Ich fühle mich wie eine Schauspielerin in einer Rolle, die ihr zwar zutiefst am Herzen liegt, ihrer eigenen Lebensrealität aber nicht ferner sein könnte. Als würde das Straßenmädchen eine Millionärserbin spielen. Das schüchterne Mauerblümchen eine Diva. Die Pfarrerstochter eine angehende Businesslady.
Ich manövriere das Auto auf den Hotelparkplatz und lege den Parkschein, den der Personalmanager mir geschickt hat, auf das Armaturenbrett. Zu meiner Rechten liegt der See und vor mir erhebt sich hinter einer Reihe blühender Hortensien das Hotel Ludovika.
Von hier aus kann ich den Eingang nicht sehen, dafür aber zwei Reihen Balkone, hinter deren flächigen Fensterfronten die Gästezimmer liegen – die günstigeren, ohne direkten Blick auf den See. Trotzdem sind es richtig schicke Balkone mit Glasbrüstung, großen cremefarbenen Sonnenschirmen und dazu passenden Liegestühlen. Es liegt zwar einer neben dem anderen, aber eine massive Wand statt nur eines dünnen Sichtschutzes gaukelt Privatsphäre vor. Einige Frühaufsteher genießen bereits die ersten Sonnenstrahlen oder holen ihre frisch getrockneten Badesachen herein, andere Vorhänge sind noch zugezogen. Auf der Dachterrasse, wo ein Aufbau das Restaurant mit fantastischem Seeblick beherbergt, tummeln sich auch schon die ersten Frühstücker.
Ich streiche meine Karohose glatt, überprüfe noch einmal meine Frisur im Rückspiegel und steige aus. Ich lasse das alte Auto und die alte, lehramtsstudierende Juna auf dem Parkplatz zurück. Ein schmaler Kiesweg führt zur Strandpromenade, von der aus ich den großen gläsernen Eingangsbereich des Hotels sehen kann, der so hell erleuchtet ist, dass er dem morgendlichen Sonnenlicht glatt die Schau stiehlt.
Der Vorplatz und der Strand sind um diese Zeit noch wie ausgestorben, auch wenn im Hotelinneren schon rege Betriebsamkeit zu herrschen scheint. Während ich mich bemüht gemessenen Schrittes den großen Schiebetüren nähere, atme ich tief die milde Morgenluft ein. Ich bin gut in der Zeit, zu gut. Das könnte übereifrig wirken, also warte ich lieber noch einen Moment.
Ich lasse meinen Blick über den See streifen, dessen Wasser um die frühe Stunde aussieht wie ein glatter, im Morgenlicht glänzender Spiegel. Eine Schar Enten schwimmt in Ufernähe ungestört vor sich hin und ein einsamer Spaziergänger genießt die Stille, ehe die Touristen hier einfallen und den Strand bevölkern.
In Ruhe schwimmen kann man dort sicher nur um diese Zeit. Der Spaziergänger sieht allerdings nicht aus, als hätte er vor zu schwimmen. Er trägt einen grauen Anzug, der selbst aus der Entfernung ziemlich teuer aussieht. Irgendwie wirkt er fehl am Platz, selbst vor der Kulisse des modernen Hotelgebäudes. Der Strand ist so natürlich und der Anzugträger sieht aus wie hineingeschnitten.
Ich bleibe stehen und beobachte, wie er auf den See hinausblickt. Dann bückt er sich plötzlich und schnürt seine Schuhe auf. Er wendet sich nicht ein einziges Mal zur Strandpromenade um, sondern schlüpft aus Schuhen und Socken, nimmt beides in eine Hand und geht barfuß zum Ufer, dorthin, wo das Wasser den Sand tränkt, und dann noch ein wenig weiter, bis er fast knöcheltief im See steht. Dort setzt er seinen Spaziergang fort und das Seewasser spritzt bei jedem Schritt ein wenig auf seine graue Anzughose.
Ich sollte ebenfalls weiterlaufen, aber der Anblick hält mich gefangen. Der Anzugträger am Strand strahlt das komplette Gegenteil von dem aus, was gerade in mir vorgeht. Der Frieden dieser Szene schafft es irgendwie, den Aufruhr in meinem Inneren ein wenig zu glätten. Es hat etwas Meditatives, ihm dabei zuzusehen, wie er durch das kühle Wasser läuft und sich nicht um seinen Anzug oder den Eindruck, den er hinterlässt, schert.
Fast bekomme ich Lust, ebenfalls aus meinen Ballerinas zu schlüpfen und die gepflasterte Strandpromenade zu verlassen, den Sand und das Wasser zwischen den Zehen zu spüren und die Freiheit in meinem Herzen.
Aber natürlich tue ich das nicht. Die Sogwirkung des Hotels ist stärker als die des Sees. Nach der kleinen Verschnaufpause bin ich sowas von bereit für meinen ersten Tag im Ludovika. Ich werde meine Sache gut machen. Nein, großartig. Das muss ich, denn meine Zukunft und mein Traum vom eigenen Hotel – dem Manolya – hängen davon ab, wie ich mich in der neuen Welt, die ich mir gewählt habe, schlage. Und da bleibt für den Augenblick keine Zeit, barfuß am Strand entlang zu spazieren.
Ich vergesse den Anzugträger und den irrsinnigen Wunsch nach einem Spaziergang am Strand augenblicklich, als ich durch die Schiebetüren ins Innere des Hotels trete. Zuallererst fallen mir die zahlreichen Retro-LEDs auf, die an Kabeln in unterschiedlichen Längen von der hohen Decke baumeln und sich im marmornen Boden spiegeln. Es ist ein bisschen wie Weihnachten: Hunderte von Lichtern, strahlender, festlicher Glanz. Ich mache mir sofort eine mentale Notiz für das Manolya. Blüten und Lichter – wie in einem Traum.
Rechts von mir liegen die Aufzüge und eine Sitzgruppe aus niedrigen Tischchen und gepolsterten Stühlen, links die Rezeption, ein großer halbrunder Tresen, hinter dem eine Frau mittleren Alters in mitternachtsblauer Hoteluniform mit einem sichtlich aufgebrachten Gast diskutiert.
Ich würde normalerweise zielstrebig zu ihr gehen, mich vorstellen und fragen, wo ich mich einfinden soll, doch ich fühle mich unwohl dabei, ihren Streit mit dem Gast zu belauschen. Es ist aber auch auf über fünf Meter Entfernung schwer zu überhören. Anscheinend vermisst der Herr im braunen Anzug seine Zahnbürste. Mir ist nicht ganz klar, was die arme Rezeptionistin dafür kann, aber ich bewundere, wie ruhig und freundlich sie bleibt, während sie ihm eine abgepackte Ersatzzahnbürste aushändigt und seine Beschwerde, wie von ihm verlangt, notiert. Als hätte das irgendeinen Sinn.
Als er schließlich in Richtung Aufzug von dannen zieht, wage ich mich näher an den Tresen und die kurzhaarige Frau dahinter lächelt mich sofort an. »Kann ich Ihnen weiterhelfen?«
Ich nicke und trete näher. »Mein Name ist Juna Behnke. Ich bin BWL-Studentin und mache hier ab heute ein Praktikum.«
»Ah, Juna Behnke.« Sie hält mir die Hand entgegen. »Schön, dich kennenzulernen. Mein Name ist Bettina.« Sie deutet auf das kleine Namensschild an ihrer Weste.
Mir entgeht nicht, dass sie plötzlich dazu übergegangen ist, mich zu duzen. Vielleicht ist das unter den Angestellten einfach so üblich, aber vielleicht liegt es auch daran, dass sie mich in die Schublade »nur eine Praktikantin« steckt – und das gefällt mir nicht.
»Kilian wird sich um dich kümmern. Er müsste jeden Moment hier sein und zeigt euch dann alles, sobald auch der andere Praktikant eintrifft. Du hast vermutlich schon mit Kilian geschrieben – er ist für Personalangelegenheiten zuständig.«
Ich nicke unverbindlich und trete zur Seite, um auf den Personalmanager zu warten. Und auf den zweiten Praktikanten, von dem ich bisher nichts gewusst habe. Aber natürlich sind gerade Semesterferien und das Ludovika ist ein großes und beliebtes Hotel. Ich hätte mir denken können, dass ich nicht die einzige Praktikantin sein würde. Und vielleicht ist das auch ganz gut – so muss ich mich all dem Neuen nicht allein stellen. Es sei denn, der andere Praktikant ist ein Hotelmanagementstudent in einem hohen Semester. Dann werde ich die unerfahrene Neue sein und mich ständig beweisen müssen. Bei diesem Gedanken dreht sich mir der Magen um.
Schnell hebe ich den Blick zu den zahlreichen Glühbirnen und beschließe, sie zu zählen, um mich von meinen sich überschlagenden Schwarzsehereien abzulenken. Doch in diesem Augenblick öffnen sich die Fahrstuhltüren auf der anderen Seite des Foyers und ein junger Mann mit braunen Locken und strahlendem Lächeln steigt aus und kommt geradewegs auf mich zu. Er trägt eine mitternachtsblaue Anzughose, aber im Gegensatz zu Bettina keine Weste. An seinem Hemd prangt jedoch das gleiche Namensschild mit dem Doppel-L der Lichtenberg-Hotelkette und einem Namen, den ich erst lesen kann, als er schon meine Hand ergreift und sagt: »Kilian Schreber. Du musst Juna Behnke sein.«
Ich bejahe. »Freut mich sehr, Sie jetzt persönlich kennenzulernen, Herr Schreber.« Den Satz habe ich mir vorher zurechtgelegt, aber da habe ich mir meinen Korrespondenzpartner noch anders vorgestellt. Irgendwie älter, seriöser und weniger herzlich.
»Ach bitte, vergiss das ›sehr geehrter Herr Schreber‹, wir siezen hier eigentlich nur die Chefin. Ich bin Kilian.« Er drückt nochmals meine Hand – ein bisschen zu fest für meinen Geschmack. »Frau Lichtenberg kann dich leider nicht selbst begrüßen. Montagmorgen hat sie immer viel zu tun. Sie fährt an den Wochenenden meistens nach Hause nach Herrsching. Du weißt ja vermutlich, dass die Lichtenbergs dort auch ein Hotel haben. Aber das Ludovika ist natürlich Frau Lichtenbergs besonderes Herzensprojekt, weshalb sie es auch selbst leitet und von Montag bis Freitag hier vor Ort ist.«
»Ja, ich weiß«, versichere ich schnell. Ich habe alles über die Lichtenberg-Hotels gelesen, was ich im Internet finden konnte. Und das ist wirklich eine ganze Menge.
»Dann warten wir jetzt nur noch auf deinen Praktikantenkollegen. Er ist ein bisschen spät dran.« Kilian sieht auf seine Armbanduhr. »Aber das ist nicht schlimm. Wir plaudern einfach schon mal ein wenig. Du studierst also BWL, ja?«
Ich nicke und beschließe, dass eine Prise Wahrheit nicht schadet – zur Besänftigung meines Gewissens: »Ich habe mit Lehramt angefangen und dann gewechselt. Nach dem Bachelor will ich in der Schweiz den Master in Hotelmanagement anschließen.«
»Sehr ambitioniert«, findet Kilian. »Aber das habe ich deiner Empfehlung schon entnommen. Sie klang sehr lobend.«
Mein Hals wird augenblicklich trocken. Die Prise Wahrheit verdampft wie ein Tropfen auf einem heißen Stein angesichts dieser gigantischen Lüge. Die Empfehlung aus meiner eigenen Feder ... war sie zu positiv, habe ich übertrieben? Wird Kilian den Betrug durchschauen?
»Offen gesagt hast du ihr die Stelle zu verdanken. Wir bieten Studierenden aus den unteren Semestern normalerweise nur Praktika in einzelnen Bereichen des Hotels an, kein so umfassendes Praktikum, wie es dir vorgeschwebt hat. Aber als angehende Managerin brauchst du natürlich einen Einblick in alle Bereiche. Und den sollst du auch bekommen, wenn du wirklich so engagiert bist, wie dein Dozent geschrieben hat.«
Ich entschließe mich zu einem Lächeln statt einer Erwiderung.
Da hellt sich sein Gesicht auf und er winkt in Richtung Eingang: »Hier herüber, hier herüber. Damit sind wir dann vollzählig.«
Ich blicke über die Schulter und mein Herz macht einen erschrockenen Hüpfer, als ich sehe, wem Kilian so enthusiastisch zugewunken hat. Es ist ein junger Mann mit dunklem Haar und grauem Anzug. Ein Blick hi- nunter zu den Säumen seiner Hose bestätigt meine Vermutung: Sie sind ein wenig nass. Dazu trägt er Chucks – das ist mir von der Strandpromenade aus gar nicht aufgefallen, bringt mich jetzt aber zum Grinsen.
Ich hebe schnell den Blick und sehe ihm ins Gesicht. Er sieht gut aus – meine Güte, er sieht sogar richtig gut aus. Wie ein Anzugmodel aus einem Modekatalog. Das kühle Grau seines Jacketts bringt das warme Braun seiner Augen zum Strahlen. Ganz sicher ist das kein Zufall, der Typ muss ein Händchen für Mode haben, und eine Menge Geld für entsprechende Kleidung wahrscheinlich obendrein.
Er sieht mein Grinsen – und erwidert es nicht. Sofort werde ich ernst und nicke ihm sehr businessmäßig zu. Auch das ignoriert er.
»Leopold, schön, dass du auch da bist«, begrüßt Kilian ihn. »Juna, das ist Leopold. Leopold, deine Kollegin für die nächsten drei Wochen, Juna. Wo wir gerade von Namen sprechen: Ich hole eben noch eure Schilder, dann können wir direkt loslegen.«
»Sehr gerne«, sage ich.
Leopold nickt nur. Mir wird bewusst, dass er bisher kein einziges Wort gesagt hat, noch nicht einmal Hallo. Irgendwie widerstrebt mir das. Es schüchtert mich ein, dass er so schweigsam ist und mich dabei so abschätzig mustert. Und es passt mir nicht, mich so zu fühlen. Deshalb gebe ich mir einen Ruck und strecke ihm die Hand entgegen. »Hallo, ich bin Juna.«