Jerusalem, April 1948: Der Countdown läuft: Fünf Länder haben ein Interesse daran, Palästina nach dem Abzug der Briten unter sich aufzuteilen. Unter Hochdruck bemühen sich David Ben-Gurion und Golda Meir um eine diplomatische Lösung. Derweil rüstet sich die jüdische Untergrundarmee Haganah für den bevorstehenden Angriff. Aber wird es Mosche gelingen, seine Leute mit den notwendigen Waffen zu versorgen?
David und Ellie müssen nach Abschluss ihrer Geheimmission in Europa untertauchen. Wie lange wird es dauern, bis man sie mit ihrer Tat in Verbindung bringt? Werden sie es schaffen, rechtzeitig in Palästina zu sein, um die junge Nation Israel im Kampf um ihre Existenz zu unterstützen?
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Prolog: Jerusalem 70 n. Chr.
Von Zehntausenden römischen Lagerfeuern bedeckt, blinkten die Hänge des Skopusberges wie der Sternenhimmel. Dunkler Qualm stieg langsam gen Himmel und hüllte den blutroten Mond in einen bedrohlich wirkenden Nebel.
Im Tempelhof herrschte eine unnatürliche Stille, die nur dann und wann von einem schmerzerfüllten Schrei durchbrochen wurde, wenn eine Mutter entdecken musste, dass ihr Kind im Schlaf gestorben war, oder wenn ein Sohn in der Dunkelheit nach seinem ausgemergelten Vater tastete und nur noch einen kalten Leichnam vorfand. Das Stöhnen der Menschen, die von Albträumen gequält wurden, aus denen sie nie wieder erwachen würden, ließ die Stille noch vollkommener erscheinen.
Eli Bar-Jehuda lehnte mit dem Rücken an einer Säule in der Halle Salomos und blickte unverwandt über den Vorhof der Heiden. Um ihn herum lagen die letzten Verteidiger Jerusalems, all die, die das Glück gehabt hatten, sich in den Tempel retten zu können, als die ersten römischen Legionäre die Mauer zur Oberstadt durchbrachen.
Aber dadurch hatten sie im besten Falle einen Aufschub ihres unausweichlichen Todes erreicht, dachte Eli bitter und legte die Hand auf seinen vor Hunger schmerzenden Leib.
Vielleicht wäre es einfacher gewesen, einen schnellen Tod durch das Schwert zu erleiden als dieses grausam langsame Sterben durch den Hunger. Aber die Römer, erinnerte sich Eli, hatten es nicht eilig gehabt, sie zu verfolgen oder gar die Tore des Tempels zu stürmen. Während sie im Angesicht der ausgemergelten Juden genüsslich die Schafe jüdischer Schäfer über ihren Feuern rösteten, hatte der Hunger die Schlacht für sie gewonnen. Und die Verteidiger, die auch hinter diesen heiligen Mauern noch nicht Hungers gestorben waren, würden leicht zu überwältigen sein, wenn die Rammböcke die letzten Tore durchbrochen hatten.
Eli presste verzweifelt den langen eisernen Schlüssel an sich, mit dem er vor beinahe zwei Wochen die sieben Tore des Tempels verschlossen hatte. Er wusste nur zu gut, dass es keinen Schlüssel gab, mit dem man die Eroberer aussperren konnte. Seit der Verriegelung der Tore war es nicht mehr möglich gewesen, das tägliche Opfer zu vollziehen, denn es gab keine Tiere mehr, die man dem Gott Israels auf dem Altar hätte darbringen können. Nun lag nur noch sein Volk Israel selbst, gebrochen und blutend, zu seinen Füßen.
»Gott, mein Gott, warum hast du uns verlassen?«, flüsterte Eli mit bebender Stimme. »Morgen wird dein Allerheiligstes entweiht. Wie kannst du das zulassen?«
Doch nur das Stöhnen der Hungernden antwortete ihm. Er liebkoste den Schlüssel, für den er beinahe zehn Jahre lang verantwortlich gewesen war. Morgen Abend würde er sich in den Händen von Männern befinden, die keinerlei Ehrfurcht vor den Schätzen empfanden, die er verschloss.
Eli stand auf und stützte sich schwerfällig an einer Säule ab. Ihm war, als drehe sich der ganze Tempel um ihn. Er rieb sich die Augen und wankte dann, bemüht, nicht auf die Körper der Schlafenden und Toten zu treten, in Richtung der Treppe, die zum höchsten Punkt der Tempelmauer führte. Stufe für Stufe zwang er sich die kalte Steintreppe hinauf und musste zwischendurch wohl ein Dutzend Mal erschöpft anhalten, um wieder zu Atem zu kommen.
»Wer da?«, fragte eine barsche Stimme, als er sich dem obersten Teil der Mauer näherte.
»Eli Bar-Jehuda, der Verwalter des Schlüssels«, erwiderte er keuchend.
»Was willst du?«, fragte die barsche Stimme. »Dein Schlüssel wird uns jetzt auch nicht helfen.«
Eli setzte sich schwerfällig auf die Zinnen und blickte in schweigender Verzweiflung auf das Bild der Vernichtung, das sich unter ihm auftat, auf die Kreuze, die die Straße zum Eingangstor des Tempels säumten, eine endlose Zahl, die seine Augen nicht zu fassen vermochten. »Gott hat uns verlassen!«, rief er schließlich mit erstickter Stimme.
»Jeden Tag, den wir hinter diesen Mauern aushalten, kreuzigen diese römischen Schweine eintausend Angehörige unseres Volkes«, brummte der zelotische Wachtposten voller Ingrimm. »Bald wird es niemanden mehr in Israel geben, den sie ermorden, den sie beherrschen können. Und wer soll dann deine kostbaren Tempeltore schließen, Schlüsselverwalter?«, fragte er höhnisch.
Bei diesen Worten wurde Eli von Verzweiflung ergriffen und er schrie so schmerzlich auf, als sei ihm der eigene Vater ohne ein Wort des Trostes oder des Abschieds gestorben. Sein Schrei schallte durch das Kidrontal und verhallte schließlich zwischen den Kreuzen, die die Stadt wie ein dichter Wald umgaben.
Plötzlich sprang er, den Schlüssel hoch emporhaltend, taumelnd auf und rief mit versagender Stimme: »Oh, Gott! Alles ist verloren. Alles zu Ende.« Dann warf er unter den erstaunten Blicken des Zeloten den geliebten Schlüssel weit fort und rief: »Von nun an, Allmächtiger, mögest du der Wächter des Schlüssels sein, so lange, bis dein Volk für immer nach Zion zurückkehrt!«
1. Dämmerung nach dem Tod
Rabbi Schlomo Lebowitz erhob sich schwerfällig von dem Bett, auf dem er – vollständig angezogen und mit Schuhen, die ihn nun schmerzhaft drückten – vor nur wenigen Stunden erschöpft niedergesunken und eingeschlafen war. Er fasste sich an den Kopf und blickte verwirrt in dem dämmrigen Zimmer umher.
»Oj«, murmelte er heiser, »der Alte wird wohl allmählich wirr im Kopf.« Er hustete geräuschvoll und starrte unverwandt auf das Radio, das stumm auf dem Nachttisch stand. Dann knipste er mechanisch die Nachttischlampe an, doch es blieb alles in das weiche Licht der morgendlichen Dämmerung getaucht. »Oj!«, entfuhr es ihm wieder. »Schlomo, der Strom ist weg ...«
Bei diesem Stichwort überkamen ihn schlagartig und mit dumpfem Entsetzen die Erinnerungen an die letzte Nacht. Fassungslos schüttelte er den Kopf. Die Knie wurden ihm weich und er musste sich wieder aufs Bett setzen. Dann drückte er erneut mehrfach den Einschaltknopf des Radios, aber es gelang ihm nicht, dem Gerät irgendein Lebenszeichen zu entlocken.
Verzweifelt schlug er die Hände vors Gesicht, als er sich wieder an die bangen Stunden erinnerte, die er in der vergangenen Nacht, erfüllt von Schmerz und zunehmendem Entsetzen, am Radio zugebracht hatte, um das furchtbare Geschehen vor dem Hadassah Krankenhaus zu verfolgen. Zu seinem Leidwesen war jedoch nichts darüber berichtet worden, wie viele Menschen den Angriff überlebt hatten und auch von Rachel und Howard hatte er bisher noch nichts gehört. Schließlich waren jedoch die Lichter ausgegangen, als habe Gott selbst es nicht länger ertragen können und das Radio war verstummt. Noch lange hatte sich der Großvater den Kopf zermartert, bis ihn schließlich gnädige Müdigkeit übermannt hatte.
Untröstlich strich er sich nun über den Bart und starrte mit leerem Blick auf seine ausgetretenen Schuhe. Dann betrachtete er nachdenklich seine Hände mit den geschwollenen Knöcheln und der welken, von Altersflecken übersäten Haut. »Diese Hände«, murmelte er, »waren einmal jung und stark und voller Hoffnung. Und meine Augen haben einmal voll jugendlicher Lebensfreude in die Welt geblickt.« Dann senkte er niedergeschlagen den Kopf. »Ach, ich habe zu lange gelebt! Zu lange, dass ich nun mit ansehen muss, wie unschuldige Menschen auf solch grausame Weise umkommen!« Eine verstohlene Träne tropfte auf seinen weißen Bart. »Es wäre besser, wenn du mich hättest sterben lassen, Gott!«, flüsterte er. »Besser, wenn du einen alten Mann zu dir genommen hättest, nu, als die Jungen, die noch voller Hoffnung und Lebensfreude sind.«
Während die Morgensonne allmählich das Zimmer durchflutete, bäumte er sich innerlich auf: Hast du unsere Rachel aus dem Grab zurückgebracht, damit sie noch einmal stirbt? Das kann ich nicht glauben! Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er gar nicht wahrnahm, wie sich langsam die Tür öffnete und Jakov, gefolgt von seinem abgemagerten Hund, verschlafen ins Zimmer trat. Er hatte die ganze Nacht ahnungslos in Howard Monigers Bett geschlafen.
»Großvater?«, sagte der Junge erstaunt. »Du bist aber heute früh auf!« Er rieb sich das verletzte Auge. »Was ist mit Rachel und dem Professor? Sind sie gestern noch vom Krankenhaus zurückgekommen? Rachel könnte uns wieder Plätzl zum Frühstück machen.«
Der Alte schüttelte langsam den Kopf und erwiderte mit gebrochener Stimme: »Heute nicht. Nein, Jakov. Heute nicht.«
»Großvater?«, rief Jakov erschrocken und stürzte auf ihn zu.
»Lass den Hund raus, Junge!«, befahl der Alte barsch und wandte sich ab. »Ich habe dir neun Jahre lang dein Frühstück gemacht. Ein Morgen mehr oder weniger wird dir auch nicht schaden. Nu! Lass den Hund raus und dann halten wir unser Morgengebet!«
Jakov rückte sich die Jarmulke zurecht und nickte, blieb jedoch stehen und zupfte unschlüssig an seinem Nachthemd. »Meine Schwester ist also noch nicht zurück?«
»Nein«, erwiderte der Alte nun wieder beherrscht, aber bestimmt, »noch nicht.«
»Wann kommt sie denn wieder?«, bohrte Jakov mit zaghafter, ängstlicher Stimme weiter. »Und auch der Herr Professor?«
Der Großvater sah ihm fest in die Augen. Dann holte er tief Luft und sagte gefasst: »Das weiß nur Gott allein, gelobt sei sein Name, Jakov.« Er streckte die Arme nach dem Jungen aus und zog ihn fest an sich. Und dann erzählte er ihm doch, was er in der vergangenen Nacht im Radio gehört hatte. Jakov hörte regungslos zu und starrte dabei mit leerem Blick nach draußen, wo ein kleiner Spatz auf dem Zweig eines jungen Baumes unbekümmert tschilpte.
Als der alte Mann geendet hatte, meinte der Junge ruhig, aber bestimmt: »Ich möchte nach Hause, Großvater. Nach Hause in unsere kleine Kellerwohnung in der Altstadt. Ich möchte, dass es wieder so wird wie früher …«
Der Alte strich ihm behutsam über den Kopf und erwiderte leise: »Wir können zwar nach Hause, zu den heiligen Stätten hinter den Mauern, Jakov, aber so wie früher wird es nicht mehr werden. Nie wieder.«
»Wir waren doch glücklich«, wandte der Junge mit klagender Stimme ein und barg sein Gesicht an der Schulter des alten Rabbiners, »als wir nicht wussten, dass sie lebte! Wir hatten doch alle begraben, die ganze Familie, schon vor langer Zeit! Und nun ist Rachel zurückgekommen, aber nur, damit sie uns wieder weggenommen wird. Es wäre besser gewesen, wenn sie nicht zurückgekommen wäre und wir nie erfahren hätten, was sie ihr angetan haben! Ich wünschte, wir hätten es nie erfahren! Ich wünschte, wir hätten nie geliebt und nie gehofft!« Schaul, der bisher regungslos neben den beiden gesessen hatte, legte nun seinen großen Kopf auf den Oberschenkel des Jungen und trauerte mit seinem jungen Herrn, auch ohne zu begreifen, worum es ging.
Der Großvater schüttelte den Kopf. »Wir können zwar zurück, Jakov, aber es wird nie mehr dasselbe sein für uns.« Über sein Gesicht ging ein schmerzliches Zucken. »Du bist noch zu jung, um über solche Dinge nachzudenken. Viel zu jung!«
»Bring mich nach Hause, Großvater!«, rief der Junge nun verzweifelt und schluchzte. »Nach Hause zu meinem Bett und der Torahschule und – ich möchte wieder nach Hause!«
Lange saßen sie eng umschlungen zusammen, bis der Rabbiner schließlich leise zustimmte: »Ja, Jakov. Nach Hause in die Altstadt. Wenn wir schon alle sterben sollen, Alte und Junge, dann ist es besser, in der Altstadt als in der Fremde zu sterben.« Er nickte nachdrücklich. In seinem alten Herzen gab es nun keinen Zweifel mehr. »Ja. Wir werden heimgehen!«
Bei diesen Worten hob der Junge mit neuem Mut den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken über sein tränennasses Gesicht. »Vielleicht lebt Rachel ja doch noch! Vielleicht sind sie und der Professor ja mit dem Leben davongekommen …«
»Das hoffe ich inständig!« Der Alte schloss für einen Moment die Augen und fuhr dann mit nachdenklich zum Fenster gerichtetem Blick fort: »Den heutigen Tag werden wir noch hierbleiben. Wir wollen auf eine Nachricht von ihr warten. Wenn sie überlebt hat, wird sie uns eine Nachricht schicken. Sie würde nicht wollen, dass wir in Ungewissheit leben. Wir werden also diesen Tag noch abwarten.«
»Und dann?«
»Noch heute Abend werden wir wieder durch die Tore Jerusalems gehen. Bevor sie die Tore Zions schließen, gehen wir nach Hause.«
»Großvater?«, fragte Jakov leise. »Werden sie uns dann nicht erschießen?«
Der Alte schob nachdenklich die Unterlippe vor. »Das ist schon möglich, Jakov.«
»Wenn Rachel tot ist, so wie Mama und Papa und meine Brüder, dann macht es mir nicht so viel aus zu sterben.« Er streichelte tröstend den unglücklich winselnden Schaul. »Ich möchte nicht gern allein leben.«
Der Rabbiner zog ihn erneut an sich. »Aber ich glaube, sie werden es sich zweimal überlegen, bevor sie einen alten Mann und einen kleinen Jungen erschießen.« Er lächelte versonnen. »Vielleicht wird uns auch ein Engel begleiten, nu?«
* * *
Auch an diesem Morgen herrschte in der Altstadt ein so geschäftiges Leben und Treiben, als ob sich seit tausend Jahren nichts geändert hätte. Es war, als gäbe es weder Krieg noch Straßensperren, weder Stacheldrähte noch Soldaten, die angespannt auf den Dächern Wache hielten.
Jehudit Akiva stand am schmalen Fenster ihres Zimmers und beobachtete, wie die ersten Strahlen des Morgens die Heilige Stadt mit einem sanften Schimmer überzogen. Gleich darauf hörte sie, wie der Muezzin im benachbarten moslemischen Viertel die Gläubigen zum Gebet rief und zog fröstelnd ihren Schal enger um sich. Im nächsten Moment begannen die Glocken der Grabeskirche die christliche Karwoche einzuläuten und scheuchten eine Schar Tauben auf, die sich flatternd in einer spiralförmigen Bahn in die Lüfte erhoben und sich dann in alle Himmelsrichtungen zerstreuten. Jehudit blickte nachdenklich hinter den Vögeln her.
Dann zog die Jakobskirche mit ihrem roten Ziegeldach ein paar Hausdächer weiter westlich im benachbarten armenischen Viertel die Aufmerksamkeit des Mädchens auf sich. Mit einem gespannten Lächeln auf den Lippen wartete sie darauf, dass auch von dort der ihr so vertraute Aufruf zum Gebet erschallte. Es verging keine halbe Minute, da hörte sie auch schon die dumpfen, rhythmischen Klänge, die mit einem Hammer auf einer Holzplatte erzeugt wurden. Vor Jahrhunderten hatten die Moslems den Christen verboten, ihre Gottesdienste mit Glockengeläut anzukündigen. Und obwohl das Verbot schon vor langer Zeit aufgehoben worden war, hatten die Armenier diese Sitte bis zu diesem Tage beibehalten. Traditionen halten sich lange in der Heiligen Stadt, dachte Jehudit, selbst wenn sie aus Verfolgung und Erniedrigung geboren werden.
Bald stimmten Dutzende von Kirchenglocken in den Rhythmus der Hammerschläge ein und begrüßten den Morgen. Das christliche, das armenische und das moslemische Viertel begannen ihr Tagewerk in gewohnter Weise innerhalb der knapp zwei Quadratkilometer, die den Mittelpunkt des Universums bedeuteten. Mit lautem Rufen der Händler und Käufer erwachte das Labyrinth der alten Basare zum Leben und bald mischten sich der Duft von frischem Brot und das Blöken von Schafen in diese bunte Palette mit ein.
* * *
In der Ferne breitete die Morgendämmerung ihr schimmerndes Licht über die Altstadtmauern und die Klänge der uralten heiligen Stätten wehten über die Hügel und durch die Täler nach Rehavia herüber. »Nach Hause«, sagte Jakov freudig zu seinem Hund, »nach so vielen Monaten wieder nach Hause, Schaul!«
Dann stimmte der alte Mann ein Gebet an, das seit mehr als zweitausend Jahren von Juden auf Pilgerfahrten und im Exil gebetet wurde:
Wie könnten wir des Herrn Lied singen auf fremder Erde?
Vergesse ich deiner, Jerusalem,
so müsse meine Rechte verdorren!
Die Zunge müsse mir am Gaumen kleben,
wenn ich dein nicht gedenke,
wenn ich nicht Jerusalem setze
über meine höchste Freude.
Jehudit öffnete das Fenster ein wenig, atmete mit geschlossenen Augen tief die würzige Luft ein und dachte daran, dass beinahe jeder Morgen ihres jungen Lebens wie dieser begonnen hatte. Es war alles beim Alten geblieben. Jedenfalls fast alles. Sie ließ ihren Blick über ihr eigenes, jetzt leeres Viertel schweifen. Dort standen die Soldaten von Dovs Haganah auf den Dächern und starrten über die Sandsackbarrikaden hinweg auf das bunte Treiben der Nachbarstraßen. Ihnen gegenüber standen bewaffnete britische Vorposten, die verhindern sollten, dass ein Aufruhr ausbrach oder ein Heckenschütze die alten Rabbiner auf dem Weg zur Synagoge beschoss.
Während im christlichen und im armenischen Viertel geschäftiges Treiben herrschte und es einen Überfluss an Lebensmitteln gab, war das von einer hohen rosenfarbenen Mauer umgebene jüdische Viertel still und leer und unter den fünfzehnhundert jüdischen Einwohnern ging das Gespenst des Hungers um. Seit Wochen war den Juden, die in der Altstadt geblieben waren, nun auch schon der Weg zur Klagemauer versperrt.
Hoch über der Hurva-Synagoge wehte immer noch Mosches Tallith an derselben Stelle, an der Dov ihn aufgehängt hatte. Er war für jeden Jihad-Moqhaden, der gerade eine Kugel übrig hatte, zur beliebten Zielscheibe geworden, sodass das einst so glatte, geschmeidige Gewebe nun von Kugeleinschüssen zerfetzt war. Jehudit hatte jedoch munkeln hören, dass Dov und Rabbi Vultch sich gerade deshalb ins Fäustchen lachten, denn jede Kugel, die auf diese Weise verschossen wurde, war eine weniger, die ein jüdisches Leben auslöschen konnte. Und so blieb der Tallith dort als Symbol des Widerstands hängen.
In diesem Augenblick wünschte sich Jehudit jedoch nichts sehnlicher, als dass eine dieser arabischen Kugeln den Weg in ihr Herz finden möge. Sie stand im Licht des jungen Morgens und sehnte sich danach, dass der Tod sie aus ihrer Gefangenschaft befreien möge. Seitdem sie vor drei Tagen zwangsweise zu ihrem Vater nach Hause gebracht worden war, hatte er ihr verboten, das Zimmer zu verlassen und sie hatte ihn die ganze Zeit über nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Die kärglichen Mahlzeiten waren ihr von der mürrischen Alten hereingereicht worden, die ihrem Vater als Hausangestellte und Köchin diente. Niemand hatte während ihrer Gefangenschaft auch nur ein einziges Wort mit ihr gesprochen. Nur einige wenige Gesprächsfetzen waren von der Straße zu ihr heraufgetragen worden, dafür hatte sie die zornige Stimme ihres Vaters umso öfter durch die Holzdielen des Fußbodens vernommen.
»Deir Jassin ... Kastel ... Bab el Wad ...«, hatte sie aufgeschnappt, wenn ihr Vater im Zimmer unter ihr wutentbrannt mit dem britischen Hauptquartier telefoniert hatte. An diesem Morgen hatte das Telefon noch nicht stillgestanden und sie hatte das Ohr fest an den Boden gepresst, um etwas von den Gesprächen mitzubekommen.
»Was haben die Zionisten denn nach Deir Jassin erwartet?«, war die dröhnende Stimme Rabbi Akivas zu ihr heraufgeschallt. »Es war doch klar, dass sie ihre Toten rächen würden! Wie viele Juden sind umgekommen? ... Oj! So viele!« Nach einem langen Schweigen, in dem Rabbi Akiva offenbar eine weitere Hiobsbotschaft mitgeteilt wurde, hatte er ungläubig protestiert: »Sie können sie doch nicht zurückziehen! ... Nein! Nicht nach all dem, was geschehen ist! Glauben Sie denn, der Pöbel wird sich durch den Mord an fünfundsiebzig jüdischen Ärzten besänftigen lassen? Und nun sagen Sie sogar, dass die zionistischen Gangster die Bewohner eines weiteren Dorfes am Pass niedergemetzelt haben? ... Sie können sich heute nicht zurückziehen und uns dem Schutz einer Hand voll närrischer Jeschivaschüler überlassen! ... Dann werden wir überrannt. Wenn es so ist, wie Sie sagen, werden wir von den Freischärlern Haj Amins überrannt. Stewart, Sie müssen mit den Behörden sprechen! Wir Menschen in der Altstadt lieben den Frieden! Wir möchten nur …«
Akivas zornige Stimme erhob sich zu immer neuen Höhen der Verzweiflung. »Stewart! Die ganze Welt wird Ihre Regierung dafür zur Verantwortung ziehen, wenn wir abgeschlachtet werden, weil Sie sich zurückgezogen haben! ... Nur für heute? Aber warum nur für heute? Warum?«
Jehudit presste ihr Ohr noch fester an den Boden, um sich die Antwort auf diese Frage erschließen zu können. Aber es drang nur ein letzter zorniger Schrei ihres Vaters nach oben. Dann hörte sie, wie das Telefon krachend zu Boden fiel. Gleich darauf verließ ihr Vater mit stampfenden Schritten das Zimmer und dann fiel in der Ferne krachend eine Tür zu.
Jehudit setzte sich seufzend auf. Schwer gegen ihr Bett gelehnt, starrte sie auf ihre Hände und dachte nach. Die Briten ziehen sich also heute tatsächlich aus der Altstadt zurück. Nur für heute! Warum bloß?
Sie blieb lange unschlüssig sitzen, doch plötzlich erhob sie sich hastig und eilte erneut ans Fenster. Von dort beobachtete sie mit zusammengekniffenen, gegen das grelle Sonnenlicht abgeschirmten Augen, wie in der Ferne die britischen Vorposten ihre Waffen aufnahmen und ohne großes Aufsehen ihre Stellungen verließen. Diese wurden sofort von Haganahsoldaten eingenommen, die zum ersten Mal ihre Waffen offen zur Schau trugen.
»Die Engländer haben Angst«, stellte Jehudit laut fest. »Etwas kommt auf uns zu und sie haben Angst, mit hineingezogen zu werden.«
Rasch verloren sich die britischen Soldatenmützen hinter den Gebäuden. Die Männer schienen in Eile zu sein. Jehudit fasste sich nachdenklich an den Kopf und versuchte, die Nachrichtenfetzen, die sie in ihrem Gefängnis aufgeschnappt hatte, in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Alles führte nur zu dem einen Schluss: Kastel und Bab el Wad waren den jüdischen Streitkräften in die Hände gefallen und nun kamen die Freischärler Haj Amins hierher in die Altstadt, um das jüdische Viertel niederzumetzeln. Und die Soldaten Captain Stewarts würden nichts unternehmen, um sie daran zu hindern.
Plötzlich rasselte ein Schlüssel im Türschloss und Jehudit fuhr herum. Die Zimmertür öffnete sich langsam und dann erschien das runzelige Gesicht von Goldie Levy. Sie trug ein Tablett in ihren knorrigen, arthritischen Händen, schaute Jehudit nur kurz an und senkte dann sofort wieder den Blick.
»Was ist geschehen?«, fragte Jehudit und eilte ihr entgegen, um ihr das Tablett abzunehmen.
Die Alte legte einen ihrer verkrümmten Finger an die dünnen Lippen und gab ein warnendes »Sch« von sich. Nach einem ängstlichen Blick über die Schulter flüsterte sie: »Dein Vater ist sehr zornig. Die Zionisten haben die Straße nach Jerusalem geöffnet …«
»Aber das ist doch ein Grund zur Freude«, unterbrach sie Jehudit.
»Sie haben außerdem einen großen Anführer der Araber ermordet. Die Moslems werden erst trauern und dann überall Feuer legen. Dabei haben die Engländer Befehl, sich heute der Altstadt fern zu halten.« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung der Jeschivaschüler, die über die Dächer hasteten. »Sie überlassen uns, Gott behüte, einer Handvoll Schüler und einigen wenigen Leuten von der Haganah. Das ist für deinen Vater, Rabbi Akiva, ein Schlag ins Gesicht. Und darüber ist er sehr erbost.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ schnell das Zimmer, aber nicht ohne die Tür wieder hinter sich abzuschließen.
Jehudit trug das Tablett mit der mageren Essensration zur Fensterbank und setzte sich. Während sie den dünnen Tee trank, verfolgte sie, wie sich die Nachricht in der Altstadt verbreitete. Die Glocken im christlichen Viertel verstummten und aus den Souks erschallten zornige Rufe und Klagelaute. Die Schaufenster wurden eilig mit Rollläden vor dem Zorn der Araber verschlossen, die unweigerlich über das Viertel hereinbrechen würden. Immer mehr junge Haganahmänner strömten aus den kleinen Häusern des jüdischen Viertels. Sie sammelten sich hinter den Barrikaden und sahen von dort aus zu, wie der Zorn brodelte und sich ständig steigerte.
Und dann umfing die Heilige Stadt, das Zentrum des Universums, mit einem Mal eine tiefe, unheilvolle Stille und Jehudit Akiva saß am Fenster und betete darum, dass eine der Kugeln ihr Herz finden möge, um ihrem kurzen, unglücklichen, siebzehnjährigen Leben ein Ende zu setzen.
Bodie & Brock Thoene
Ein Ehepaar - zahllose Bestseller. Fast 30 Bücher zum Thema ZION entwerfen das detaillierte Bild einer wichtigen Wegstrecke Gottes mit seinem Volk. Für diese beispiellose Leistung (6 Mio. verkaufte Bücher) wurden sie mit acht Goldmedaillen der Evangelical Christian Publishers ausgezeichnet.
Bodie und Brock Thoene (ausgesprochen: Täinie) haben vier erwachsene Kinder und (z.Zt.) fünf Enkel, wobei ihre Söhne Jake und Luke die Tradition des Bücherschreibens fortsetzen. Einen Teil des Jahres verbringen sie am Lake Tahoe in Nevada und den anderen in London.
Bodie Thoene hat mit ihren Zion Chroniken ein Millionenpublikum in der ganzen Welt erreicht. Sie war zunächst als Drehbuchautorin tätig, bevor sie sich ganz dem Schreiben christlicher Romane widmete. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann Brock am Lake Tahoe in Nevada. Das Paar hat vier erwachsene Kinder.
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