Augenblick einfach glauben, dass die folgende Auflistung korrekt ist.
22. Mai 1999
Anruf von DM
Miss LS angerufen
7. Juli 1999
Nachrichten gesehen YM tot
20. Juli 1999
DM $250.000 Anzahlung abgerechnet
Miss LS $220.000 gezahlt
Und noch folgende Einträge:
14. August 2002
Anruf von GN
Miss LS angerufen
7. Oktober 2002
Nachrichten gesehen VR tot
25. Oktober 2002
GN $300.000 Anzahlung abgerechnet
Miss LS $270.000 gezahlt
7. Juli 1999 und Nachrichten gesehen YM tot ist übrigens eine recht einzigartige Kombination. Meine Suche hat den Namen Yolanda Meeks ergeben. Und damit bin ich mitten in Ihren Mordermittlungen gelandet.“
Der Stift hielt in seiner Bewegung inne.
„VR und 7. Oktober 2002 ergaben Victor Ryckoff. Und da war ich wieder – in Ihrem Mordfall.“
Ann wartete einen Herzschlag lang. Sie hatte seine volle Aufmerksamkeit.
„Also – ich weiß, dass es nicht viel ist, aber ist es genug, um diesen Kerl und diesen Unfall von meinem auf Ihren Schreibtisch zu schieben?“
„Ich übernehme die ganze Sache.“
Sie grinste. „Wusste ich doch, dass ich Sie mögen würde.“
Paul Falcon war jetzt hoch konzentriert und sie konnte sehen, während er gedanklich in rasender Geschwindigkeit frühere Fälle durchging und auf Initialen überprüfte. Er hatte wahrscheinlich eine der Personen befragt, die der Killerin den Auftrag gegeben hatten, jemanden umzubringen. Sie wollte nicht in Falcons Fadenkreuz sein, wenn er sich mit dieser neuen Information auf die Jagd machte.
„Ich habe das Autowrack, seinen Inhalt, die persönlichen Dinge, die Leiche, einen Stapel Fotos, Überwachungsaufnahmen und jede Menge Befragungsprotokolle. Sie müssen jemanden schicken, der die Sachen abholt.“
„Wird erledigt. Ich muss so bald wie möglich die Kalender sehen.“
Ann öffnete ihr Bordcase und hielt eine Aktenmappe hoch, die sich in einer Asservatentüte befand. „Drei Kalender und meine Anleitung zum Codeknacken, der Führerschein, die Fahrzeugpapiere und die Versicherungsunterlagen, Kreditkarten und Tankkarte, ein Foto von dem Mann, bevor er starb, aus einer Überwachungskamera der Bank, und als Bonus habe ich die Fingerabdrücke und Fotos von den beiden Jungs dazugetan, die den Aktenkoffer haben könnten. Ich brauche nur eine Unterschrift, dass ich die Beweise übergeben habe.“
Er hob den Stift. „Haben Sie die Formulare?“
Ann reichte sie ihm.
Paul Falcon unterzeichnete mit einer schwungvollen, leserlichen Unterschrift, schrieb darunter seinen Namen noch einmal in Druckbuchstaben und fügte eine Fallnummer des FBI hinzu.
Sie reichte ihm die Asservatentüte.
„Wir hatten ihre Initialen nicht“, sagte er. „Und der Typ in Ihrer Leichenhalle könnte Charles Ash sein.“
„Sehen Sie? Sie machen schon jetzt größere Fortschritte, als ich es getan habe. Sie können sich mit dem Fall vergnügen und ich vergnüge mich beim Spiel heute Abend.“
„Sie wollen nichts mehr mit dem Fall zu tun haben?“
„Warum sollte ich? Angenommen, meine Vermutung mit der Verfolgung stimmt und der Aktenkoffer und die restlichen Kalender wurden gezielt entwendet, dann wissen diejenigen, die dahinterstecken, inzwischen, dass drei der Kalender fehlen. Sie werden sie wiederhaben wollen. Mir ist es lieber, sie versuchen, die Dinger bei Ihnen zu holen als bei mir.“
„Der Unfall ist vier Wochen her. Sie hätten es höchstwahrscheinlich schon versucht.“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das haben, wenn auch ohne Erfolg. Sie waren bei dem Wrack und haben festgestellt, dass es von einem sehr unfreundlichen Polizeihund bewacht wurde, der in demselben Lagerhaus auf eine restaurierte Corvette aufpasst. Sie haben es bei der Asservatenkammer versucht, aber sie ist im ehemaligen Tresorraum einer Bank untergebracht. Jesse James hat 1871 versucht, die Bank auszurauben, dazu ein Loch in das Gebäude gesprengt und den Raum trotzdem nicht aufgekriegt. Vielleicht haben sie auch versucht, sich in unser Computersystem einzuhacken, wenn man zwei miteinander verbundene PCs als System bezeichnen kann. Ich hoffe, dass sie bis zu den Fallberichten vorgedrungen sind, denn wenn sie eine Kopie von der Inventarliste haben, stehen darauf drei Kalender mit der Bemerkung: Vom Wasser zerstört, unleserlich.“
„Netter Einfall.“
„Ich war mir nicht sicher, aber ich hatte schon damals ein komisches Gefühl. Die Bilder vom Einbruch im Lagerhaus haben mir nicht viel gebracht – zwei weiße Männer mittleren Alters mit Jacke, Hut und Handschuhen –, aber dadurch hatte ich wenigstens eine Bestätigung. In den ersten beiden Wochen haben sie mich hin und wieder beschattet, aber es ist nicht so einfach, mich in meinem eigenen Hinterhof zu beschatten. Ich habe den Spieß ein paarmal umgedreht und ihnen ausgesprochen langweilige Landschaften und einige Sackgassen gezeigt. Bedienungen in Restaurants sagten mir, dass die beiden einen Südstaatenakzent hätten, was in meiner Region eher auf Georgia als auf Texas hinweist. In den letzten beiden Wochen habe ich sie nicht gesehen. Ich dachte, sie würden jemanden schicken, der sich als Angehöriger des Opfers ausgibt und versucht, an das Eigentum des Fahrers zu kommen, aber es hat keine Anfragen gegeben. Ich wundere mich immer noch, dass sie diesen Ansatz nicht probiert haben.
Vielleicht haben sie geschlossen, dass für sie keine Gefahr mehr besteht, warum also unnötig unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Dem äußeren Anschein nach habe ich drei Tage lang an dem Fall gearbeitet, bin in Woche eins und zwei noch mal kurz darauf zurückgekommen und habe danach nichts mehr unternommen. Die Gerichtsmedizin ist durch und die Leiche wird in drei Monaten vom Bezirk eingeäschert, wenn sich bis dahin kein Angehöriger findet. Der Unfallwagen kommt auf den Schrott, wenn der Papierkram die Bürokratie durchlaufen hat. Die persönlichen Gegenstände werden etwa ein Jahr lang aufgehoben, je nachdem, wie viel Platz gebraucht wird. Der Fall ist abgeschlossen.“
„Wer weiß von dem Kalendercode und dem, was Sie herausgefunden haben?“
„Ich. Sie.“
„Sie haben niemandem erzählt, dass die Kalendereinträge in einem Code verfasst sind, und niemandem, dass Sie ein Rätsel lösen mussten?“
Ihr gefiel die Tatsache, dass er skeptisch war, und sie lächelte. „Ich habe die Kalender am Unfallort persönlich sichergestellt, darunter auch den aus seiner Hemdtasche, und sie selbst als Beweismaterial registriert. Niemand sonst hat sie aufgeschlagen. Und ich bin gut darin, meinen Mund zu halten, wenn ich will.
Ich verbrenne meinen Müll – auf dem Land geht das. Meine ersten Versuche, den Code zu entziffern, existieren nicht mehr. Ich bin ungefähr sechs Monate im Verzug mit meinen Berichten. Ich lasse sie vom Band abtippen, damit die Rechtsanwaltsgehilfin genügend Arbeit hat und ihren Job behält. Die Bänder von diesem Fall und von mehreren anderen sind noch immer in der Asservatenkammer in einer Schachtel, die ich vor einem Jahrzehnt falsch beschriftet habe und in der ich alle möglichen privaten Dinge aufbewahre, darunter auch ein paar handsignierte Baseballkarten. Wenn ich sage, dass Sie alles abholen können und dann in Ihrem Besitz haben, was es zu diesem Fall gibt, dann meine ich das wörtlich.“
Ann erhob sich. „Sie wollen sich mit diesen Unterlagen beschäftigen und ich will zu meinem Spiel, also verschwinde ich jetzt. Sagen wir, Sie rufen mich morgen an, wenn Sie die Abholung des Wracks und der anderen Sachen organisiert haben?“ Sie stellte das Aufnahmegerät aus, holte das Band und das digitale Duplikat heraus und reichte ihm beides.
Paul Falcon stand auf. „Wissen Sie was, ich komme gleich mit Ihnen nach unten. Im dritten Stock machen wir halt und vereinbaren mit jemandem von der Beweisaufnahme einen Termin für die Abholung der Sachen und dann sprechen wir mit der Gerichtsmedizin über die Überführung der Leiche. Ich kann Sie schon noch zum Ausgang bringen, bevor ich mich in den Fall stürze.“ Er schloss die Asservatentüte und die Aufnahmen in seinen Bürosafe ein. „Können Sie veranlassen, dass der Rest, die Bänder der Überwachungskameras und die Verhöre, zusammengepackt und versiegelt wird, damit er morgen abgeholt werden kann?“
„Das kann ich.“ Ann nahm ihre Tasche und folgte Paul Falcon zu den Aufzügen. Gerade als er auf die Taste gedrückt hatte, um den Aufzug zu rufen, ging die Tür zum Treppenhaus auf und ein Agent, der einen Bericht in seiner Hand überflog, trat in den Flur.
„Dave“, sagte Ann.
Kates Mann, Dave Sinclair, blickte auf und ein Lächeln erhellte seine Miene.
„Ann ist im Haus.“ Dave schlang einen Arm um ihre Schultern und umarmte sie. „Ich muss dafür sorgen, dass du was zu essen bekommst, Mädchen, und dich mit Bildern von Kleinkindern langweilen.“
„Hast du welche dabei?“
Er zog seine Brieftasche heraus und holte eine Handvoll Fotos heraus.
„Holly hat wirklich das Lächeln ihrer Mutter.“ Ann drehte ein Bild zu ihm um. „Ich habe dir doch gesagt, dass sie das Geschenkpapier lieben wird.“
„Sie hat deiner Plüschkatze das Ohr abgekaut.“
„Das dachte ich mir.“
„Kommst du zum Essen?“
„Lisa und ich gehen zum Spiel.“
„Habt ihr’s gut. Dann komm zum Frühstück. Kate wird sich freuen, dich zu sehen. Sie will dich mit ihrem neuesten Mitarbeiter verkuppeln, einem Typen von Scotland Yard.“
„Diesmal nicht, aber es wird mir bestimmt Spaß machen, ihrem Versuch auszuweichen.“
„Führt dich irgendetwas Interessantes her?“
„Ich versuche nur vom Schreibtisch zu bekommen, was als Bundesangelegenheit betrachtet werden kann.“ Die Aufzugtür öffnete sich. Ann hielt die Tür fest, trat aber nicht ein. „Bleibt es dabei, dass ich am Samstag das Flugzeug nach Wichita bringen soll?“
„Das wäre prima“, antwortete Dave. „Sie haben mir einen Termin um achtzehn Uhr gegeben und mir versprochen, dass ich zweiundsiebzig Stunden Zeit habe. Sie unterbrechen den Zusammenbau des Steuerruders, um einen fehlerhaften Aktuator zu ersetzen.“
„Ich muss am Montag sowieso in Salina sein. Henry Stanton hat einen neuen Prozess bekommen.“
„Wie hat er das denn geschafft?“
„Mit einem sehr guten Anwalt. Ich regle die Sache mit der staatlichen Flugbehörde für dich und mache auf dem Heimweg vielleicht einen Testflug in Richtung Süden.“
„Das ist ein schöner Ausflug.“
Sie lächelte. „Das ist es. Sag Kate, dass ich mich bei ihr melde, wenn ich mit Lisa gesprochen habe.“ Dann trat sie in den Aufzug. Die Türen schlossen sich. Sie warf Falcon einen Blick zu. „Sorry.“
„Kein Problem.“ Paul drückte die Taste für den dritten Stock. Die beiden scheint etwas Besonderes miteinander zu verbinden, dachte er. Er kannte Dave lange genug, um zu erkennen, wie sehr es ihn gefreut hatte, Ann zu sehen. Sie musste für ihn so gut wie zur Familie gehören, wenn er bei ihrem Anblick so entspannt und freudig reagierte. Aber es würde einfacher sein, Dave danach zu fragen anstatt Ann. „Wie lange fliegen Sie schon?“
„Ich habe mein Studium damit finanziert, Flieger von einem Ort an den anderen zu bringen. Jetzt reduziert es einfach die Reisezeiten.“
„Das klingt gut. Womit sind Sie heute geflogen?“
„Ich habe eine Cessna mit einem unzuverlässigen Autopiloten zur Reparatur nach Milwaukee gebracht und bin mit der Autobahnpolizei hier runter in den Süden gekommen. Am Lake Michigan gibt es ein gestrandetes Wasserflugzeug, das jemand nach Hause bringen muss. Wenn das Wasser morgen früh ruhig genug ist, fliege ich das vielleicht zurück.“
„Sie genießen die Zeit in der Luft, richtig?“
„So wie manche Männer schnelle Autos genießen.“
Die Tür öffnete sich. Sie waren im dritten Stock angekommen. Paul gab einem Mitarbeiter der Beweissicherung den Auftrag, Anns Unterlagen abzuholen, und den Gerichtsmediziner brachte er dazu, der Überführung der Leiche noch am selben Abend zuzustimmen. Dann begaben sie sich hinunter in die Lobby. Ann gab ihre Passierscheine zurück.
„Viel Spaß beim Spiel, Officer Silver.“
„Den werde ich haben. Es war mir ein Vergnügen, Mr Falcon.“
Paul blickte ihr nach, bis sie durch die Eingangstür gegangen und in ein Taxi gestiegen war. Er hatte nicht erwartet, heute jemanden zu treffen, und schon gar nicht jemanden, den er gerne auf der privaten Seite verbuchen würde und der einen zweiten Blick verdient hatte. Ann Silver. Er würde noch einmal zu diesem Namen zurückkommen, bevor der Tag vorüber war. Paul zog sein Handy heraus und ging zu den Aufzügen zurück. „Sam, verschieb das Schlafen noch ein paar Stunden. Ich brauche alle im Konferenzsaal. Wir haben einen Durchbruch in Sachen Ladykillerin.“
Dee Henderson
Seit 1996 hat sich Dee Henderson mit nur zwei Romanserien in die Spitze der christlichen Schriftsteller in den USA geschrieben. Dem Erfolg entsprechend hat die Tochter eines Pfarrers ihren Beruf als Finanzbeamtin an den Nagel gehängt und lebt als Schriftstellerin bei Chicago.