Doch dann waren die Wagenräder allzu ruckelnd über die Furt gerollt und das Rütteln hatte sie von der Wagenkante ins tiefere Wasser des Flusses geworfen, der durch den starken Frühlingsregen gefährlich angeschwollen war. Nach Atem ringend, griff sie nach der Luft, nach dem Wasser, nach irgendetwas, um nicht unterzugehen. Als sie an einer umgestürzten Pappel vorbeitrieb, die über die Wasseroberfläche ragte, streckte sie schnell den Arm aus und bekam mit den Fingern einen rauen Zweig zu fassen.
Gott, hilf mir! Angst und Panik krochen in ihr hoch.
»Halten Sie sich fest!«, rief ein Reiter, der ein rotbraunes Pferd auf sie zutrieb. Das Wasser klatschte mit Gewalt gegen die Flanken des Tieres und drohte das Pferd mitsamt seinem Reiter mitzureißen. Aber irgendwie trotzte das Pferd dem gierigen Griff des Wassers und kämpfte sich weiter zu ihr vor.
Linneas nasse Hand glitt an dem Zweig nach unten. Sie klammerte sich so verkrampft fest, dass ihre Finger schmerzten. Ein Wasserschwall, den das näherkommende Pferd aufwühlte, schwappte ihr ins Gesicht.
Sie blinzelte kräftig und prustete laut.
Der Reiter beugte sich schnell zu ihr herab und im nächsten Moment legten sich seine Hände, die in Lederhandschuhen steckten, kräftig um ihren Unterarm.
Sie klammerte sich an seinen Steigbügel. Als er begann, sie aus dem Wasser zu ziehen, griff sie nach seinem Sattel, um besser nach oben zu kommen. Mit überraschender Leichtigkeit zog er sie hoch, bis er sie an beiden Armen hielt. Dann schwang er sie mit einem letzten Ruck vor sich auf den Sattel.
Hustend wischte sie das Wasser weg, das ihr immer noch übers Gesicht lief. Bevor sie etwas sagen oder ihren Retter auch nur ansehen konnte, lenkte er sein Pferd zum Westufer herum. Linnea hielt die Luft an und klammerte sich an den Sattelknauf, während sie betete, dass das Tier sicher durch die Fluten zum Ufer käme.
Das tosende Wasser übertönte alle anderen Geräusche bis auf den keuchenden Atem des Mannes hinter ihr. Seine starken Arme umschlossen sie sicher und er hielt die Zügel fest in seinen Händen. In dem Bemühen, das Pferd zu kontrollieren und zu lenken, beugte er sich tief über den Hals des Pferdes und Linnea spürte die angespannten Muskeln seines Brustkorbs.
Als das Pferd das seichtere Wasser in Ufernähe erreichte, wagte Linnea, wieder zu atmen. Danke, himmlischer Vater, dass du mein Leben gerettet hast.
Sie hatte gewusst, dass die Reise in den Westen mit Schwierigkeiten und Risiken verbunden war. Während der Vorbereitungen für die botanische Expedition hatte ihr Großvater unzählige Geschichten über Tragödien und Todesfälle vorgelesen, die viele Teilnehmer früherer Expeditionen auf dem Santa Fé Trail quer durch die Prärie heimgesucht hatten. Er hatte Linnea vor den Gefahren gewarnt und ihr von der Reise abgeraten.
Trotzdem hatte sie nicht damit gerechnet, nach nur zehn Tagen bereits dem Tod ins Auge zu blicken.
Das Pferd geriet auf den lockeren Steinen und dem zähen Schlamm leicht ins Straucheln. Diese Bewegung rüttelte Linnea auf und warf sie auf die Seite. Ihr Retter hielt sie zwischen seinen Armen fest, damit sie nicht vom Pferd rutschte. Gleichzeitig tätschelte er die Mähne und den Hals seines Pferdes, als wollte er ihm Mut zusprechen. Das Pferd fand wieder Halt und stapfte weiter die schlammige Böschung hinauf.
Schließlich hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen, der mit Bartgras, Knopfbusch, Moskitogras und Acker-Rindszunge bewachsen war. Bur-Eichen, Schwarznuss, Traubenkirsche, Rot-Eschen und Pappeln säumten die Ufer des Flusses und boten den Menschen, die den Fluss bereits durchquert hatten, einen angenehmen Schatten.
»Flynn!«, rief ein Mädchen, das unter den schattigen Zweigen einer weit ausholenden Pappel, die mit zartem Laub bewachsen war, auf- und niederhüpfte. »Nicht schlecht, Mann! Du hast es geschafft! Du hast sie gerettet!«
Ein schlaksiger junger Mann von ungefähr sechzehn Jahren kam zu ihnen gerannt und griff nach dem Zaumzeug des Pferdes. »Wirklich gut gemacht, Flynn! Viel besser hätte ich es auch nicht gekonnt.«
Als Linneas Blick auf die weite Flussebene fiel, bemerkte sie viele Rinder, die im Präriegras weideten oder im Schatten der Bäume standen und versuchten, mit ihren Schwänzen die Fliegen zu vertreiben.
Zwei andere junge Männer standen in Ufernähe und blickten neugierig zu ihnen. Das Lagerfeuer, das in der Nähe brannte, und die gusseiserne Pfanne, in der gebratene Fische schmorten, hatten alle völlig vergessen.
»Du warst wirklich rasend schnell im Wasser, Flynn.« Das Mädchen, dessen dunkles Haar in ungezähmten Wellen um sein schmutzverschmiertes Gesicht hing, kam angelaufen und schaute Linneas Retter mit leuchtenden, braunen Augen bewundernd an.
»Bring eine Decke, damit sie sich wärmen kann«, forderte Flynn das Mädchen auf.
Das Mädchen wandte seine Aufmerksamkeit nun Linnea zu. Erst, als Linnea sie anzulächeln versuchte, merkte sie, wie stark ihre Zähne klapperten und dass sie am ganzen Körper zitterte. Ihre Finger und Zehen waren taub und ihre Kleidung klebte an ihrem Körper wie eine eisige Frostschicht am Morgen.
»Geh schon, Ivy«, wiederholte der Reiter seine Aufforderung, dieses Mal mit schärferer Stimme. »Und du, Dylan, mach ein größeres Feuer.«
Das Mädchen nickte schnell und lief davon. Der junge Mann eilte ebenfalls los, um Flynns Anweisung nachzukommen.
Waren die beiden seine Kinder? Wenn ja, wo war seine Frau?
Linnea konnte im Lager keine Spur von anderen Frauen entdecken.
»Halten Sie durch«, forderte die angenehm tiefe Stimme des Mannes hinter ihr sie auf, dann glitt er vom Pferd. Als er auf der Erde stand, schaute er zu ihr hinauf und sie konnte zum ersten Mal sein Gesicht sehen. Obwohl er die Krempe seines breiten Filzhutes tief in die Stirn gezogen hatte, waren seine attraktiven Gesichtszüge nicht zu übersehen. Der dunkle Schatten seiner Bartstoppeln auf den schmalen Wangen verlieh ihm etwas Verwegenes und zugleich Verwundbares und seine Augen zeigten ein faszinierendes Grünblau, die Farbe des Wiesenrispengrases.
Ein Gedanke riss Linnea aus ihren Beobachtungen: Wie würde Großvater darauf reagieren, dass sie fast ertrunken war? Würde er sie zwingen, nach Hause zurückzukehren?
Als der letzte Wagen ihres Trecks langsam das Ufer hinaufgerollt war, sah Linnea, wie ihr Großvater hastig auf sie zusteuerte.
»Großvater.« Sie winkte und versuchte, unbeschwert zu wirken. »Mir geht es gut.«
In seinem steifen Mantel, mit seiner ordentlich gebundenen Krawatte und seinem hohen Zylinder strahlte er eine vornehme Eleganz aus. Sein Monokel hing an einer Kette, die an seiner Weste befestigt war, und schwang bei jedem seiner langen Schritte wie ein Pendel hin und her. Sein Haar – früher genauso blond wie ihres – hatte jetzt ein Blond angenommen, das von silberfarbenen Strähnen durchzogen war.
»Linnea!« Die Besorgnis war ihm anzusehen. »Geht es dir gut?«
»Ja, ich bin nur ein bisschen nass.« Sie warf die Schultern zurück und war dankbar, dass sie nicht mehr vor Kälte bibberte, auch wenn ihre Füße immer noch taub waren.
Großvater zog sie in seine Arme. Er drückte sie erleichtert an sich und hielt sie so fest, dass sie das Zittern in seinen Gliedern fühlen konnte. »Ich hatte solche Angst.«
Dann hielt er sie an beiden Armen von sich und schaute sie genauso prüfend an wie sonst seine Pflanzenexemplare.
Lachend entzog sie sich ihm. »Keine Sorge, Großvater. Ich bin keine zarte Rosenblüte.«
»Das weiß ich, Liebes. Aber du hättest ertrinken können.«
»Ich bin nicht ertrunken. Mir geht es bestens.«
Ihr Großvater betrachtete sie noch einen Moment länger, dann seufzte er tief und hielt Flynn die Hand hin. »Junger Mann, danke, dass Sie meine Enkelin gerettet haben. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich bin.«
Flynn drückte seine Hand. »Das war doch selbstverständlich, Sir.«
Linnea war diesem Mann noch nicht richtig vorgestellt worden, aber sie wollte höflich sein. »Großvater, das ist Flynn …« Sie kannte jedoch seinen Nachnamen nicht.
Als sie abbrach, schaltete er sich ein. »McQuaid. Flynn McQuaid.«
Der ältere Mann richtete seinen Blick nachdenklich auf Linnea, die in einiger Entfernung mit Ivy sprach und lachte. »Wenn ich sie zurückschicke, breche ich ihr damit das Herz, Mr McQuaid.« Seine Stimme war leise und ernst. »Sie arbeitet so fleißig daran, ihren Beitrag zu dem Forschungsprojekt zu leisten, dass ich einfach nicht weiß, ob ich ihr das antun kann. Aber nachdem ich sie heute beinahe verloren hätte, weiß ich nicht, wie ich sie weiter mitreisen lassen kann, ohne dass jemand auf sie aufpasst und für ihre Sicherheit sorgt.«
Dr. Howell betrachtete den jungen Mann neben sich nachdenklich. »Meine Enkelin im Auge zu behalten, dürfte Sie eigentlich nicht von Ihren anderen Aufgaben abhalten. Sie bräuchten nur darauf zu achten, dass Sie in ihrer Nähe bleiben, sie bei ihren Erkundungen begleiten und dafür sorgen, dass sie sich nicht zu weit entfernt oder in Schwierigkeiten gerät.«
Nur?! »Das klingt, als suchten Sie jemanden, der von morgens bis abends nicht von der Seite Ihrer Enkelin weicht.«
»Nicht die ganze Zeit. Das wäre selbstverständlich unmöglich. Aber Sie könnten sie doch in Ihrem Blickfeld behalten, selbst wenn Sie nicht in ihrer unmittelbaren Nähe sind, oder?«
»Also gut.« Flynn hielt Dr. Howell die Hand hin. »Ich mache es.«
»Ausgezeichnet.« Dr. Howell ergriff seine Hand und schüttelte sie kräftig. »Dann ist die Sache abgemacht.«
Als Flynn schon die Hand zurückziehen wollte, hielt Dr. Howell sie noch einen Moment fest und runzelte die Stirn. »Eine Sache noch, junger Mann.« Er beugte sich vor und senkte vertraulich die Stimme. »Ich halte es für besser, wenn wir diese Abmachung für uns behalten. Linnea braucht von unserer Vereinbarung nichts zu erfahren.«
Kundenstimmen
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05.09.2023Märchens Bücherwelt 
Dies ist der 2.Teil der „Neuanfang in Colorado“ Reihe. Vom Stiefvater vertrieben geht es mit Flynn McQuaid und seinen beiden Geschwistern Ivy und Dylan samt Rinderherde auf den beschwerlichen Weg nach Colorado, wo sich sein Bruder Wyatt mit seiner Frau Greta und ihrer Schwester Astrid eine Ranch aufgebaut hat.
Doch als Flynn die junge Botanikerin Linnea aus dem Fluss rettet,
hat er nicht nur die beschwerliche Aufgabe, die Rinder möglichst vollständig zu seinem Bruder zu bringen, sondern auch auf die junge Botanikerin aufzupassen und sie vor Gefahren zu schützen.
Diese Geschichte ist wirklich ein Genuss. Nicht nur, weil es an jeder Ecke lauernde Gefahren gibt, die sich mit fortlaufender Reise summieren, sondern weil Linnea einfach so unbedarft ist, ungewollt von einem Ungeschick ins nächste rasselt und dabei Flynn nicht nur aufgrund seines Beschützerinstinkts, sondern auch wachsender Gefühle immer mehr fordert. Der innere Kampf gegen das, was er sich selbst aufgrund vieler schlimmer Erfahrungen auferlegt hat, ist deutlich zu spüren.
Er ist ein verantwortungsbewusster, fleißiger und rücksichtsvoller Mensch, der immer erst das Wohl anderer im Auge hat und gleichzeitig überfordert ist, weil er merkt, wie ihn vieles an seine Grenzen bringt.
Linnea dagegen ist zwar eigensinnig und doch so liebenswert, naturverbunden und gutmütig und obwohl sie eine äußerst attraktive Frau ist, bleibt sie bescheiden und verknüpft diese Schönheit mit der Schönheit der Natur und verweist dabei immer mit verschiedenen Bibelzitaten auf Gott als Schöpfer und die Achtsamkeit des Lebens.
Ich mochte diese unbefangene Art, wie sie mit den Menschen umgeht, besonders mit Flynns Schwester Ivy, über die ich oft lachen musste, weil sie ihren Bruder mit ihrer direkten Art gern mal aus der Reserve lockt.
Gleichzeitig erhält man ein paar interessante Einblicke in die Botanik, ihre Beschaffenheit und wie sie genutzt werden kann.
Es ist ein sanfter, gefühlvoller Roman, in der auf verschiedene Art auf Gottes Schöpfung Bezug genommen wird, welchen Einfluss sie auf die Persönlichkeit eines Menschen nehmen kann, besonders wenn man sein Leben in Gottes Hand legt und darauf vertraut, dass er zum richtigen Zeitpunkt handeln wird.
Obwohl man ahnt, wie es ausgeht, ist die Entwicklung einfach bezaubernd, denn beide lernen auf unterschiedliche Art, dass Erlebnisse und Vorstellungen anders verlaufen, wenn jemand in das eigene Leben tritt, der es mit Güte und Vertrauen bereichert und es wieder lebenswert macht.
Dabei sind auch Cover und Titel passend gewählt, weil es hier um verschiedene Arten von Stärke geht, die alle auf Gottes Gnade und Güte zurückzuführen sind.
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