Im Leben hechelt man mit halsbrecherischer Geschwindigkeit halberschöpft von einem zum anderen – Kinder, Beruf, Rechnungen, Elternabend, Kuchenstand an der Schule, Flohmarktverkauf mit Erlös fürs Cheerleading-Team, Zeit mit dem Partner …
Manchmal frage ich mich, ob sie unter all dem schläft – die alte Eliza-beth Gallagher, die Frau, die alles im Griff zu haben schien. Oder war sie schon immer nur ein Fantasieprodukt, hervorgegangen aus dem Durcheinander vor achtzehn Jahren, als eine unerwartete Schwangerschaft zu einer überstürzten Ehe von zwei verliebten Teenagern führte? Sie war so fest entschlossen, allen Skeptikern zu beweisen, dass sie es schaffen würde: allen Statistiken zu trotzen. Die perfekte Familie zu gründen. Ein Leben aufzubauen, auf das sie stolz sein kann.
Und jetzt das!
Ich blicke durch das Erkerfenster aus dem Gebäude hinaus, das unser Traumhaus sein sollte. Der Hektar Ackerland ist seit Jahrhunderten im Besitz der Gallaghers.
Er war unser Hochzeitsgeschenk.
Herbstblätter wehen über die Familienfarm, wie wir das weitläufige Gelände liebevoll nennen. Die bunten Farben umtanzen die Häuser von Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen. Leider kann ein hübscher Anstrich das, was hier im Argen liegt, nicht übertünchen. Er kann auch das »Zu verkaufen«-Schild auf der anderen Straßenseite nicht verschwinden lassen.
Höchstwahrscheinlich fällt den Kindern dieses Schild gar nicht auf. Aber es wird eine glühende Feuerblase und eine Pilzwolke aus familiärem radioaktivem Niederschlag auslösen, sobald Onkel Butch es entdeckt. Er wird unmöglich tatenlos dabei zusehen, wie seine Schwester dieses Grundstück verkauft.
Ich lasse den Kopf auf den Tisch sinken, direkt neben der Schüssel mit Hafergrütze, die nach der Nachtschicht sowohl mein Frühstück als auch mein Abendessen darstellt – etwas Gutverträgliches, damit ich mich nicht übergebe, sobald es in meinen Magen gelangt. Er rumort schon seit etwa der Hälfte meiner Arbeitszeit schmerzhaft. Ich schließe die Augen.
Heute Morgen ist ein kleines Mädchen als vermisst gemeldet worden. Wenn ich nur schneller reagiert hätte, wenn ich es nicht vermasselt hätte, wenn nur meine Hirnwindungen nicht zum allerersten Mal, seit ich diesen Job mache, vor Erschöpfung und durch das Gedankenchaos wegen meiner Familie blockiert gewesen wären, als der Anruf in der Rettungsleitstelle einging, könnte dieses Mädchen längst wieder zu Hause sein. Sicher und geschützt in den Armen seiner Mutter. Doch stattdessen bin ich wie in Schockstarre, weil das Schlimmste passiert sein könnte und ich daran schuld wäre.
Ich gehe den Anruf erneut durch, während mich der Schlaf in seine Tiefen ziehen will.
Die Anruferin schluchzt, sie ist in Panik, ganz allein auf dem Parkplatz von Cappie’s Quick Mart, bis auf einen freundlichen Lastwagenfahrer, der sie hysterisch schreiend herumlaufen sah und anhielt, um zu fragen, was passiert sei.
»Sie … sie war … hi…!« Das Wort hier geht in einem stöhnenden Heulen unter, das klingt, als komme es aus der Kehle eines Tieres. »Sie … sie hat … auf dem Sitz ge…schlafen. Auf dem Rücksitz mit … mit dem Baby. Ich war … nur eine M-Minute fort. Hö-höchstens zwei.«
Die Art, wie schleppend ihre Stimme klingt, lässt in mir den Verdacht aufkeimen, dass sie betrunken ist. Aber vielleicht ist es auch nur die Aufregung und Panik. Ich tue das, was Mitarbeiter der Rettungsleitstelle bei ihrer Ausbildung lernen: Ich spreche sie mit ihrem Namen an: Trista.
»Okay, Trista, bitte atmen Sie tief durch. Beruhigen Sie sich und sprechen Sie mit mir. Sie sind nicht allein. Wir tun alles, um Ihre Kleine wohlbehalten nach Hause zu bringen.«
»M-mein Mädchen … mein kleines Mädchen …«, schluchzt sie.
»Wie heißt sie?«
»Em … Emily.«
»Und wie alt ist Emily?«
»V-vier … f-fünf. Sie ist gerade fünf geworden.« Trista klingt jetzt klarer. »Wir wollten dieses Wochenende ihren Geburtstag feiern …«
Ich habe den Geschmack von Galle im Mund. Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn Eltern von einem vermissten Kind in der Vergangenheitsform sprechen.
Sie bricht in bitterliches Weinen aus und es dauert viel zu lange, bis ich sie dazu bringen kann, mir wieder zuzuhören. Die Zeit läuft. Für die Einsatzteams brauche ich dringend eine Beschreibung des Mädchens.
»Trista … Trista! Welche Haar- und Augenfarbe hat Emily?«
»B-blond … b-blau.«
»Ich muss wissen, was Emily anhatte, als Sie sie das letzte Mal gesehen haben. Jedes Detail, das Sie mir nennen können.«
Doch anstatt meine Frage zu beantworten, beschreibt sie noch einmal, wo sie ist.
»Trista!« Meine Stimme hallt in der Rettungsleitstelle wider. »Legen Sie nicht auf. Bleiben Sie dran. Sprechen Sie mit mir.«
Carol kommt aus dem Aufenthaltsraum gelaufen. Sie hat mich wohl schreien gehört.
Ich halte das Mikrofon zu und flüstere schnell: »Vermisste Person, weiblich, fünf Jahre.« Mein Herz hämmert wie wild. Ich deute auf den Bildschirm.
Dann nehme ich die Hand wieder vom Mikrofon. »Trista! Trista! Was hatte Emily an? Sie müssen mir sagen, was sie anhatte.«
»Sie ist fo-ort! Sie ist fo-ort!«
»Was hatte Emily an?«
»Ein T… ein T… T-Shirt«, bringt Trista schließlich mit einem Schluckauf heraus. »Ein Ar-Arbeitsshirt von Wade. Er … er … es… es war sein … sein letztes …sau-sauberes … Vielleicht hat sie gedacht, ich schi…schimpfe mit ihr …«
Ich notiere gleichzeitig mehrere Punkte und leite die Informationen weiter. Es gibt einen Mann, möglicherweise einen Familienstreit, zum jetzigen Zeitpunkt ist der Aufenthaltsort des Mannes nicht bekannt.
»Welche Farbe hat das T-Shirt?« Wenn es ein Männershirt war, war es für eine Fünfjährige viel zu groß.
»Ro-rot … oder blau. Ich wei … weiß es nicht. Er hat … er hat … Ich weiß nicht … Mein Babyyy! Wo ist mein Baby?«
»Sie müssen sich beruhigen, Trista.«
Wie lange dauert es noch, bis die Einsatzfahrzeuge bei ihr sind? Ich schaue auf den Bildschirm. Sie sind immer noch mehrere Kilometer entfernt. »Was hat Emily sonst noch an? Eine Hose? Schuhe? Eine Jacke?«
»Nein!«, schluchzt Trista. »Nur das Shirt! Nur das Shirt.«
Ich erschauere. Es ist Mitte Oktober. Im Geiste sehe ich das kleine Mädchen bibbernd und barfuß am Straßenrand entlanglaufen, die blonden Haare hängen zerzaust um ihr Gesicht, aus ihren Augen spricht die nackte Angst.
Carol kneift die Augen zusammen und schüttelt den Kopf. Dann schaut sie mich direkt an und ihre grauen Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Der Cappie’s Quick Mart an der Old Collier Road hat so spät nachts nicht geöffnet. Sie muss beim neuen Super Cappie’s sein, der direkt an der Umgehungsstraße eröffnet hat.«
Ich kneife einen kurzen Moment die Augen zusammen. Mir ist übel, heiß, ich bin völlig benommen. Doch dann trifft mich die Erkenntnis wie ein greller Blitzschlag.
Ich wohne schon mein ganzes Leben lang in diesem Bezirk. Mir hätte bewusst sein müssen, dass bei Cappie’s an der Old Collier Road kein Verkehrslärm zu hören ist und um diese Zeit niemand dort einkaufen kann. Mir hätte klar sein müssen, dass Trista nicht dort sein kann …
Das Telefon klingelt und im ersten Moment bin ich immer noch in der Rettungsleitstelle und versuche, den eingehenden Anruf über mein Headset zu beantworten. Aber es geht nicht, ich habe gar keins auf.
Ich fahre aus dem Schlaf hoch, hebe den Kopf vom Küchentisch und greife eilig nach meinem Handy. Das helle Vormittagslicht scheint jetzt durchs Fenster und im ganzen Haus ist es still.
Ein halbes Dutzend Gedanken bestürmen mich gleichzeitig. Die Kinder haben sich offenbar unbemerkt aus dem Haus geschlichen und es nicht für nötig erachtet, mich zu wecken. Auf der anderen Straßenseite spiegelt sich das Sonnenlicht wie ein Leuchtfeuer auf dem Verkaufsschild des Immobilienmaklers. Mein Auto steht allein in der Einfahrt. Das bedeutet, dass Robert für das Wochenende in die Blockhütte im Wald gefahren ist, statt nach seiner Dienstreise nach Hause zu kommen. Schon wieder.
Es ist Carol, die mich anruft.
Ich möchte mich im nächsten Schrank verkriechen, mich zusammenrollen und weinen. Nach einem kurzen Durchatmen gehe ich trotzdem ran. »Ja?«
»Im Straßengraben einige Kilometer vom neuen Cappie’s entfernt wurde etwas gefunden«, teilt mir Carol nüchtern mit. »Ein T-Shirt von einem Autozubehörladen. Rot.
Kundenstimmen
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20.03.2023Kristina 
Drei ganz unterschiedliche Schwesterngeschichten
Mit diesem Buch habe ich eine mir bisher unbekannte Autorin entdeckt. Das Buch beinhaltet drei Kurzromane, in denen die Beziehungen von Schwestern geschildert sind. Jede Geschichte hat jeweils ca. 100 Seiten, die sich schnell lesen lassen.
1. Die Seeglasschwestern:
Elisabeth fährt mit ihrer Mutter zu deren Schwester, die auf Hattaras Island einen Muschelladen betreibt. Sie wollen Sandy nach
Hause zurück holen, wo die ganze Familie auf einem Stück Land lebt. Doch dann harren die drei Frauen während eines Hurrikans auf der Insel aus, haben Zeit zum Reden, Helfen sich gegenseitig und die beiden Schwestern kommen sich wieder nahe und treffen Entscheidungen. Und auch Elisabeth erkennt welche Chance ihr das Leben mit fast erwachsenen Kindern neu eröffnet.
2. Die Gezeitenschwestern:
Tandi Reese leitet den Umbau eines Herrenhauses in ein Museum und ihre Hochzeit steht kurz bevor. Doch dann bekommt sie eine ungerechtfertigte Anklage wegen Betrugs zugestellt und findet heraus, dass es dabei um die Farm ihrer Großeltern geht. So reist sie zurück an den einzig sicheren Ort ihrer Kindheit Dort erlebt sie einige Überraschungen, trifft auf alte Bekannte und muss feststellen, dass ihre Schwester hinter der Klage steckt....
3. Die Sandburgschwester:
Jen ist Lektorin und in Europa unterwegs auf Leserreise mit den attraktiven Autor eines bekannten Romans. Jen und Evan haben sich ineinander verliebt und er bittet sie ihn ganz spontan in Paris zu heiraten. Doch Jen bekommt Panik, wenn sie nur an eine Ehe denkt, denn ihre Erfahrungen aus der Kindheit sind belastend. So kommt ihr ein Anruf der jüngsten Schwester Lily, die sich auf die Suche nach der spurlos verschwundenen Mutter und deren Familie machen will, gerade recht und Jen fliegt zurück in de Staaten. Gemeinsam machen die Schwestern sich auf den Weg und finden auf Hattaras Island ihre Halbschwester Rebecca Christine....
In dem Buch sind drei ganz verschiedene Geschichten, die alle in sich abgeschlossen sind. Dabei ist Hattaras Island und Sandys Muschelladen der feste Punkt, der in jeder Erzählung vorkommt. Die Schwestern, die wir kennen lernen, sind ganz unterschiedlich, aber alle erleben eine Veränderung, können mit ihrer Vergangenheit abschließen und sind so offen für die Zukunft. Ich hatte am Beginn des Buches einige Probleme in die Geschichte der Seeglasschwestern hineinzufinden, aber bald hatte es mich gepackt und dann konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Der Schreibstil der Autorin hat mir sehr gut gefallen und ich werde sicher weitere Romane von ihr lesen. Sehr gut gefiel mir auch, dass der christliche Glaube eine wichtige Rolle spielt, aber nie aufdringlich wirkt. Teilweise waren die Geschichten sehr schnell zu Ende und ich hätte mir mehr gewünscht...
„Seeglasschwestern“ hat mir sehr gut gefallen und ich empfehle das Buch gern weiter.
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