Das wird eine lange Nacht. Vivian Steele überprüfte noch ein letztes Mal ihren pinkfarbenen Lippenstift, bevor sie die Damentoilette verließ und sich in das Haifischbecken begab – offiziell als Diplomatendinner in Washington, DC, bekannt. Aber dies war nicht irgendein Abendessen. Dies war das erste jährliche Sommerevent in einem schicken Fünf-Sterne-Hotel im Norden Virginias, an dem namhafte Diplomaten aus der ganzen Welt teilnahmen.
Vivians Vorgesetzter hatte darauf bestanden, dass sie ebenfalls hinging. Vivian arbeitete im Büro der Rechtsabteilung im Außenministerium und hatte nach sechs Jahren als Anwältin im Staatsdienst mittlerweile eine Menge gesehen und erlebt.
Aber nichts verursachte ein solches Unbehagen bei ihr wie solche eleganten Veranstaltungen, bei denen Netzwerker aus der Hauptstadt und der Umgebung sich ein Stelldichein gaben, miteinander plauderten und neue nützliche Beziehungen knüpften. Als sie an ihrem knielangen schwarzen Cocktailkleid heruntersah, hatte Vivian das Gefühl, völlig fehl am Platz zu sein. Rüschen und Glitzer waren überhaupt nicht ihr Ding, deshalb hatte sie sich für einen klassischen Look entschieden. Wenigstens fiel sie damit in der Menge nicht weiter auf.
Als sie Layla Karam McCoy auf sich zukommen sah, stieß Vivian einen Seufzer der Erleichterung aus. Ihre beste Freundin hatte seit ihrer Hochzeit gar nicht mehr aufgehört zu strahlen und dieses Strahlen wurde durch ihr langes, glitzerndes, elegantes Abendkleid noch verstärkt.
»Was machst du denn hier? Ich hätte nicht gedacht, dass sie Spioninnen hier reinlassen«, witzelte Viv mit gedämpfter Stimme.
Layla stöhnte. »Ich wünschte, ich wäre nicht hier, aber ich repräsentiere heute die Behörde. Mein Boss hat sich in letzter Minute aus der Affäre gezogen und mir erklärt, dass ich mir dieses Essen antun muss, erst recht, weil der Job fürs Außenministerium meine Tarnung ist.«
Viv trat näher zu ihrer Freundin. »Wie viele von den sogenannten Diplomaten hier gehören wohl in Wirklichkeit zu irgendwelchen Geheimdiensten?«
Layla sah sich im Raum um. »Wahrscheinlich zehn Prozent. Vielleicht auch mehr.«
Viv hatte schnell gelernt, dass Geheimagenten oft Diplomatenjobs als Tarnung hatten, und das war in anderen Ländern ähnlich. Laylas Tarnung war ein Job als Analystin im Außenministerium.
»Hey!« Layla packte Viv am Ellbogen. »Wer ist denn der Muskelprotz mit den dunklen Haaren, der dich die ganze Zeit beobachtet?«
»Von wem redest du?«, flüsterte Viv zurück.
»Warte einen Moment und dreh dich dann langsam zum Vorspeisenbüffet um.«
Viv wartete ein paar Sekunden und sah dann beiläufig in die entsprechende Richtung. Layla hatte nicht übertrieben. Der Mann, von dem sie gesprochen hatte, war deutlich über ein Meter achtzig groß. Er hatte wellige dunkle Haare und war gut gebaut. Sehr gut gebaut. »Ich habe keine Ahnung, wer das ist.«
Layla lachte. »Wenn ich mich nicht irre, würde er aber gerne wissen, wer du bist.«
»Das bildest du dir ein.« Viv seufzte. »Seit deiner Hochzeit kennst du wirklich nur noch ein Thema.« Layla war fest davon überzeugt, dafür sorgen zu müssen, dass auch Viv den Richtigen fand, aber ihre bisherigen Verkupplungsversuche waren ein ziemlicher Reinfall gewesen.
»Ich werde nicht aufgeben.« Layla lächelte schelmisch.
Viv warf noch einen Blick zu dem geheimnisvollen Mann hinüber. »Was den Typen betrifft, scheint er jedenfalls sehr wachsam zu sein, nicht nur bezogen auf mich. Seine ganze Haltung riecht nach Militär.«
Layla drückte die Hand ihrer Freundin. »Ja, aber ich weiß, was ich gesehen habe.«
Ein Gong ertönte und bedeutete ihnen, dass es an der Zeit war, ihre Plätze einzunehmen.
Pflichtbewusst betrieb Viv höflichen Smalltalk an ihrem Tisch, an dem Vertreterinnen und Vertreter mehrerer Länder saßen – die zum Glück allesamt Englisch sprachen. Im Gegensatz zu Layla hatte Viv keine Palette von Sprachkenntnissen zur Verfügung. Ihre einzige Fremdsprache war Spanisch und selbst das sprach sie nicht fließend.
Gerade schob sie einen Bissen von ihrem ziemlich faden gebratenen Hühnchenfilet in den Mund, als jemand hinter ihr einen lauten Schrei ausstieß. Instinktiv sprang Viv auf, während um sie herum das Chaos ausbrach, und ihr Pulsschlag beschleunigte sich.
Überall im Saal ertönten Rufe und Schreie. Viv rannte zu dem Tisch, an dem die Aufregung ihren Anfang genommen hatte, und sah den ägyptischen Botschafter, der sein Land in den Vereinigten Staaten repräsentierte, regungslos auf dem Fußboden liegen. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie kannte diesen Mann – Ali Zidan war ein wichtiger Verbündeter der USA und ein Freund.
Ein Mann beugte sich gerade über Zidan, um mit einer Herz-Lungen-Reanimation zu beginnen, als Zidans Leibwächter erschienen und sich wie eine Schutzmauer um ihn herum aufbauten. Viv war keine Expertin in medizinischen Dingen – sie hatte nur grundlegende Erste-Hilfe-Kenntnisse –, aber sie hatte den Eindruck, dass alle Reanimation der Welt nichts an der Situation ändern würde.
Der ägyptische Botschafter war tot.
Eine große Hand packte sie am Arm und zog sie zurück. Viv versuchte, sich aus dem festen Griff zu befreien. »Lassen Sie mich los!«
»Sie sollten zurücktreten, Ma’am.«
Viv blickte in die großen braunen Augen des geheimnisvollen Fremden von vorhin. »Und Sie sind?«
»Jacob Cruz, leitender Special Agent vom Diplomatischen Sicherheitsdienst.«
Aha. »Haben Sie gesehen, was passiert ist?«
Agent Cruz trat einen Schritt näher. »Moment mal. Jetzt bin ich erst mal dran mit der Frage, wer Sie sind.«
Es gab keinen Grund, ihm die kalte Schulter zu zeigen. »Ich bin Vivian Steele. Ich arbeite als Juristin im Außenministerium.«
Er runzelte die Stirn. Es musste das Wort Juristin gewesen sein, das diesen finsteren Blick ausgelöst hatte. Sie kannte den Ausdruck. »Bitte treten Sie zurück, Ma’am.«
Viv entging nicht, dass er ihre Frage, ob er etwas gesehen hatte, nicht beantwortete, aber angesichts des Tumults im Saal ließ sie die Sache auf sich beruhen und gehorchte. Sie sah sich um und entdeckte Layla, ihr Handy am Ohr. Zweifellos informierte sie die CIA über die Ereignisse.
Das Mikrofon am Rednerpult machte ein schrilles pfeifendes Geräusch und dann ergriff der Moderator des Abends das Wort. »Achtung, bitte hören Sie alle zu! Bitte gehen Sie ruhig zu Ihren Plätzen zurück. Wir haben einen medizinischen Notfall und müssen Platz für die Sanitäter machen. Wenn bitte alle schnell und ruhig zu ihren Tischen zurückkehren … Ich wiederhole: Bitte nehmen Sie wieder Ihre Plätze ein, damit wir den medizinischen Notfall versorgen können.« Die Durchsage wurde in verschiedenen Sprachen wiederholt und schien manche Nerven zu beruhigen, denn die meisten Personen folgten der Aufforderung.
Viv sah zu, wie der reglose Körper des Botschafters auf einer Trage hi-nausgebracht wurde. Sie hatte keine besondere Verbindung zur Abteilung für Nahostbeziehungen, aber bei ihrer juristischen Arbeit kam sie mit allen Regionen in Berührung, deshalb wusste sie, dass Zidans Tod größere Auswirkungen haben würde. Er hatte sich sehr gegen antidemokratische Kräfte in Ägypten stark gemacht. Sein Tod war ein herber Verlust.
Als das Dessert aufgetragen wurde, hatte Viv bereits heftige Kopfschmerzen, aber sie wusste, dass sie sich noch nicht verabschieden konnte. Sie aß einen Bissen von ihrem Erdbeerkäsekuchen und trank einen Schluck Kaffee, während sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte und wie sie sich aus den Unterhaltungen herausziehen konnte. Einige Gäste hatten ihren Nachtisch bereits stehenlassen, um sich stattdessen den Cocktails zu widmen, und schlenderten zwischen den Tischen herum. Vermutlich gab es nicht wenige, die die Gelegenheit nutzten, um sich von den Personen zu entfernen, mit denen sie die vergangenen zwei Stunden am Tisch gesessen hatten.
Viv sah, dass Penelope King, die US-Botschafterin in Belgien, in der Nähe stand und mit dem türkischen Botschafter sprach. Penelope bemerkte Viv und winkte ihr zu. Viv erhob sich, entschuldigte sich bei ihren Tischnachbarn und schob den Stuhl zurück, um sich zu Penelope zu gesellen. Noch während sie näherkam, bemerkte sie, dass Penelopes Gesicht plötzlich aschfahl geworden war.
»Botschafterin King, geht es Ihnen nicht gut?«
»Viv …« Penelope machte einen Schritt auf sie zu und klammerte sich an Vivs Arm, als sie zu Boden sank. Viv musste alle Kraft aufwenden, dass sie nicht selbst mit nach unten gezogen wurde.
Viv kniete sich neben die Botschafterin, während diese sich auf dem Boden krümmte. »Hilfe! Hilfe!«, schrie Viv, so laut sie konnte. Ein tiefes Gefühl der Angst überfiel sie. Was, wenn das Essen vergiftet war? Was, wenn sie alle starben?
»Was ist denn los?«, fragte der türkische Botschafter. »Gerade war mit ihr noch alles in Ordnung.«
»Ich weiß es nicht.« Vivs Stimme zitterte, genau wie ihre Finger, als sie versuchte, Penelopes Puls zu fühlen.
»Sie schon wieder!«
Viv drehte sich um und sah, dass Jacob Cruz sie wütend anstarrte.
»Typisch Anwältin, immer auf der Suche nach Ärger.«
Viv hatte mehr als genügend Juristenwitze und abfällige Bemerkungen über Anwälte gehört und war nicht geneigt, sich zurückzuhalten. »Special Agent Cruz – wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich mir mehr Sorgen darüber machen, ob hier ein ganzer Saal voller Diplomaten in Gefahr ist, und nicht darüber, ob ich Juristin bin oder nicht. Sind Sie nicht für die Sicherheit zuständig?«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Ja, und wir werden umfassende Ermittlungen anstellen. Dazu gehört auch die Tatsache, dass Sie eine der letzten Personen waren, die in der Nähe der Botschafterin waren, als sie zusammengebrochen ist.«
»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich etwas damit zu tun habe, oder?« Viv war so wütend, dass ihre Stimme bebte.
Jacob verschränkte die Arme und funkelte sie an.
Viv stemmte die Hände in die Hüften. Sie war kurz davor zu explodieren. »Ich schlage vor, Sie hören auf, mich zu belästigen, und fangen an, Ihre Arbeit zu machen.«
Sie holte tief Luft, um zu verhindern, dass sie etwas sagte, was sie später bereuen könnte. Dann ließ sie Special Agent Cruz ohne ein weiteres Wort stehen. Sie musste so schnell wie möglich Layla finden. Ja, der ägyptische Botschafter hatte vielleicht einen Herzinfarkt gehabt, aber jetzt, nach Penelopes Zusammenbruch, hatte Viv eine Menge Fragen. Hier ging etwas vor sich, das schlimmer war. Und sie war sich nicht sicher, ob der Schrecken vorüber war oder erst begann.