Außerdem verlangten die Deutschen, dass wir jeder noch 230 Reichsmark für die Rückreise bezahlten, obwohl keiner von uns vorhatte, zurückzukommen. Nachdem wir die Schiffspassage und die Bahnfahrt nach Hamburg bezahlt hatten, war kaum noch etwas von unserem Geld übrig. Aber das war egal. Die Regierung erlaubte uns ohnehin nicht, mehr als 10 Reichsmark pro Person in der Tasche zu haben, wenn wir abreisten. Sechs Monate nach der Reichskristallnacht war unsere Not fast vorbei. Unsere Familie würde auf Kuba sicher sein, während wir darauf warteten, dass wir in die Vereinigten Staaten einreisen durften.
…
Als wir am Hamburger Hafen eintrafen, erstreckte sich die Schlange aus Passagieren, die an Bord gehen wollten, über den gesamten Anleger bis hin zur Gangway. Ich blieb staunend stehen, um das riesige Schiff zu betrachten. Von meinem Standort aus war es unmöglich, den ganzen Dampfer zu sehen, aber der Anblick des großen schwarzen Schiffsrumpfes, des glänzend weißen oberen Teils mit den daran befestigten Rettungsbooten und der beiden dampfenden Schornsteine, die rot, weiß und schwarz gestrichen waren, machte mir wieder Mut. Eine Blaskapelle spielte Marschmusik, um uns zu verabschieden.
Als wir endlich an der Reihe waren und an Bord gehen konnten, brachte ein Steward uns zu unserem holzgetäfelten Prunkgemach. Ich war noch nie an Bord eines Schiffes gewesen und betrat es als Letzte, wobei ich nicht aufhören konnte, die herrliche Innenausstattung anzustarren. Alles erinnerte mich an die vornehmen Hotels, in denen wir früher Urlaub gemacht hatten.
»Wir setzen bestimmt bald die Segel«, sagte ich. »Ich gehe an Deck, um zu sehen, wie wir ablegen, wenn ihr nichts dagegen habt. Komm mit, Ruthie.« Ich nahm meine Schwester an der Hand und öffnete die Tür, ohne die Antwort meiner Eltern abzuwarten. Die beiden brauchten ein paar ungestörte Minuten.
Die Passagiere mit ihren ernsten Mienen, die sich schon an der Reling versammelt hatten, hatten eine merkwürdig dämpfende Wirkung auf mich. Ich fragte mich, ob sie dieselben gemischten Gefühle hatten wie ich – Erleichterung, den Flammen der Verfolgung entflohen zu sein, aber zugleich Kummer beim Abschied von unserer Heimat, der Heimat unserer Vorfahren. Würden wir Deutschland jemals wiedersehen? Einige Passagiere winkten den Menschen auf dem Anleger unter uns zu, aber wir hatten niemanden, dem wir hätten zuwinken können. Die Kapelle spielte weiter und ignorierte die gebrüllten Befehle der Matrosen und Hafenarbeiter, als sie die Gangway hinaufzogen und die Leinen losmachten. Das plötzliche Schrillen der Schiffssirene ließ mich zusammenzucken und ich hielt mir die Ohren zu. Ruthie schrie erschrocken auf, doch dann sahen wir uns an und lachten. Die Kapelle an Land hörte auf zu spielen. Dann erbebte das Schiff unter mir und wir setzten uns in Bewegung. Der Wassergraben, der uns vom Ufer trennte, wurde immer breiter. Ich wollte sehen, wie die Stadt Hamburg allmählich kleiner wurde, bis sie nicht mehr zu sehen war. Mein altes Leben endete und ein neues begann.
»Ganz pünktlich«, sagte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah, wie ein junger Mann, der etwa so alt war wie ich, auf seine Taschenuhr blickte. »Die Deutschen sind immer pünktlich.« Er klappte die Uhr zu und steckte sie wieder in seine Hosentasche. Mit seinen honigfarbenen Haaren und den Augen, die so grünblau waren wie das Wasser, sah er aus wie ein Filmstar. Ich fragte mich, ob er ein Goj war und es trotzdem wagen würde, mit mir zu sprechen, wo ich doch Jüdin war. Er lächelte und streckte die Hand aus. »Guten Abend. Ich heiße Sam Shapiro.« Ein jüdischer Name. Ich erwiderte das Lächeln und ließ Ruthies Hand los, um seine zu ergreifen.
»Ich heiße Gisela«, sagte ich zu ihm. »Gisela Wolff.«
»Das kannst du jetzt abnehmen«, sagte er und zeigte auf den gelben Stern, den wir an unserer Kleidung tragen mussten. »Wir sind nicht mehr in Deutschland. Wir sind frei.« …
Unser erster Tag an Bord des Luxusdampfers St. Louis erwies sich als schön und sonnig. Nach dem Frühstück, das von Kellnern in weißen Jacken serviert wurde, wollte ich jeden Zentimeter des Schiffes erkunden. In unserer Mappe mit Informationen stand, dass es Decks gab, auf denen wir in der Sonne spazieren gehen konnten, eine Turnhalle, ein Kino, mehrere Speisesäle, unter denen wir wählen konnten, einen Tanzsaal und noch viel, viel mehr – unter anderem auch ein Schwimmbad. Ich konnte kaum fassen, dass wir wieder einen solchen Luxus genießen durften.
»Komm, wir sehen uns das Schiff an, Ruthie«, sagte ich, sobald wir vom Frühstück zurück waren. »Hast du Lust?«
Sie schüttelte den Kopf und warf sich auf ihr Bett. Meine Schwester war eine dünne, zierliche Elfjährige mit Muttis rabenschwarzen Haaren und Vatis traurigen dunklen Augen. »Wir würden uns nur verlaufen«, antwortete sie. Ich vermutete, dass ihr die Hakenkreuzfahnen und Hitlers Bild im Speisesaal Angst machten. In den letzten sechs Monaten waren wir in unserer Wohnung in Berlin wie eingesperrt gewesen und hatten uns kaum vor die Tür gewagt, nachdem unsere jüdische Schule niedergebrannt war. Die luxuriöse St. Louis erschien uns allen wie eine fremde Welt.
»Na gut, dann geh ich eben allein«, antwortete ich.
Ich wurde immer aufgeregter, als ich durch die schmalen Korridore lief und mit den Händen über die Metallgeländer fuhr, die wir brauchen würden, wenn die See rauer wurde. Die Gänge waren makellos sauber und dufteten nach frischem Lack. Ich ging eine steile Metalltreppe hoch, weil ich entfernt Gelächter und Stimmen hörte, und kam zum Sportdeck, wo eine Partie Shuffleboard im Gang war und kreischende Kinder Fangen spielten. Der Himmel hatte die herrlich blaue Farbe eines Saphirs und ich schmeckte Salz auf den Lippen. Vorsichtig trat ich an die Schiffsreling und zog meine Jacke fester um mich, um mich gegen den Wind zu schützen, der mir das Haar zerzauste. Ich fühlte mich so lebendig und frei, dass ich am liebsten nie wieder in die Kabine zurückgegangen wäre.
»Gisela!« Als ich meinen Namen hörte, drehte ich mich um und sah Sam Shapiro auf mich zukommen, seine Kippa in der Hand, damit sie nicht weggeweht wurde. Ich staunte, dass er noch meinen Namen wusste. »Hallo«, sagte er mit einer kleinen Verneigung. »Wie war deine erste Nacht auf der St. Louis?«
»Ich habe so gut geschlafen wie seit Monaten nicht mehr«, erwiderte ich. Ich wischte mir das wild wehende Haar aus den Augen und wünschte, ich hätte ein hübscheres Kleid angezogen und mir mit meiner Frisur mehr Mühe gegeben. »Und du?«
»Ich finde es herrlich. Und nach diesem wunderbaren Frühstück will ich mich jetzt auf dem Schiff umsehen. Hast du Lust mitzukommen? Oder wartest du vielleicht auf jemanden?«
»Nein, ich bin allein unterwegs. Und ich hatte dieselbe Idee. Ich würde gerne mit dir auf eine Erkundungstour gehen, Sam. Wo sollen wir anfangen?«
»Ich dachte, ich gehe aufs oberste Deck und arbeite mich dann nach unten vor.« Sam hatte einen guten Orientierungssinn und fand immer den richtigen Weg, sodass wir an diesem Vormittag auf dem ganzen Schiff umherliefen, während wir über unsere Familien sprachen und uns besser kennenlernten. Er war 18, also zwei Jahre älter als ich, und hatte in Frankfurt gelebt. »Mein Vater ist vor einem Jahr geflohen und wartet in Kuba auf uns«, erklärte Sam. »Meine Großmutter war damals sehr krank und meine Mutter wollte sie nicht alleinlassen. Seitdem trage ich die Verantwortung für Mutti und meine zwei kleinen Brüder. Oma ist letzten Monat gestorben und jetzt können wir endlich zu meinem Vater reisen.«
»Ich weiß, was du mit der Verantwortung meinst. Mein Vater wurde während der Reichskristallnacht verhaftet und meine Mutter hatte einen Nervenzusammenbruch. In den vergangenen Monaten musste ich dafür sorgen, dass sie und meine Schwester nicht den Mut verloren und wir aus Deutschland fliehen konnten.«
»Das mit deinem Vater tut mir leid. Meiner ist ganz knapp einer Verhaftung entgangen.«
Wir waren inzwischen bestimmt eine Stunde auf dem Schiff unterwegs und ich mochte Sam Shapiro schon jetzt und vertraute ihm. Ich verriet ihm die Wahrheit, dass Vati plötzlich aus Buchenwald entlassen worden war und sich jetzt an Bord des Schiffes befand. »Dann gibt es ja in Kuba vielleicht doch noch ein Happyend für uns alle«, sagte Sam. Wir hatten das Schiffsheck erreicht und ich starrte ins aufgewühlte Kielwasser weit unter uns.
»Ich kann mir noch kein Happyend vorstellen«, antwortete ich. »Nicht, bis wir in die USA einwandern können.«
»Bei meiner Familie ist es genauso. Aber im Moment ist es herrlich, eine Zeitlang keine Sorgen zu haben und eine Stunde oder so ohne meine Brüder und dafür mit einem hübschen Mädchen zu verbringen.«
Nach einigen Tagen hatten Sam und ich in jede Ecke des Schiffes gespäht und auch in jeden Winkel unseres Lebens. Irgendwann kamen wir auf unseren Glauben zu sprechen. Wir saßen ganz dicht nebeneinander auf Liegestühlen, in dicke Decken gehüllt, als Sams blaugrüne Augen ernst wurden. »Ich möchte dich etwas fragen, Gisela. Bist du Jüdin, weil du jüdische Eltern hast oder weil du wirklich glaubst?« Ich runzelte die Stirn, weil ich nicht sicher war, dass ich seine Frage richtig verstand. »Mit anderen Worten: All die Gesetze in der Tora, die Geschichten von Abraham und Mose, der Auszug aus Ägypten – glaubst du, dass sie alle wahr sind, oder sind es für dich nur überlieferte Traditionen?«
Ich überlegte einen Augenblick und versuchte, die lauten Gespräche auszublenden, die von unten heraufdrangen, um mich ganz auf Sam zu konzentrieren. Inzwischen kannte ich jeden Zentimeter seines attraktiven Gesichts, von seinem kantigen Kinn mit den goldenen Bartstoppeln bis zu dem dichten blonden Haar und den dunklen Augenbrauen. Seine Augen liebte ich besonders – und das Lachen darin, aber auch die Ernsthaftigkeit, die ich manchmal in ihnen sah. Nie wieder würde ich das Meer betrachten können, ohne an Sams Augen zu denken und daran, wie sie mal grün, mal blau, mal grau wurden, eben wie das Wasser des Ozeans.
»Ich bin Jüdin, weil ich daran glaube«, antwortete ich ihm. »Solange ich denken kann, hat unsere Familie den Sabbat und alle Jahresfeste gefeiert und ich glaube an die Wahrheiten, die sie uns lehren. Ich glaube an Gott und daran, dass er das Wasser geteilt hat, um uns zu retten – derselbe Gott, von dem König David in den Psalmen singt.«
»Ich liebe die Psalmen«, sagte Sam leise. »Sie decken die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen ab, von Angst und Trauer bis zu Freude und Liebe, auf ganz ehrliche und direkte Art.«
»Als sich unser Leben in Deutschland allmählich änderte«, sagte ich, »hat mein Vater immer gesagt, Gott habe einen Grund für alles, was geschieht, und dass wir ihm vertrauen können. Wir haben das Passafest sogar gefeiert, als Vati in Buchenwald war – und wir haben ein echtes Wunder erlebt, als er entlassen wurde. Vati glaubt, dass Gott seine Verhaftung und sein Leiden im Lager zugelassen hat, damit er der Welt erzählen kann, was die Nazis uns antun. Er glaubt, wenn die freiheitsliebenden Amerikaner davon hören, werden sie uns zu Hilfe kommen.« An Sams ernster Miene und daran, dass er mir förmlich an den Lippen hing, während ich sprach, konnte ich sehen, dass er ebenso glaubte wie ich, aber ich fragte trotzdem: »Und du? Bist du froh, Jude zu sein?«
»Ja, das bin ich. Und ich stimme deinem Vater zu, was Gottes Ziele betrifft. Die Tatsache, dass wir in Deutschland nicht mehr willkommen sind – so wie Juden an vielen Orten und zu allen Zeiten nicht willkommen waren –, macht deutlich, dass unser Volk ein eigenes Heimatland finden muss.«
»Aber wo sollte das denn möglich sein? Hätten wir nicht längst eine Heimat gefunden, wenn es ein Land gäbe, das uns haben will?«
»Unsere wahre Heimat ist Eretz Israel. In der Tora hat Gott uns dieses Land verheißen. Ich glaube, dass unser Volk eines Tages dort leben wird.«
»Wirklich? Wenn wir das Sedermahl am Passafest mit den Worten ›Nächstes Jahr in Jerusalem‹ beenden, scheint mir das eher etwas zu sein, was man sich wünscht, wenn man eine Sternschnuppe sieht, und nicht etwas, das wirklich passieren könnte.«
»Gott hat dem Propheten Jesaja gesagt, dass er uns ein zweites Mal in unsere Heimat zurückbringen wird. Die erste Rückkehr hat in den Tagen von Esra und Nehemia stattgefunden. Vielleicht kommt das zweite Mal ja bald.«
»Vati sagt, die Briten kontrollieren Palästina und sind gegen einen jüdischen Staat.«
»Ich weiß. Aber stell dir mal ein Land vor, in dem jeder Jude ist und wir unsere eigenen Regeln und Gesetze machen können.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte ich seufzend. Die Sonne hatte jetzt schon mehr Kraft und ich schob die Wolldecke zur Seite. »Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, wie es sein wird, auf Kuba zu leben. Oder in den USA.«
»Wenn wir noch mal von vorne anfangen«, sagte Sam, »wenn Tausende von uns vor der Verfolgung in Deutschland und an anderen Orten fliehen, warum sollten wir dann kein richtiges Heimatland haben?« Seine Leidenschaft für dieses Thema war offensichtlich und seine Begeisterung ansteckend. »Würdest du nach Palästina gehen, Gisela? Würden deine Eltern es tun?«
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht. In unserer Gemeinde gab es Zionisten, die davon gesprochen haben, dass sie dorthin zurückwollen. Aber ich habe gehört, dass es im Vergleich zu Europa ziemlich primitiv ist. Und meine Familie ist schöne Dinge gewöhnt. Die letzten paar Monate waren für Mutti wirklich hart, als wir in unserer fast leeren Wohnung gehaust haben.«
»Meine Mutter ist genauso. Aber wärest du bereit zu gehen, wenn wir alt genug sind, um unsere eigenen Entscheidungen zu treffen?«
»Ich weiß nicht. Darüber muss ich erst nachdenken. In letzter Zeit habe ich immer nur an Mutti und Ruthie gedacht und daran, wie wir aus Deutschland rauskommen.«
Plötzlich beugte sich Sam in seinem Liegestuhl vor und sah mich an. »Was wäre denn, wenn es bei allem, was wir durchgemacht haben, Gottes Ziel war, dass wir beide uns kennenlernen? Was, wenn unsere Zukunft uns von jetzt an miteinander verbindet?«
Mein Herz raste. Ich wusste, dass ich Samuel Shapiro immer lieber mochte, und der Gedanke, dass es ihm ebenso gehen könnte, war erstaunlich. »Das … das wäre schön«, stammelte ich.