»Nathaniel? Bist du das?« Damaris blickte von dem misslungenen Laib Brot auf, den sie gerade aus dem Ofen geholt hatte. Stampfende Schritte dröhnten durch den Flur, doch es antwortete niemand auf ihre Frage. Nicht, dass sie das erwartet hätte. Ihr Neffe bevorzugte es, so zu tun, als existierte sie nicht, und sprach deshalb kaum mit ihr. Mürrische Blicke und übertriebenes Augenrollen waren seine bevorzugte Art der Kommunikation.
Nachdem Damaris in Texas angekommen war, hatte es weniger als einen Tag gedauert, bis sich ihre hochfliegenden Tagträume, einem traurigen, sensiblen Jungen mütterlichen Trost zu spenden, vollkommen in Luft aufgelöst hatten.
»Können wir zum Nachtisch nochmal die frittierten Äpfel haben, die du letzte Woche gemacht hast?«
Damaris quietschte erschrocken auf und fuhr herum. »Nathaniel! Du hast mich erschreckt.«
Ihr Neffe lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen, das zu lange braune Haar hing ihm tief in die Stirn. Doch die kratzbürstige Haltung und die zerzauste Mähne täuschten nicht über den zufriedenen Ausdruck in seinen Augen hinweg. Er war stolz darauf, sie erschreckt zu haben. Dafür, dass er vor wenigen Minuten noch wie ein wilder Büffel durchs Haus gestapft war, konnte er sich erstaunlich leise fortbewegen.
»Also, können wir? Die Äpfel haben?«
Damaris lächelte und ihr Ärger schmolz dahin. Nathaniel bat sie sonst nie um etwas. »Natürlich.«
Sie hatten noch einen halben Eimer grüner Äpfel im Rübenkeller. Vielleicht konnte sie sogar ein paar Streusel aus Brot, Zucker und Zimt machen.
»Danke, Tante Maris.«
Warnglocken ertönten in Damaris’ Hinterkopf. Ihr Neffe hatte sich noch nie bei ihr bedankt. Er aß nur das Essen, das sie ihm vorsetzte, und verschwand dann ohne ein weiteres Wort wieder in seinem Zimmer. Doch das alles war jetzt egal. Damaris musste die Äpfel holen. Sie würde ihren Neffen bei der ersten Bitte, die er überhaupt an sie richtete, bestimmt nicht enttäuschen.
Sie überließ das Brot sich selbst und ging zur Falltür, die in die Mitte des Küchenbodens eingelassen war und zum Rübenkeller führte. Damaris bückte sich und hievte die Tür auf, dann raffte sie ihre Röcke, damit sie sehen konnte, wohin sie ihre Füße setzte, und stieg in den kühlen, feuchten Keller hinab.
Bumm! Die Tür schlug zu. Plötzlich war es stockdunkel.
»Nathaniel!«
Über ihr schabte etwas. Es hörte sich an wie Tischbeine auf Bodendielen. Dann ein Schlag. Direkt über ihr. Energische Schritte entfernten sich.
»Nathaniel!«
Eine Tür schlug zu.
Er hatte sie eingesperrt. Sie war gefangen. Im Dunkeln.
Die alte, ängstliche Damaris hätte sich auf den Erdboden gesetzt und geweint. Doch die Texas-Damaris hatte mehr Mumm in den Knochen. Weinen würde sie nicht aus diesem Keller bringen. Anstrengung und Ideen allerdings schon.
Sie nutzte den Lichtschimmer, der durch den schmalen Spalt neben der Falltür in den Keller schien, um sich zu orientieren. Sie stellte sich unter die Tür, dann streckte sie die Hände aus und ertastete die Leiter.
Bitte, Herr, schenk mir Kraft.
Mit zusammengebissenen Zähnen streckte sie die Beine durch und stemmte sich nach oben, so kraftvoll wie sie nur konnte. Die Tür bewegte sich. Nicht viel, aber sie bewegte sich. Noch einmal versuchte sie es und stöhnte vor Anstrengung.
Vergeblich. Die Tür bewegte sich einen Zentimeter, vielleicht weniger. Der Tisch, der darauf stand, war einfach zu schwer.
Also gut. Anstrengung und Körperkraft reichten nicht aus, wenn man die Muskeln einer Frau besaß, die eher daran gewöhnt waren, Nadelarbeiten zu machen als Tische zu stemmen. Also musste sie es mit Plan B versuchen. Geduld.
Damaris ließ sich auf der untersten Sprosse nieder und schlang ihren Rock um die Beine, dann verschränkte sie die Arme vor der Brust. Es wäre ja nur für ein, zwei Stunden. Das würde sie schaffen.
Ein Quietschen erklang aus der Ecke. Ihr Blick fuhr in diese Richtung, doch im Dunklen konnte sie natürlich nichts erkennen.
Leise, tapsende Geräusche erklangen hinter ihr. Damaris zog die Beine so nahe wie möglich an den Körper und fing an zu summen.
Sie konnte das schaffen. Es waren nur Geräusche, die in der Dunkelheit lauter klangen, als sie eigentlich waren.
Etwas kitzelte in ihrem Nacken. Sie sprang von der Leiter und klopfte sich von Kopf bis Fuß ab.
Vielleicht war Geduld doch nicht die allerbeste Idee. Damaris rieb sich ihren juckenden Nacken und fing fieberhaft an, für einen Plan C zu beten.
Luke hielt Titan im Trab, als er mit seinem Pferd die Einfahrt der Baxters erreichte. Nach Auskunft des Nachbarn lebte Nate noch hier. Eine Tante war wohl angereist, um sich um den Jungen zu kümmern, nachdem sein Vater gestorben war.
»Hilfe!«
Der Schrei war gedämpft. Kaum zu hören.
Luke zog seinen Revolver und stieg die Stufen zur Veranda herauf. Das Holz knarzte unter seinen Schritten. »Wie kann ich helfen?«
Er legte seine Hand auf den Knauf und öffnete die Tür, hielt seinen Körper so gut es ging dahinter verborgen, während er mit angelegter Waffe vorsichtig eintrat.
Wieder ein Schlag. Oder ein Klopfen. Wie Fäuste an einer Wand.
»Wo sind Sie?« Luke durchquerte den Raum mit schnellen Schritten, doch er bewegte sich immer noch mit äußerster Vorsicht, blickte hinter jede Tür und musterte die Räume, um sicherzugehen, dass keine bösen Überraschungen hinter Sofas oder Vorhängen lauerten.
»In der Küche!«
Die Stimmlage war hoch. Es konnte eine Frau sein. Oder ein Kind.
»Im Keller. Bitte! Lassen Sie mich hier heraus!«
Definitiv eine Frau. Luke rannte die letzten Schritte in die Küche. Sobald er überprüft hatte, dass ihn keine Falle erwartete, steckte er seine Waffe zurück ins Holster und suchte nach dem Keller. Das Klopfen kam aus der Mitte des Raumes, doch er sah nur einen leeren Esstisch.
»Hier unten. Bitte!«
Luke hockte sich hin und musterte den Fußboden. Da! Ein Rechteck war in den Holzdielen zu sehen, das wohl die Falltür in den Keller war. Eine Tür, die von dem schweren Holztisch versperrt wurde.
Offensichtlich hatte jemand die Frau dort eingesperrt. Von allein war der Tisch bestimmt nicht auf die Kellertür gerutscht.
Luke griff nach dem Tisch, schob ihn beiseite und fasste den Ring der Kellertür. Doch bevor er ziehen konnte, flog die Klappe auf und hätte ihn fast am Kinn erwischt. Er fiel nach hinten und wäre trotzdem beinahe von der Frau getroffen worden, die wie ein Springteufel aus dem Kellerloch schoss. Ihr Aussehen erschreckte ihn fast so sehr wie ihr plötzliches Auftauchen.
Das hier war keine alte, verrunzelte Jungfer. Die Frau aus dem Keller hatte die glatte Haut der Jugend, ihr Teint war weiß und zart. Braune Augen blinzelten, als sie sich an das Tageslicht gewöhnten. Die Frau atmete hastig; ihre Brust hob und senkte sich unter der plissierten, elfenbeinfarbenen Bluse, während sie um Fassung rang. Eine schlanke Hand legte sich mit zitternden Fingern an ihren Hals.
»Hier.« Luke wischte seine Hand an der Hose ab und streckte sie ihr entgegen.
Ihre Wangen röteten sich. »Danke. Ich …«
Die Frau beendete ihren Satz nicht, doch sie legte ihre Finger in die seinen und gestattete ihm, ihr aus dem Keller zu helfen. Obwohl er aufgrund der Geschwindigkeit, mit der sie aus dem Loch kletterte, vermutete, dass sie seine Hilfe nicht wirklich gebraucht hätte.
Irgendetwas in Lukes Brust zog sich zusammen.
Seltsam. Normalerweise zog sich sein Magen zusammen, wenn er eine attraktive Frau traf, und seine Stimme schien dann nicht mehr zu funktionieren. Das hier war … anders. Vielleicht, weil sie anders war. Als sie ihm dieses angedeutete Lächeln schenkte, war da etwas an ihr, das ihn anzog. Er fühlte sich … wohl. Entspannt. Als müsse er sie nicht beeindrucken. Als könne er in ihrer Gegenwart einfach er selbst sein. So hatte er sich noch nie in seinem ganzen Leben in der Gegenwart einer Frau gefühlt.
Luke räusperte sich. »Sind Sie verletzt?« Es fühlte sich gut an, selbst die Fragen zu stellen.
Sie schüttelte den Kopf und Röte stieg ihr in die Wangen. »Nein. Nur ziemlich peinlich berührt, weil ich in meinem eigenen Rübenkeller eingesperrt war. Sie müssen mich für eine absolute Närrin halten.«
»Warum sollte ich? Sie sind wohl kaum selbst für diese Misere verantwortlich.« Luke verschränkte die Arme vor der Brust und hob eine Augenbraue. »Oder haben Sie es etwa geschafft, die Tür hinter sich zufallen zu lassen, und dann mit der Kraft Ihrer Gedanken den Tisch darauf gerückt?«
Wieder dieses Lächeln. »Nein. Aber ich hätte es besser wissen müssen.«
»Weil Ihr Neffe regelmäßig solche Streiche spielt? Es war nicht anständig, Sie dort unten einzusperren.«
»Nein, das war es nicht.« Mit entschlossenen Schritten durchquerte sie den Raum bis zu dem Arbeitstisch, auf dem ein brauner Klumpen lag - vermutlich das misslungenste Brot, das Luke jemals gesehen hatte. »Aber es ist ja nichts passiert. Ich werde mit meinem Neffen verfahren, wie ich es angemessen finde. Das geht Sie wirklich nichts an, Mr …?«
»Davenport. Luke Davenport.« Luke runzelte die Stirn. »Sie sind doch Miss Baxter, nicht wahr?«
»Ja. Damaris Baxter. Tut mir leid. Ich hätte mich schon viel früher vorstellen sollen.«
Luke grinste. »Wann denn? Während Ihrer Flucht aus dem Keller oder als Sie Ihren Neffen verteidigt haben?«
Sie senkte den Blick, schenkte ihm jedoch trotzdem ein schüchternes Lächeln. »Ich denke, das sind nicht gerade gewöhnliche Umstände, unter denen wir uns heute kennenlernen.«
»Nein, Ma’am. Aber es ist mir eine echte Freude.« Luke tippte sich an den Hut.
»Ganz meinerseits, Mr Davenport.« Damaris Baxter trat vom Tisch weg und streckte ihm die Hand entgegen. »Und ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie mich gerettet haben.«
Er ergriff ihre schlanken Finger, die in seinen verschwanden. Einen Augenblick lang genoss er das Gefühl ihrer Haut auf der seinen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal eine Frau berührt …
»Lassen Sie meine Tante los, Mister, oder ich schieße Sie über den Haufen!«
Kundenstimmen
Eine Echtheits-Überprüfung der Bewertungen hat vor deren Veröffentlichung nicht stattgefunden. Die Bewertungen könnten von Verbrauchern stammen, die die Ware oder Dienstleistung gar nicht erworben oder genutzt haben.
12.03.2023Märchens Bücherwelt 
Inhalt: Luke Davenport, den wir bereits als 4.Mitglied der "Hangers Reiter" kennen, erhält von Mr.Grimes den Auftrag, dem Verschwinden seiner Rinder und Vandalismus nachzugehen. Im Verdacht steht der Nachbarssohn Nate, dessen Vater auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen ist und sich nun in der Obhut seiner Tante Damaris befindet. Eh er sich versieht, steckt Luke tiefer in dem Geschehen
als angenommen und nicht nur sein Herz ist in Gefahr, sondern auch sein Leben...
Eindruck: Luke ist ein besonderer Mensch, obwohl er unter den Erlebnissen seiner Kindheit leidet und dem Gefühl, nirgends wirklich zu Hause zu sein und geliebt zu werden, setzt er alles daran, anderen zu helfen und ihr Wohl allem voranzustellen. Ebenso Damaris, die sich selbst als graue Maus und unscheinbar bezeichnet. Selbst erschüttert über den Verlust ihres Bruders, stellt sie sich so liebevoll, so mutig und tapfer der Herausforderung, ihrem ablehnenden und Streiche spielenden Neffen beizustehen und ihn zu versorgen, obwohl sie sich oft hilflos und überfordert fühlt.
Der Wunsch der Autorin, Geschichten mit Happy End zu schreiben und gleichzeitig eine christliche Botschaft zu vermitteln ist auch hier wieder komplett aufgegangen und es hat sehr viel Spaß gemacht, einzutauchen und sich mitreißen zu lassen von diesen authentischen, liebenswerten Menschen, die auch ihre Schwächen und Fehler haben, dennoch zeigen, worauf es im Leben ankommt und keine Angst haben, für das Glück anderer zu kämpfen.
Die Erklärung, wie Luke zu seinem Spitznamen kam, hat mich begeistert, weil es mir gezeigt hat, wie wichtig es in jeder Lebenssituation ist, ob Krise oder normaler Alltag, sich mit Bibeltexten zu beschäftigen, die einem Kraft, Mut und Hoffnung geben und jederzeit und überall abrufbar sind.
Ihr Vertrauen, was immer im Leben auch kommen mag, Gott ist da und sorgt dafür, dass es eine Lösung gibt, dies allerdings nicht als selbstverständlich sehen, sondern dankbar zu sein, weil man die Antwort auf Gebete wahrnimmt und schätzt.
Menschen, die genauso ein Gottvertrauen haben, sorgen dafür, dass das Leben leichter zu ertragen ist, auch wenn es manchmal ausweglos erscheinen mag.
Ich habe diese Geschichte regelrecht verschlungen, weil sie aufgrund der Handlung spannend, fesselnd und gleichzeitig tiefgründig und berührend ist. Aber auch die Annäherung der beiden, die zwar offensichtlich ist, allerdings auf eine Art und Weise, die so gefühlvoll, so glaubwürdig und behutsam verläuft und immer mit einer herrlichen Prise Humor.
Es hat so Freude gemacht, all die bekannten Personen wieder zu treffen, ihre weitere Entwicklung zu verfolgen und den Zusammenhalt zu spüren, der nur funktioniert, wenn man sich vertraut und auch wenn nicht immer alles glatt und einfach verläuft, in der Not immer zusammenhält macht auch diesen Band zu etwas Besonderem.
Fazit: Eine wundervolle Erzählung über den Wert von echter Freundschaft und Loyalität, was aufrichtige Worte und liebevolles Interesse bewirken und welche Kraft der Glaube und Gottes Wort hat, um Hoffnung, Trost und Zugang zum Herzen eines Menschen zu finden.
› mehr...