Die Schritte der anderen verlangsamten sich und auch Rachel blieb schließlich atemlos vor ihrem Ziel stehen. Sie schaute sich um, voller Angst, ob sie irgendjemand bemerkt hatte. Aber wie bisher immer blieb alles still.
Eine Reihe von Häusern erstreckte sich vor ihr. Das Gebäude, auf das Ivan zusteuerte, hatte eine mit weißen Säulen verzierte Fassade und war das schönste der ganzen Straße. Das versprach reiche Beute.
Ivan ging zur Tür und Sekunden später hatte er sie aufgebrochen. Dann bedeutete er der Gruppe, ihm zu folgen.
»Edith und Charley, ihr haltet Wache!«, befahl er.
Charley öffnete den Mund, um zu protestieren, wurde aber durch einen einzigen Blick von Ivan zum Schweigen gebracht.
Rachel versuchte, den Knoten in ihrem Magen zu ignorieren, und betrat das Haus. Obwohl sie das hier schon so oft getan hatte, konnte sie sich einfach nicht daran gewöhnen.
»Die Antiquitäten sind im ersten Stock. Neil, Jack, kommt mit mir!«, flüsterte Ivan, woraufhin die drei lautlos die mit dickem Teppich belegte Treppe hochstiegen.
Die restlichen Diebe eilten in andere Teile des Hauses.
Rachel blieb kurz allein in der Eingangshalle stehen und bewunderte die hohe Decke mit dem riesigen Kristallleuchter in der Mitte. Jetzt lag er im Dunkeln, aber bei Tage musste er funkeln wie ein Diamant. An den Wänden hingen Gemälde in goldenen Rahmen, wahrscheinlich von hochgeborenen Vorfahren. Zu groß zum Mitnehmen, dachte sie bei sich.
Aus allen Stockwerken war jetzt Rascheln, Klappern und das Öffnen und Schließen von Schubladen zu hören. Die anderen Diebe hatten sich bereits ans Werk gemacht.
Bald würde dieses Haus nicht mehr so prachtvoll und majestätisch wirken. Es würde der Schauplatz eines Verbrechens sein.
»Nicht trödeln, Rachel!«, ermahnte sie jemand mit leisem Rufen.
Sofort begab sie sich in den Salon zu ihrer Linken und steckte vorsichtig eine filigran gearbeitete Uhr mit goldenem Ziffernblatt und eine blau-weiße chinesische Vase in ihren Beutel. In ihrem Hinterkopf ertönte die leise Stimme des schlechten Gewissens, aber Rachel hatte inzwischen Übung darin, sie nicht weiter zu beachten.
Beim Kaminsims, der mit einer ganzen Reihe Familienfotos bestückt war, machte sie kurz Halt. Auf einem Bild war ein Kind zu sehen, das ihr irgendwie bekannt vorkam. Es war ein gut aussehender Junge mit hellen Locken, der krampfhaft versuchte, ernst zu bleiben, aber das Lächeln, das um seine Lippen spielte, ließ vermuten, dass er kurz nach dem Aufnehmen dieses Fotos losgelacht hatte. Rachel musste selbst lächeln, aber sie schüttelte die aufkeimenden Erinnerungen sogleich von sich ab. Sie durfte jetzt nicht an Timmy denken, sonst würden die Schuldgefühle sie übermannen. Schließlich wusste sie ganz genau, dass das, was sie gerade tat, falsch war. Eigentlich sollte sie nicht hier sein. Sie hätte diesem Leben schon längst den Rücken kehren sollen. Und doch war sie noch immer eine Diebin.
Rachel verschloss diese Gedanken tief in ihrem Inneren und machte sich wieder an die Arbeit. Im Esszimmer fand sie einen Schrank mit Tafelsilber. Sie räumte ihn vollständig leer.
In der Küche begegnete sie Nicoletta. Ihre Freundin kniete auf dem Boden vor einem der Schränke, die blonde Haarpracht wallte offen über ihre Schultern.
»Hat sich schon jemand um den Schmuck im Schlafzimmer gekümmert?«, fragte Rachel.
»Ja, Harry und Robert haben die obersten Stockwerke übernommen«, flüsterte Nicoletta.
»Gut.« Rachel beugte sich hinunter, um zu sehen, was ihre Freundin entdeckt hatte, und dann sah sie es: ein Tresor im Küchenschrank! Nicoletta machte sich gerade mit zittrigen Fingern daran, ihn zu öffnen.
»Wer hat denn einen Tresor in der Küche?«
»Jemand, der weiß, dass hier niemals jemand danach suchen würde.« Nicoletta lachte leise.
»Aber du schon?«
»Ich hatte einen Tipp.«
Rachel beobachtete sie dabei, wie sie mit ihrem Dietrich im Schloss herumstocherte. Die Tresortür sprang auf und Nicoletta grinste breit. Ihre blauen Augen leuchteten vor Aufregung. Dann schaufelte sie alles Bargeld, das darin war, in ihren Sack.
Rachel schaute sich in der Küche um, konnte aber nichts anderes von Wert finden.
Plötzlich wurde die Stille von einem Knall durchbrochen, der im ganzen Haus widerhallte. Der darauf folgende schmerzverzerrte Schrei ging Rachel durch Mark und Bein. Erschrocken fuhr sie herum. Für einen Moment war sie wie versteinert. Was war geschehen?
Sie rannte in die Eingangshalle zurück und konnte nicht fassen, was sie sah. Am Fuß der Treppe lag ein Mann, nein, ein Junge, in einer sich immer weiter ausbreitenden Blutlache. Er hielt sich eine Hand an die Brust, wo ein tiefroter Fleck auf seinem weißen Nachthemd prangte. Sein Gesicht war leichenblass, doch in seinem Blick glimmte noch das Leben.
Hinter Rachel kam Nicoletta herangestürmt und ihre Augen weiteten sich vor Schreck.
»Schnell weg hier!«, rief ihnen jemand zu, aber Rachel war wie gelähmt. Wie konnte das sein? Bisher waren sie noch nie bei einem Raubzug von jemandem überrascht worden!
Da packte Nicoletta sie am Arm und zerrte sie zur Eingangstür hinaus.
Der Platz vor dem Haus war ruhig und verlassen, die anderen Diebe waren bereits in der Dunkelheit verschwunden.
»Schnell jetzt! Wir müssen hier verschwinden!« Nicoletta hob ihren prall gefüllten Sack auf die Schulter und nahm Rachel bei der Hand.
»Wir müssen ihm irgendwie helfen!« Rachels Herz schlug so schnell, wie ihre Hände zitterten. Der Junge würde verbluten! Ihre Hilflosigkeit lähmte sie noch mehr.
»Dafür ist es zu spät! Er wird so oder so sterben!« Nicolettas harte Worte erschütterten Rachel, aber es stimmte: Sie konnte nichts tun. Dennoch fühlte sich ihr Herz an wie Blei, während sie hier tatenlos herumstand.
»Komm jetzt, Rachel!«, drängte Nicoletta. »Oder willst du gefasst werden?«
Diese Angst war größer als Rachels Sorgen. Sie wollte sich nicht einmal vorstellen, was passieren würde, wenn ein Polizist sie jetzt hier fand. Ihre Beine tauten auf, sie raffte die Röcke und begann zu rennen. Bald umfing sie der Nebel wieder und dämpfte ihre Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. Oder vielleicht war es vielmehr ihr laut pochendes Herz, das alles übertönte. Denn obwohl sie entkommen war, wusste sie, dass nichts wieder so sein würde wie zuvor.
Sergeant William McFarlane warf einen Blick auf die Uhr auf seinem Nachttisch. Fünf am Morgen. Endlich spät genug, um aufzustehen. Er setzte sich auf und rieb sich die schmerzenden Augen. Schon wieder hatte er kaum Schlaf gefunden. Wann würde das endlich ein Ende haben?
Er schwang die Beine aus dem Bett und stöhnte leise. Sein Blick fiel auf die Fotos und ausgeschnittenen Zeitungsartikel, die die Wände seines Schlafzimmers bedeckten. Früher hatte ihn der Anblick sofort motiviert. Voller Energie hatte er sich an die Arbeit gemacht. Aber nach all den Jahren vergeblichen Suchens ließ ihn das Gefühl der Hilflosigkeit nicht mehr los.
Seine Hand ballte sich zur Faust, dass die Knöchel weiß hervortraten. Wann würde er endlich Gerechtigkeit walten lassen können?
Er zog sich ein Hemd mit Stehkragen und die Hose und Weste seines dreiteiligen Anzuges an und ging ins Nebenzimmer. Es war wieder einmal eiskalt. Er hatte abends vergessen, Holz nachzulegen, und das Feuer im Kamin war längst erloschen. Trotzdem zündete er sich nur eine Kerze an, die ihr flackerndes Licht auf die weinrote Tapete, die Bücherregale neben dem offenen Kamin und den Schreibtisch in der Ecke warf.
Seufzend setzte er sich in einen der Ohrensessel vor dem Kamin und nahm die Zeitung vom letzten Abend zur Hand, die er noch nicht gelesen hatte. Schon wieder drei Einbrüche. Aber keine Ladendiebstähle. Und keine Raubmorde. Dennoch las er jeden der Artikel sorgfältig, legte die Zeitung dann aber mit einem weiteren Seufzer weg. Nur noch eine Stunde, dann kam die Morgenzeitung.
Um halb sieben klopfte es an seiner Zimmertür.
»Herein!« Seine barsche Stimme verriet seine schlechte Laune.
Seine Haushälterin, die den Raum betrat, ließ sich aber nichts anmerken. Sie war eine Frohnatur und war nicht so leicht einzuschüchtern.
»Ein Telegramm vom Inspector.«
Er nahm es entgegen und zwang sich, ihr ein Lächeln zuzuwerfen. Sie erwiderte es und ließ ihn mit dem Telegramm allein. Der Inspector wollte, dass er so schnell wie möglich zum Scotland Yard kam. An einem Sonntag. Das konnte nur eines bedeuten: Sie hatten einen neuen Fall. Vergeblich wartete er auf den Anflug von Begeisterung, den er dabei bis vor einigen Jahren jedes Mal gespürt hatte.
Dennoch zog er sofort seinen Mantel an, setzte seinen runden Filzhut auf und verließ das Haus. Er atmete tief ein, aber statt frischer Luft stieg ihm nur der Geruch von Pferdedung in die Nase. Die Stadt war inzwischen aufgewacht und Kutschen sowie zweirädrige Droschken verstopften die Straßen. Die zwitschernden Vögel, die versuchten, dem Morgen etwas Fröhlichkeit zu verleihen, wurden von den Rufen der Kutscher und dem Wiehern der Pferde übertönt.
Nach kurzer Zeit fand William eine leere Droschke, rief dem Fahrer, dessen Sitz an der Rückseite der kleinen Kabine angebracht war, »New Scotland Yard, Victoria Embankment!« zu und stieg ein.
Über das Rumpeln der Kutschräder hinweg hörte William in der Ferne eine Kirchenglocke läuten. Eigentlich hatte er seinen Eltern versprochen, mal wieder mit ihnen den Gottesdienst zu besuchen, aber Inspector Whitman duldete bei einem neuen Fall keinen Aufschub. Nächste Woche war schließlich auch noch ein Sonntag.
Als der junge Sergeant das neue eindrucksvolle Hauptquartier von Scotland Yard mit seiner roten Backsteinfassade erblickte, hob sich seine Laune. Wieder einmal erfüllte ihn der Stolz, hier arbeiten zu dürfen. Vielleicht brachte dieser neue Fall ihn endlich auch in seinen privaten Ermittlungen weiter.
Er betrat das Büro mit Blick auf die Themse, welches er sich mit dem Inspector teilte. Die Sprossenfenster ließen viel Tageslicht herein, aber die dunkel getäfelten Wände und die Rauchschwaden, die sich zur Decke kräuselten, ließen den Raum fast wie eine Höhle wirken.
Whitman saß an seinem großen Schreibtisch und paffte an einer Zigarre. Er erinnerte William mit seiner massigen Gestalt und dem großen Schnurrbart an ein Walross, aber das sprach er natürlich niemals aus.
William räusperte sich. »Guten Morgen. Ich habe gehört, Sie haben Neuigkeiten.«
»Ja, in der Tat.« Inspector Whitman wies auf den Stuhl ihm gegenüber und William setzte sich. »Sicher haben Sie schon von der Diebesbande gehört, die das Londoner West End seit Jahren heimsucht?«
»Meinen Sie die Einbrüche, in denen die Häuser regelrecht leergeräumt werden? Wurden sie wirklich alle von derselben Bande durchgeführt?«
»Ja, davon gehen wir aus. Das Muster ist immer dasselbe.«
»Hat man jetzt uns den Fall übertragen?« William zog die Augenbrauen zusammen. Normalerweise bearbeiteten sie keine Diebstähle.
»Genau. Letzte Nacht kam es zu einem Mord. Der Druck, diesen Fall endlich zu lösen, ist damit enorm.«
William lächelte grimmig in sich hinein. Sein Interesse war geweckt. Wenn diese Diebe jetzt mordeten, hatten sie es vielleicht schon einmal getan. Und womöglich würde er noch mehr Parallelen zu dem Fall finden, der ihn schon so lange gefangen hielt.
»Meinen Sie, die Diebe sind jetzt zu Mördern geworden?«, fragte er, denn er war neugierig, ob der Inspector seinen Gedanken teilte. »Bisher war niemals jemand zu Hause, wenn sie zuschlugen.«
»Anscheinend waren sie dieses Mal falsch informiert und wurden von der Anwesenheit der Bewohner überrascht. Das bedeutet, dass sie ihren ersten Fehler begangen haben.« Der Inspector zog genüsslich an seiner Zigarre und atmete den Rauch sogleich wieder aus. »Und der führt bestimmt zu weiteren Fehlern. Ich bin zuversichtlich, dass die Bürger im West End bald wieder ruhiger schlafen können.«
»Das hoffe ich auch. Aber bisher gibt es noch keinerlei Hinweise auf die Identität auch nur eines der Mitglieder dieser Bande. Ich denke, wir sollten keine Zeit verlieren, Inspector.« William stand auf und nahm seinen Hut und Mantel wieder vom Haken neben der Tür. Sein lang vermisster Eifer war endlich zurück und er konnte es kaum erwarten, mit den Ermittlungen zu beginnen.
»Nun, da haben Sie natürlich recht. Wir haben viel Arbeit vor uns. Auf zum Tatort!« Mit einem leisen Seufzer drückte Inspector Whitman seine Zigarre aus und erhob sich schwerfällig von seinem Sessel.
Schmunzelnd drehte sich William zur Tür. Wenn er den Inspector nicht so gut kennen würde, hätte er gedacht, dass er keine Begeisterung mehr für den Beruf aufbrachte. Aber Whitman hatte sein ganzes Leben Scotland Yard gewidmet und dementsprechend viele Erfolge aufzuweisen. Ohne ihn wäre London ein noch gefährlicheres Pflaster.