Er schafft es, dass du ein schlechtes Gewissen bekommst, ohne dass er auch nur laut wird.«
»Wenn du mir sagst, worum es in dem Abschnitt geht, bevor er kommt, wird er es gar nicht merken.«
»Oh doch, das wird er …«, begann Josua, aber Manasse tippte ungeduldig mit dem Finger auf die Schriftrolle. »Schon gut, schon gut«, sagte Josua mit einem schiefen Grinsen. »Aber nur dieses eine Mal … und nur weil ich dein Freund bin und nicht, weil du der König bist.« Er entrollte die Thora-Rolle und suchte die richtige Stelle. »Der Abschnitt, den wir gestern gelesen haben, handelte von den Flüchen, die Gott auf uns herabsenden wird, wenn wir Jahwes Bund verlassen, aber in diesem Teil steht, wenn wir zu Gott zurückkehren, wird er unser Geschick wenden und Mitleid haben und … He, du hörst ja nicht mal zu.«
Manasse war aufgestanden und an das einzige Fenster des winzigen Raumes getreten. Er öffnete die Läden und ließ damit einen Stoß kalte Luft herein.
»Das liegt daran, dass du mich zu Tode langweilst«, sagte er zu Josua. »Ich weiß sowieso nicht, warum wir all diese uralten Regeln und Gesetze überhaupt studieren müssen.«
»Weil sie zu Gottes Wort gehören. Wir …«
»Ach, erspar mir den Vortrag! Du bist genauso schlimm wie Rabbi Gerschom.« Es ärgerte Manasse, dass sein Freund so großes Interesse an dem ganzen Zeug zeigte. Für Manasse war das alles staubtrocken. »Was steht denn noch drin?«
»Dieser Vers fasst Moses gesamte Rede vor den Israeliten zusammen: Ich habe euch heute Segen und Fluch, Leben und Tod vor Augen gestellt. Wählt das Leben, damit ihr am Leben bleibt, ihr und eure Nachkommen! … Denn davon hängt es ab, ob ihr auf die Dauer als Volk fortbesteht und in dem Land bleiben dürft, das der Herr euren Vorfahren Abraham, Isaak und Jakob mit einem Eid versprochen hat.« (5. Mose 30,19-20)
»Aber das durften wir nicht«, sagte Manasse leise.
»Was hast du gesagt?«
»Nichts.« Es widerstrebte ihm, die Bitterkeit zu zeigen, die er verspürte, selbst vor seinem besten Freund. Manasse hatte an seinen Vater, König Hiskia, gedacht, der Jahwe treu gewesen war – treuer als alle Könige Judas seit König David. Aber Gott hatte ihn nicht am Leben gelassen. Hiskia war vor fünf Monaten ganz plötzlich gestorben im Alter von vierundfünfzig Jahren.
»Sieh mal! Die Sonne scheint!«, sagte Manasse. Die grauen Wolken, die den spätwinterlichen Himmel seit Tagen trübten, waren plötzlich aufgerissen und enthüllten einen blauen Flecken und die grelle Sonne. Er wandte sich an seinen Freund. »Das ist ein Omen. Komm, gehen wir.«
Josua starrte ihn verblüfft an. »Gehen? Wohin?«
»Ist doch egal! Irgendwohin – Hauptsache wir kommen hier raus.« Er zog Josuas Hand von der Schriftrolle fort und sie rollte sich sofort wieder zusammen. »Komm schon, Ochse. Ich will an die frische Luft.«
»Aber der Rabbi kann jeden Augenblick kommen. Ich finde nicht, dass wir …«
»Du bist so berechenbar. Wirst du es denn nie leid, dich an die Regeln zu halten? Ich schon!«
»Aber wir können nicht einfach unseren Unterricht schwänzen.«
»Warum nicht? Wer will mich denn aufhalten? Ich kann tun, was ich will, und jetzt gerade will ich nach draußen gehen und den Sonnenschein genießen, anstatt mit einem Haufen uralter Schriftrollen hier eingesperrt zu sein. Und du kommst mit.«
Josua rappelte sich auf und stieß dabei die Sitzbank um, was Manasse daran erinnerte, warum er seinem Freund den Spitznamen »Ochse« gegeben hatte. Josua war dreizehn Jahre alt, groß und ungelenk, und auch wenn es schien, als würde er jede Nacht ein bisschen mehr wachsen, wurde er nie dicker. Manasse war mit seinen zwölf Jahren immer noch wie ein Kind gebaut, schlank und zierlich. Josua stand meist geduckt neben ihm, so als wäre es ihm peinlich, einen Kopf größer zu sein als der König.
Manasse spähte auf den Gang hinaus, sah in beide Richtungen und gab Josua dann ein Zeichen, ihm zur Dienstbotentreppe zu folgen.
»Wohin gehen wir denn?«, fragte Josua noch einmal. »Sollten wir nicht jemanden suchen, der uns begleitet, wenn wir rausgehen?«
»Wir gehen allein. Ich will aus diesem Palast raus und habe keine Lust, dass ständig irgendwelche Diener dabei sind.« Manasse schlich durch den Harem, vorbei an der geschlossenen Tür seiner Mutter. Sie trauerte noch immer um ihren Mann. Der einzige Mensch, der nicht im Palast wohnte und trotzdem zu ihr durfte, war Josuas Mutter Jeruscha. Aber der Regen in den vergangenen Tagen hatte selbst Jeruscha am Kommen gehindert.
Manasse ging weiter durch den Kindertrakt, vorbei an der Kammer, in der er gewohnt hatte, bevor er König geworden war. Manasse war nur widerstrebend in die riesigen Gemächer seines Vaters umgezogen, weil er die Tatsache, dass sein Vater tot war und diese Räume nie wieder benutzen würde, nicht akzeptieren konnte. Zuerst war Hiskias Gegenwart noch in den königlichen Gemächern zu spüren gewesen – und sein vertrauter Geruch hing überall, eine Mischung aus Tempelweihrauch, der in alle seine Kleider gezogen war, der duftenden Seife, die er benutzt hatte, um sich Haare und Bart zu waschen, und Aloesalbe, mit der er jeden Morgen seine Hände eingerieben hatte. Aber Manasse hatte nicht verhindern können, dass sich der Geruch seines Vaters langsam verzog – so wie auch die Erinnerung an seine Stimme und seine Mut machende Berührung verblasste.
Manasse war fast durch die Kinderzimmer gelangt, ohne gesehen zu werden, aber dann ging er an der offen stehenden Tür seines jüngeren Bruders vorbei. Amarja sah von seiner Lektüre auf.
»He, wohin wollt ihr beide denn? Wartet auf mich!« Amarja eilte auf den Gang hinaus und folgte ihnen. »Wohin geht ihr?«
»Kann dir egal sein. Du bist nicht eingeladen.«
»Ich dachte, ihr müsstet mit Rabbi Gerschom die Thora studieren.«
»Verschwinde.«
»Kann ich nicht mitkommen?«
»Nein!« Manasse drehte sich um und versetzte Amarja einen so heftigen Stoß, dass der Zehnjährige beinahe der Länge nach hingeschlagen wäre. »Geh in dein Zimmer zurück! Und wehe, du erzählst jemandem, dass du uns gesehen hast, dann wirst du es bereuen. Verstanden?« Amarja nickte ängstlich und zog sich in sein Zimmer zurück.
»Warum kann er nicht mitkommen?«, wollte Josua wissen.
Manasse antwortete nicht. Er brauchte keinen Grund – er war der König. Diese Tatsache war ihm in den vergangenen fünf Monaten nach und nach bewusst geworden und inzwischen hatte er angefangen zu tun, was ihm gefiel, und seine Autorität auszutesten. Als niemand seine Entscheidungen hinterfragte, war er mutiger geworden. Aber dies war seine bislang kühnste Tat – seinen langweiligen Thora-Unterricht zu schwänzen und aus dem Palast zu fliehen. Und auch dafür konnte ihn niemand bestrafen. Josuas Vater Eljakim diente als sein Vormund und als Palastverwalter, bis Manasse alt genug war, um das Volk selbst zu regieren. Aber selbst Eljakim hatte nicht das Recht, den König zu maßregeln.
Manasse eilte die Treppe hinunter, die zum Palasthof führte. Er lächelte, als er die Tür nach draußen aufzog. Er war der König. Er war frei!
Riesige Pfützen bedeckten den Hof und Wasser lief in Bächen die steilen Straßen hinunter und wusch die Stadt sauber. Manasse wich den meisten Wasserläufen aus, aber Josuas Sandalen waren schon bald klatschnass. Niemand hielt die Jungen auf, als sie an dem Waffenlager und dem Wachturm vorbeiliefen. Der Hof, auf dem sie sonst ihre militärische Ausbildung erhielten, glich einem See. Sie gingen in Richtung Wassertor, das diesen Namen noch immer trug, obwohl die Gihonquelle schon seit vielen Jahren abgesperrt war. Der Duft von Mandelblüten und nasser Erde lag in der Winterluft, während der Wind vergeblich versuchte, die Wolken zu vertreiben.
»Komm schon, Ochse. Wer zuerst unten ist.« Manasse rannte die steile Rampe hinunter und hängte seinen Freund im Nu ab. Mühelos erreichte er den Olivenhain als Erster und warf sich ins nasse Gras. Josua taumelte einige Minuten später auf ihn zu, ganz außer Atem, und sank auf eine niedrige Steinmauer in der Nähe.
»Du hast gewonnen. Manasse.«
»Das liegt daran, dass ich König bin. Du darfst mich nicht schlagen.«
»Nein, es liegt daran, dass du schneller bist als ich. Vermisst du eigentlich deinen Vater?«, fragte Josua plötzlich.
Manasse warf seinem Freund einen Blick zu, dann wandte er sich ab. »Hier wird bestimmt niemand König Hiskia vergessen, den größten König seit David. In diesem Tal ist das Wunder geschehen. Jahwe hat das Gebet meines Vaters erhört und 185.000 Assyrer sind in einer Nacht umgekommen.« Manasses Stimme hatte einen spöttischen Unterton, beinahe so, als glaubte er die Geschichte nicht. Josua starrte ihn überrascht an.
Aber Manasse glaubte die Geschichte durchaus. Es war die größte Errungenschaft in der Regierungszeit seines Vaters und das Ereignis, das Manasse am meisten Sorgen bereitete. Wie sollte er jemals einer so spektakulären Leistung gerecht werden? Er war Hiskias Sohn. Das Volk erwartete von dem Erben eines so großen Königs noch größere Wunder. Aber was war, wenn Gott Manasses Gebete nicht erhörte?