1941/42: Das Jahr 1941 endet mit einem Paukenschlag: dem Angriff auf Pearl Harbour. Und auch die Philippinen werden bombardiert – ausgerechnet jetzt, wo Blair dort ist. Sie wollte einen letzten, verzweifelten Versuch unternehmen, ihre Ehe zu retten. Deshalb folgte sie ihrem Mann in ein Pulverfass. Jetzt muss Blair nicht nur um ihre Ehe, sondern auch ums Überleben kämpfen.
Währenddessen sehen ihre Schwestern sich in Russland und den USA mit ganz eigenen Problemen konfrontiert. Wo werden die drei Halt finden in einer Welt, die auf den Abgrund zutaumelt?
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Kuibyschew, Sowjetunion
Dezember 1941
Als Cameron an diesem Abend des 7. Dezember ins Restaurant des Grand Hotels in Kuibyschew trat, erschien ihr der Anblick von Johnny Shanahan und Alex Rostow, die zusammen an einem Tisch saßen und sich angeregt unterhielten, so natürlich. Es dauerte ein paar Herzschläge, bis sie begriff, was an dieser Szene falsch war. Oder so wunderbar richtig! Alex war in Moskau gewesen, als sie vor mehreren Wochen Kuibyschew verlassen hatte, um ihre Familie in den Staaten zu besuchen. Damals hatte es so ausgesehen, als wären sie für sehr lange Zeit voneinander getrennt.
„Alex!“, rief sie aus.
Sie vergaß alle Zurückhaltung, vergaß, dass der Raum voll neugierig gaffender Journalisten war, die plötzlich das Interesse an ihrem Essen verloren hatten, und eilte zum Tisch der beiden Männer.
Alex stand schnell auf und kam ihr auf halbem Weg entgegen. Er nahm sie in die Arme und hob sie vom Boden hoch. Sie küssten sich verliebt, bis die spottenden Bemerkungen der anderen Anwesenden an Camerons Ohren drangen. Johnny Shanahans Stimme war es, die sie schließlich aus ihrem verliebten Traumzustand riss.
„Äh ... ich verderbe euch ja nur ungern die Stimmung, aber hieß es nicht, dass ihr beide euch nicht treffen dürft ... Schon vergessen?“, mahnte er vorsichtig, aber mit dem üblichen Anflug von Sarkasmus in seiner Stimme.
„Zum Kuckuck mit der Polizei!“, entgegnete Alex und küsste sie erneut.
Aber Cameron entzog sich seiner Umarmung. Sie hatte die Polizei tatsächlich vergessen, so hypnotisiert war sie von Alex’ intensivem Blick gewesen, der sie wie ein von der Sommersonne erwärmter, kristallklarer, blauer Fluss durchströmte. Die Probleme mit Oleg Gorbenko hätten ihr beinahe eine Ausweisung beschert und hatten ihre Rückkehr nach Russland verzögert. Sie hatte eine Weile warten müssen, bis ihr Visum schließlich doch verlängert worden war. Die paar Wochen in Amerika hatten sie die Gefahren fast vergessen lassen, die es mit sich brachte, wenn man zu einem russischen Staatsbürger engeren Kontakt oder gar eine Liebesbeziehung hatte.
„Was machst du hier, Alex?“, murmelte sie.
„Du beklagst dich doch nicht, oder?“
„Oh, nein ... bestimmt nicht.“ Seufzend versank sie in einem weiteren liebevollen Kuss. Endlich wurde sie sich der Pfiffe und des Lachens von ihren Kollegen bewusst. „Was ist denn mit euch?“, fragte sie gespielt beleidigt. „Habt ihr überhaupt keinen Anstand?“
„Was?“, lachte Donovan, der Korrespondent der New York Tribune. „Wir knutschen doch nicht mitten in einem öffentlichen Restaurant herum!“
„Dann sollten wir uns wohl lieber einen Ort suchen, an dem wir ungestörter sind“, schlug Cameron vor. Sie ergriff Alex’ Hand und zog ihn zur Tür, was eigentlich nicht nötig gewesen wäre, da dieser es selbst kaum erwarten konnte, mit ihr allein zu sein.
Der einzige ungestörte Ort, den sie finden konnten, war Camerons winziges Hotelzimmer, das genau so war, wie sie es vor mehreren Wochen verlassen hatte. Eine gewisse Unsicherheit legte sich über beide. Cameron vermutete, dass dies nicht nur daran lag, dass sie in ihrem Zimmer waren, sondern auch daran, dass sie zum ersten Mal wieder zusammen waren, seit sie sich in dem Moskauer Krankenhaus, in dem Alex arbeitete, ihre Liebe gestanden hatten und kurz danach durch die Kriegsumstände und den NKWD wieder auseinandergerissen wurden. Seitdem hatte sie sich oft gefragt, wie es wohl wäre, unter diesen neuen Umständen mit Alex zusammen zu sein, oder ob sie überhaupt je eine Gelegenheit dazu bekämen. Jetzt waren sie unerwartet zusammen und Cameron wurde plötzlich schüchtern. Ein Gefühl, das sie normalerweise überhaupt nicht kannte. Ihr fiel nicht einmal eine lockere, oberflächliche Bemerkung ein.
Vor ihr stand der Mann, den sie liebte. Der erste Mann, zu dem sie je gesagt hatte, dass sie ihn liebe. Selbst zu Johnny Shanahan hatte sie diese Worte nie gesagt. Andererseits war ihr immer bewusst gewesen, dass sie Johnny nie wirklich geliebt hatte. Erst bei Alex hatte sie erlebt, zu welch einer tiefen Liebe sie fähig war. Wenn überhaupt, dann liebte sie das, was Johnny für sie als Journalist repräsentierte, jemand, von dem sie viel lernen konnte, was das Schreiben betraf. Sie waren zwar ähnlich gesinnte Seelen, aber ihre Herzen waren einander nie nahegekommen. Bei Johnny hatte etwas Elementares gefehlt, auch wenn sie nicht beschreiben konnte, was es war. Er hatte Camerons Seele nicht erfüllen können. Dieses Etwas – sie war immer noch nicht ganz sicher, was es genau war – hatte Alex. Er schien etwas in ihr zu vervollständigen oder versprach eine solche Vervollständigung.
Plötzlich musste Cameron an den Schlüssel denken, den sie an einer Kette um den Hals trug. Alex hatte ihn ihr gegeben, als er erfuhr, dass die Polizei ihnen verbieten würde, sich zu treffen. Er hatte Alex’ Mutter gehört und war der Schlüssel zu ihrem Haus in Leningrad. Die Frau war gezwungen worden, ihr Zuhause vor dem Großen Krieg zu verlassen. Sie hatte ins Exil gehen müssen, weil sie als Revolutionärin gegolten hatte, und war gestorben, bevor sie nach Russland hatte zurückkehren können. Alex hatte Cameron den Schlüssel als ein Versprechen gegeben, dass sie eines Tages den Traum seiner Mutter wahr machen und dieses Haus besuchen würden. Gemeinsam.
Dieser Traum schien jetzt völlig unrealistisch zu sein, da Leningrad von den Deutschen besetzt war. Die Stadt litt unter Bombardierungen und Hunger und nur Gott wusste, unter welchen anderen Grausamkeiten noch. Ausländern war der Zutritt in die Stadt verwehrt und nur diejenigen Russen, die an der Blockade vorbeigeschmuggelt werden konnten, um den Bewohnern zu helfen, bekamen die Erlaubnis, die Stadt zu betreten. Ja, es bestand nur eine geringe Hoffnung. Aber Alex war da, trotz aller widrigen Umstände. Es musste also wahr sein: Alles war möglich. Sogar in Russland.
„Wie lang bleibst du hier?“, brach Cameron schließlich das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte.
„So lange sie in Moskau ohne mich auskommen können“, antwortete er. „Wie du dir vorstellen kannst, nimmt die Zahl der Verletzten ständig zu.“
„Aber der Krieg läuft gut, oder?“
„Die Rote Armee scheint den deutschen Versuch, Moskau einzunehmen, abgewehrt zu haben. Wenigstens vorerst. Aber die Machtverhältnisse an der Wolga können sich jederzeit ändern. Trotzdem ist die Moral in der Stadt groß. Ein russischer Gegenangriff hat begonnen.“
„Der Winter wird Russlands Verbündeter sein.“
Alex zuckte mit wenig Begeisterung die Achseln. „Der Winter trifft die russische Armee genauso wie die Deutschen. Was viele Ausländer nicht erkennen: Mit dem Wintereinbruch und Frost wird es sogar leichter. Der Schlamm und Regen sind eigentlich ein größeres Hindernis als der Schnee. Täusche dich nicht: Alles, was den Deutschen das Leben schwer macht, ist auch für die Russen ein Nachteil.“
Sie schaute ihm forschend ins Gesicht, wo die Anspannungen der letzten Wochen unübersehbare Spuren hinterlassen hatten. Das Jungenhafte an seinem faszinierend guten Aussehen war fast völlig verschwunden. An seine Stelle waren eine Anspannung und Müdigkeit getreten, die ihr bei der ersten Freude über ihr Wiedersehen entgangen waren. „War es sehr schlimm für dich, Alex?“
Ein leichtes Zittern ging seiner Antwort voraus. Er fuhr mit der Hand durch seine blonden Haare. „Es war ein schrecklicher Albtraum, Cameron. Erst zwei Tage, nachdem ich von Moskau weg war, hörte ich endlich nicht mehr das Kanonenfeuer. Die Verwundeten, die Toten. Guter Gott! Die Toten! So viele ...“ Er brach abrupt ab. Nach einem kurzen Schweigen fügte er hinzu: „Du brauchst dir das nicht alles anzuhören.“
„Natürlich muss ich das. Ich will wissen, was in dir vorgeht“, entgegnete sie leidenschaftlich.
„Nicht sofort bei deiner Rückkehr.“ Er zwang sich zu einem Lächeln. „Ich wollte immer in einer medizinischen Versorgungseinheit an vorderster Front sein. Wahrscheinlich bin ich inzwischen so nahe an der Front, dass es näher nicht mehr geht. Jetzt will ich nur noch, dass die Kämpfe bald aufhören.“
Ein unsicheres Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. In dem Versuch, dieses Schweigen zu brechen, sagte Cameron: „Wenn ich das alles höre, überrascht es mich, dass du überhaupt aus Moskau fortkommen konntest.“
„Das Krankenhaus musste für die vielen neuen Verwundeten Platz machen. Deshalb wurden alle Patienten, die verlegt werden konnten, evakuiert. Juri war so nett und hat es arrangiert, dass ich den Zug mit Evakuierten hierher nach Kuibyschew begleiten konnte. Ich wusste nicht, dass du fort warst.“
„Ich hatte keine Möglichkeit, dir Bescheid zu geben.“
„Ja, das verstehe ich.“ Seine Augen wanderten über sie hinweg, als könne er kaum glauben, dass sie tatsächlich wieder zusammen waren.
„Wie kam es, dass du zufällig im Hotel warst?“
„Johnny erfuhr in der Botschaft, wann du zurückkommst. Er verriet es mir. Ich wollte hier sein, wenn du kommst. Ich habe gebetet, dass der Flug keine Verzögerung hätte.“
„Eine solche Verzögerung passierte im letzten Teil des Fluges über Sibirien. Wir hatten Probleme mit dem Motor und waren gezwungen, auf einem kleinen Flughafen zu landen. Ich bin nicht einmal sicher, wo das war.“
„Johnny hat davon erfahren. Wir mussten also nicht lange warten.“
„Ich bin so froh, dass es geklappt hat.“
Alex beugte sich vor und nahm ihre Hände in seine. Er saß auf dem einzigen Stuhl im Zimmer und sie auf der Bettkante.
„Du hast überhaupt nichts von deinem Besuch zu Hause erzählt“, bemerkte er.
„Darüber gibt es auch nichts Erfreuliches zu sagen“, antwortete sie und unternahm kaum Anstrengungen, ihre Bitterkeit zu verbergen. Wie viele Male hatte sie sich während ihres schwierigen Besuchs bei ihrer Familie danach gesehnt, mit Alex zu sprechen? Jetzt wollte sie einfach alles vergessen, so tun, als lebe sie in einer Welt, die von den Konflikten zu Hause nicht berührt werden konnte. Aber solche Fantasien passten besser zu ihrer chaotischen Schwester, Blair. Cameron war Realistin ... normalerweise.
„War es so schlimm?“, fragte Alex mitfühlend.
„Ich hätte es besser wissen und meinen angeborenen Pessimismus beibehalten sollen, statt mich von diesem kleinen Funken Optimismus leiten zu lassen. Ich hatte tatsächlich vergessen, wie nachtragend mein Vater sein kann.“
Sie schüttelte Alex’ Hände von sich ab, sprang auf und trat an das kleine Fenster, das auf eine kleine Seitenstraße hinausging. Eine Frau mit einem Korb, wahrscheinlich auf dem Weg zum Markt in der Nähe des Hotels, ging unten vorbei. Der Schnee hatte sich in schmutzigen Matsch verwandelt. Cameron dachte an den angefangenen Brief, der immer noch im Koffer ihrer Reiseschreibmaschine steckte – den Brief, den sie im Flugzeug beim Rückflug nach Russland erst vor ein paar Stunden an ihren Vater geschrieben hatte. Jetzt löste er bei ihr mehr Schmerz als Hoffnung aus. Ihr Vater hatte alle ihre Versuche, sich mit ihm zu versöhnen, abgeblockt. Wie kam sie nur auf die Idee, auf einen Brief würde er anders reagieren? So wie sie ihn kannte, würde er einen Brief als weiteres Zeichen von Schwäche ihrerseits ansehen, ein Zeichen dafür, dass sie nicht den Mut aufbrachte, persönlich mit ihm zu sprechen. Er wollte einfach nicht sehen, dass sie genau das versucht hatte.
„Ich dachte, seine Krankheit könnte ihn weicher gemacht haben“, sagte sie zu Alex und starrte immer noch durch die zugefrorene Fensterscheibe auf die Straße, ohne etwas zu sehen. „Ich hoffte, dadurch würde er die Beziehung zu seinen Töchtern vielleicht mehr schätzen. Aber es sieht so aus, als wäre er nur noch bitterer und egoistischer geworden.“ Seufzend fuhr sie sich mit der Hand durch die Haare. „Es tut mir leid. Ich will die wenige Zeit, die wir miteinander haben, nicht mit diesem traurigen Kapitel meines Lebens kaputt machen.“
„Vielleicht hilft es dir, wenn du darüber redest ...“
„Nein ... tut es nicht. Es vermittelt mir nur das Gefühl der Hilflosigkeit.“ Wie sie es hasste, sich hilflos zu fühlen! Sie wurde nur noch wütender auf ihren Vater, weil er dieses Gefühl in ihr weckte.
Alex erhob sich und trat neben sie. Er legte die Arme um sie und zog sie nahe an sich heran. „Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben ...“
„Manchmal habe ich schon Hoffnung, aber dann passiert etwas, und alles ist zunichtegemacht. Ich will so nicht leben: eine Höhe erklimmen und dann wieder in die Tiefe stürzen. Es tut nicht gut, Hoffnungen aufkeimen zu lassen, wenn sie dann doch wieder zerschmettert werden.“
„Du kannst doch nicht sagen, dass du nie wieder hoffen willst!“ Sein Arm spannte sich leicht an, blieb aber liegen, wo er war.
„Ich glaube, so ist es sicherer.“
„Ich hätte dich nie für einen Feigling gehalten, Cameron.“
„Was? Ich bin kein Feigling!“ Ihre Stimme nahm eine bedrohliche Schärfe an.
„Warum kneifst du dann und wagst nicht das Risiko, Gutes zu hoffen?“
„Du verstehst mich nicht.“
„Es gibt eine Möglichkeit, ohne Risiko zu hoffen.“
„Und wie soll die aussehen?“ Sie hörte die Angriffslust in ihrem Tonfall und wusste, dass sie zurückschrauben sollte, aber sie fühlte sich ein wenig überrumpelt. Alex sollte ihr helfen, die Schwierigkeiten zu Hause zu vergessen, und sie nicht auch noch auffordern, ihnen ins Gesicht zu schauen.
„Sie sieht so aus, dass du Gott vertraust“, sagte er.
Fast unabsichtlich riss sie sich aus seiner Umarmung los. „Ich sollte jetzt lieber auspacken, bevor die Falten aus meinen Kleidern überhaupt nicht mehr wegzubringen sind.“ Sie drehte sich um, hievte ihren Koffer aufs Bett und öffnete ihn.
„Können wir darüber reden?“, fragte er ruhig.
Energisch zog sie ein Kleid aus dem Koffer. Es war ein dunkelgrünes Kreppkleid mit einem kunstvollen Perlenkragen. Beim Kauf dieses eleganten Kleides hatte sie sich vorgestellt, es beim Tanzen mit Alex zu tragen. Sie trug es zum Kleiderschrank und hängte es auf. Sie fühlte sich ein wenig töricht, weil sie so frivol gewesen war, es zu kaufen. In welchen anderen Bereichen war sie in den letzten Monaten frivol gewesen?
Sie kehrte zum Koffer zurück und holte eine Bluse heraus. Dabei fiel ihr Blick auf ein Buch, das unter das Kleid gesteckt gewesen war. Auf dem schwarzen Lederumschlag stand Gottes Wort. Wie kam diese Bibel in ihren Koffer? Ihr Koffer war doch nie ... Jackie! Es musste ihre jüngste Schwester gewesen sein. Sie hatte die Koffer aufgegeben, während Cameron und ihre Mutter ein paar Minuten allein am Flughafen miteinander gesprochen hatten. Am liebsten hätte Cameron das Buch quer durch das Zimmer geschleudert. Aber sie tat es nicht. Vielleicht, weil es von der lieben Jackie kam. Vielleicht, weil sie ahnte, dass sie mit einer solchen Reaktion Alex verletzen würde. Stattdessen nahm sie die Bluse aus dem Koffer und ignorierte die Bibel. Sie achtete nur darauf, dass sie unauffällig ein anderes Kleidungsstück darüberschob, damit Alex sie nicht zufällig sehen und sie darauf ansprechen würde. Derartige Fragen wollte sie im Augenblick nicht.
Sie schüttelte die Bluse aus und hängte sie neben das Kleid. Ein paar Minuten packte sie mit verbissener Entschlossenheit weiter aus, bis Alex auf sie zutrat und die Hand auf den Kleiderbügel legte, den sie zwischen den Fingern hielt.
„Erzähle es mir, Cameron“, sagte er mit dieser sanften, klaren Intensität, die sie an ihm lieben gelernt hatte. Jetzt gefiel es ihr jedoch überhaupt nicht, dass er so ungemütlich direkt werden konnte.
Sie riss den Kleiderbügel aus seiner Hand. „Es gibt nichts zu erzählen.“
„Warum bist du wütend auf mich?“
Sie zuckte die Achseln und widmete sich wieder ihrem Koffer.
Er ließ nicht locker. „So ist das also? Wir haben uns plötzlich nichts mehr zu sagen? Wir haben uns gewisse Versprechen gegeben, bevor du abflogst, und jetzt sagst du mir, es gäbe nichts zu erzählen!“ Seine Stimme wurde vor Verzweiflung und Frustration lauter, nicht aus Wut.
Sie ließ den Rock, den sie in der Hand gehalten hatte, fallen und drehte sich um. In ihren Augen glänzten die Tränen, denen sie nicht gestatten würde, über ihre Wangen zu laufen. „Alex, ich will an meinem ersten Tag, den ich wieder hier bin, nicht streiten. Und auch an keinem anderen Tag.“ Sie trat einen Schritt näher auf ihn zu und erwiderte seinen durchdringenden Blick. „Es gibt so viele andere Dinge, über die wir reden können. Wir hatten immer genug, über das wir sprechen konnten.“ Sie hob die Hände und legte sie auf seine Wangen. „Bitte, Alex ...“ Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Sie war nicht dafür geschaffen zu betteln. Sie wusste nicht einmal genau, worum sie ihn anflehte. Frieden, vermutete sie, und Liebe – das, was sie zu Hause nie erfahren hatte.
Er schien sie zu verstehen, denn er legte erneut die Arme um sie. Seine Umarmung war fest. Sie bot Schutz. Seine sauber rasierte Wange, die sich an ihre Haare drückte, war warm. Sie spürte eine Intensität in seiner Nähe, die ihr die Gewissheit gab, dass er sich nach demselben sehnte wie sie. Etwas Gutes und Starkes verband sie miteinander. Es war unbedeutend, dass es zwischen ihnen einige empfindliche Stellen gab. Das war bei allen Paaren so und ganz normal. Oder nicht?
Camerons Ängste und Unsicherheiten verloren fast jede Bedeutung, als einen Augenblick später ihre Zimmertür aufgerissen wurde.
„Johnny!“ Sie hatte mit dem Gesicht zur Tür gestanden und zuckte zusammen, als er so unangemeldet in ihr Zimmer platzte.
Shanahan sah sofort, dass die beiden sich umarmten, erinnerte sich plötzlich an seine Manieren und wurde leicht unsicher. Etwas, was für ihn völlig untypisch war.
„Oh ... äh ... tut mir leid. Habe vergessen ...“ Dann schüttelte Shanahan seine kurze Befangenheit ab. „Das musst du unbedingt hören. Die Japaner haben Hawaii bombardiert! Pearl Harbor! Ein Überraschungsangriff.“
Cameron und Alex lösten sich abrupt aus ihrer Umarmung und starrten Johnny mit offenem Mund an. Cameron verstand genug von Weltpolitik, um sich der Tragweite dieses Ereignisses bewusst zu sein. Es bedeutete, dass Amerika bald in den Krieg eintreten würde. In dieser Sekunde wusste Cameron, dass jeder von ihnen, wenn sie Jahre später gefragt würden: „Wo warst du, als Pearl Harbor angegriffen wurde?“, sich lebhaft an diesen Moment erinnern würde. Daran, dass sie in betroffenem Schweigen dastanden, dass nicht einmal Cameron imstande war, auch nur eine einzige Frage zu stellen.
Alex sprach auf seine typische Art die erste und dringendste Frage aus, die sich bei einem solchen Angriff stellte. „Wie schlimm war es?“
„Verheerend“, antwortete Johnny. „Wir wurden völlig überrumpelt. Die ersten Berichte sind noch unklar, aber die gesamte amerikanische Pazifikflotte wurde wahrscheinlich vernichtet. Die Zahl der Opfer ist bestimmt sehr hoch.“
Die drei standen in ersticktem Schweigen da, benommen, taub.
Schließlich sagte Johnny: „Das kommt nicht völlig unerwartet.“
Seine Worte waren wie ein Ventil. Cameron musste plötzlich reden. Sie platzte ungezügelt mit all den Fragen heraus, die ihr durch den Kopf schossen. Johnny hatte wenige Antworten und selbst diese beruhten mehr auf Spekulationen als auf Informationen. Sobald Amerika Japan den Krieg erklärte, würde Deutschland, Japans Verbündeter, Amerika den Krieg erklären. Stalin hätte bald seine zweite Front. Die einzige Frage war: Wann? Konnte Amerika einen Krieg im Pazifik und gleichzeitig in Europa gewinnen? Jetzt, da das Land wachgerüttelt war, musste man mit allem rechnen.
Plötzlich wirbelte Johnny herum und wandte sich zur Tür.
„Wohin gehst du?“, fragte Cameron.
Als er den Blick hob, sah sie, dass er fest entschlossen war und seine Augen funkelten. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren.
„Zum Telegrafenamt“, verkündete er. „Das ist meine Fahrkarte, die mich von hier wegbringt!“
Cameron wusste, dass Johnny von der frustrierenden Berichterstattung über den Krieg in Russland zunehmend die Nase voll hatte. Alle Korrespondenten waren von der russischen Bürokratie und Gängelei frustriert, die sich durch ihre Evakuierung nach Kuibyschew noch verschlimmert hatte, da diese Stadt noch abgelegener und weiter weg vom Zentrum des Geschehens war als Moskau. Johnny beklagte sich unablässig über die Regeln und Beschränkungen, die ihnen auferlegt wurden und die sie hinderten zu berichten, wie die Situation im Land tatsächlich war.
„Freu dich nicht zu früh“, warnte Cameron. „Du bist hier ein Veteran. Das Journal wird nicht auf deine Erfahrung verzichten wollen, nur weil du dir ein aufregenderes Leben wünschst.“
„Wetten?“ Er sah aus, als wäre er imstande, etwas Verrücktes zu tun. „Sie werden wollen, dass ihr bester Mann von der großen Geschichte berichtet. Und die spielt sich jetzt im Pazifik ab.“
„Nur keine falsche Bescheidenheit“, kommentierte Cameron seltsam belustigt seine arrogante Bemerkung.
Sie würde nichts mehr sagen, da sie seine Seifenblase nicht zum Platzen bringen wollte. Schon gar nicht in Alex’ Beisein. Aber hatte Johnny vergessen, dass er diesen Auftrag überhaupt nur bekommen hatte, um Cameron eins auszuwischen? Ihr Vater hatte seine Macht als Herausgeber des Los Angeles Journal benutzt, um ihn nach Europa zu schicken, weil er Cameron und Johnny hatte auseinanderbringen wollen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Cameron eine Stelle bei einer Konkurrenzzeitung annehmen und ebenfalls nach Europa geschickt werden würde. Aber selbst wenn ihr Vater keine Hintergedanken gehabt haben sollte, hätten Shanahans Fehler in der Vergangenheit ihm einen Einsatz im Ausland verwehrt. Andererseits hatte er unbestritten seine Kompetenz unter Beweis gestellt. Vielleicht hatte er sich also tatsächlich für des Journal unersetzlich gemacht.
Erst jetzt wurde Cameron bewusst, welche Auswirkungen Shanahans möglicher Abzug aus Russland auf sie selbst haben könnte. Würde Max Arnett, ihr Herausgeber beim Los Angeles Globe, das dumme Katz-und-Maus-Spiel fortsetzen, das er vor über einem Jahr begonnen hatte, als er Cameron als Konkurrenz für Johnny und das Journal losschickte, falls Johnny versetzt würde? Was empfand sie angesichts dieser Möglichkeit? Als Journalistin war es ihr erster Instinkt und Wunsch, die neusten, sensationellsten Nachrichten zu verfolgen. Russland spielte immer noch eine wichtige Rolle in diesem Krieg, aber sie konnte darauf wetten, dass die Amerikaner sich mehr für Kämpfe mit amerikanischer Beteiligung interessierten als für Kämpfe in einem Land wie Russland, das so weit von ihnen entfernt war – nicht nur geografisch, sondern auch kulturell und politisch. Cameron genoss inzwischen den Status, auf der ersten Seite zu stehen, den ihre Berichte ihr einbrachten, die regelmäßig dort standen. Berichte aus Russland würden zweifellos bald auf die hinteren Seiten verbannt werden. Ihr Puls begann zu rasen. Bilder, wie sie amerikanischen Truppen durch den Pazifik folgte, tauchten vor ihrem Auge auf. Das war der Traum jedes Kriegsberichterstatters.
Plötzlich fühlte sie Alex’ Gegenwart neben sich. Schuldgefühle überrollten sie.
Würde es ihr wirklich so leichtfallen, das, was sie mit Alex verband, für ihren beruflichen Erfolg aufzugeben? War ihr Versprechen ihm gegenüber so oberflächlich gewesen? Das glaubte sie nicht, wie sie sich selbst ehrlich eingestand. Konnte sie nicht beides haben? Aber bei logischem Nachdenken war klar: Wenn sie Russland wieder verließe, stünden ihre Chancen zurückzukommen schlecht, und Alex’ Chancen, das Land verlassen zu können, sahen nicht viel besser aus. Wie sicher sie sich vor nicht allzu langer Zeit gewesen war, dass sie und Alex den Beschränkungen, die ihnen auferlegt worden waren, nicht zum Opfer fallen würden! Noch sicherer war sie gewesen, dass sie für ihre Beziehung kämpfen würde. Wie konnte sie auch nur mit dem Gedanken spielen, ihre Karriere über ihn zu stellen?
„Du siehst blass aus, Hayes“, bemerkte Johnny und riss sie damit aus ihren trüben Gedanken. „Finden Sie nicht auch, Doktor?“
Alex drehte sich zu ihr um und schaute sie durchdringend an. Es war fast, als könnte er ihre Gedanken lesen.
„Ich vermute, sie macht sich Sorgen, der Globe könnte sie von hier fortschicken“, sagte Johnny. „Sie wissen schon, damit sie weiterhin mit mir konkurriert, wenn ich weggehe.“
Cameron blickte von einem Mann zum anderen und fühlte sich, wie schon früher, seltsam zwischen ihnen hin- und hergerissen. Sie wusste, dass sie Johnny nicht liebte, aber er repräsentierte einen Teil ihres Lebens, den sie liebte. Mehr als Alex?
Sie leckte sich die Lippen. „Niemand sagt, dass du irgendwohin gehst, Shanahan.“ Ihre Stimme klang schwach.
„Das werden wir ja sehen.“ Mit dieser Kampfansage verließ er schwungvoll den Raum.
„Hast du schon einmal einen so arroganten Mann gesehen?“, fragte sie schwach.
„Hat er recht?“, fragte Alex.
„Nein. Natürlich nicht. Es wird sich nichts ändern.“
Er musste wissen, dass sie log. Alles würde sich ändern – es hatte sich schon alles geändert! Wer waren sie, dass sie meinten, sie könnten dem entfliehen? Aber wenigstens in diesem Augenblick wollte Cameron an ihre eigenen Worte glauben. Alex anscheinend auch. Sie suchten erneut die Nähe des anderen und hielten sich in einer liebevollen Umarmung fest. Keiner von beiden wollte zugeben, dass er sich in den Armen des anderen verstecken wollte, verstecken vor einer unsicheren Welt.
Judith Pella
Judith Pella studierte Sozialwissenschaften und gilt als Meisterin des historischen Romans. Sie liebt es, gründlich zu recherchieren und in verschiedene Zeitepochen einzutauchen. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie in Oregon.
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