Harpers Station, Texas, Oktober 1894: »Bist du sicher, dass sie nicht aus Versehen losgehen kann?« Victoria Adams blickte auf ihr entblößtes rechtes Bein hinab, wo ihre Freundin, Grace Mallory, die kleine Taschenpistole Remington Model 95 mit Doppellauf in das zierliche Pistolenhalfter steckte, das an ihrem Strumpfband befestigt war. »Ich will mir nicht versehentlich in den Fuß schießen, wenn der Wagen in ein Schlagloch fährt.«
Grace blickte mit einem beruhigenden Lächeln zu ihr hinauf und kontrollierte die Pistole an Toris Strumpfband ein letztes Mal.
»Du hältst mich wahrscheinlich für verrückt, weil ich solche Vorsichtsmaßnahmen wegen eines Mannes ergreife, der zu uns allen immer nur nett und hilfsbereit ist.« Tori senkte den Blick, da sich ihr Magen nervös zusammenzog. Sie wusste, dass sie übertrieben reagierte, aber sie konnte einfach nicht anders. Sie war seit über fünf Jahren nicht mehr mit einem Mann allein gewesen.
Nicht mehr, seit
Nein! Daran wollte sie nicht denken.
Tori ballte die Fäuste und zwang sich, die Tür zu diesen Erinnerungen zuzuschlagen. Sie wollte sich nicht von der Vergangenheit beherrschen lassen. Sie hatte eine Zukunft, die sie gestalten wollte, und einen Sohn, für den sie sorgen musste. Der Lebensunterhalt der Frauen in Harpers Station war davon abhängig, dass Tori ihre Waren verkaufen konnte.
Benjamin Porter war ein guter Mann, ehrbar. Er lieferte seit über einem Jahr Waren in ihren Laden, seit Emma Chandler die Frauenkolonie in Harpers Station gegründet hatte. Mr Porter war monatelang der einzige Mann gewesen, der ihre Zufluchtsstätte hatte betreten dürfen, und er hatte dieses Vertrauen kein einziges Mal missbraucht.
Der Fuhrunternehmer verlangte faire Preise, und wenn ihr gewohnter Markt in der Nachbarstadt Seymour gesättigt war, scheute er keine Mühen, um neue Verkaufsmöglichkeiten für die Eier, das eingemachte Obst und Gemüse und die Quiltdecken zu finden, die von den Frauen in Harpers Station hergestellt wurden. Als Angus Johnson ihre Gemeinde überfallen hatte, hatte Mr Porter zu ihnen gestanden. Er hatte für sie gekämpft.
Bei der Erinnerung, wie der Fuhrunternehmer Tag für Tag vor ihrem Laden Wache gestanden hatte, wurde Toris Gesicht spürbar warm. Er hatte nicht die Stadt als Ganzes beschützt, sondern Tori. Aus seinem wachsenden Interesse an ihr machte er keinen Hehl. Das war vielleicht der Hauptgrund, warum Tori Grace um Rat gefragt hatte, wie man am besten eine Waffe verstecken könne.
Nachdem Tori eine Dreiviertelstunde lang stocksteif auf dem Kutschbock gesessen und peinlich darauf geachtet hatte, zwanzig Zentimeter Abstand zwischen Mr Porter und sich einzuhalten, schmerzte ihr der Rücken. Sie könnte das nicht den ganzen Tag durchhalten. Zumindest nicht, wenn sie noch genügend Energie haben wollte, um neue Kunden zu gewinnen.
Während sie so tat, als streiche sie ihren Rock glatt, fuhr sie mit der Hand unauffällig an ihrem rechten Bein entlang, bis ihre Finger den kleinen harten Gegenstand über ihrem Knie berührten. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Pistole an ihrem Platz war, erlaubte sie sich, sich wenigstens ein bisschen zu entspannen. Sie lockerte ihre Haltung so weit, dass sie mit der natürlichen Bewegung des Wagens mitschaukelte, statt kerzengerade zu sitzen. Denn um ehrlich zu sein: Was erreichte sie mit dieser steifen Haltung, außer dass sie müde wurde und lächerlich aussah?Tori warf aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick auf den Mann, der neben ihr saß. Seine Aufmerksamkeit schien auf die Straße vor ihnen gerichtet zu sein. Gut. Wahrscheinlich hatte er gar nichts gemerkt.
In diesem Moment drehte er den Kopf zu ihr herum, als hätte er ihren Blick gespürt. Dann zwinkerte er ihr zu. Er zwinkerte!
»Ich muss sagen, Ihr Durchhaltevermögen ist beeindruckend.« In seiner Stimme schwang ein freundliches Necken mit. »Ich hätte nicht erwartet, dass Sie es mit diesem stocksteifen Rücken weiter als bis zu Mrs Coopers Hühnerfarm schaffen. Aber Sie haben dreimal so lang durchgehalten!«
Tori erstarrte, doch dann wurde ihr die Ironie dieser Reaktion bewusst und sie begnügte sich lieber damit, abweisend die Lippen zu schürzen. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
Mr Porter schmunzelte. »Und ich habe Sie immer für eine ehrliche Frau gehalten!«
Tori konnte sich nicht entscheiden, ob sie sich mehr darüber aufregen sollte, dass er ihr hartnäckiges Leugnen so unverblümt ansprach, oder dass er ihre veränderte Körperhaltung bemerkte, sobald sie sich ein wenig Entspannung zugestand. Letzteres war eindeutig beunruhigender, besonders da sich ein winziger, alberner Teil von ihr geschmeichelt fühlte, dass er sie so bewusst wahrnahm.
»Wissen Sie was?«, fuhr er fort. »Wenn Sie sich dann besser fühlen, können Sie ja diesen Essenskorb zwischen uns auf die Bank stellen.« Er deutete mit dem Kinn auf den Boden, wo der Korb stand. »Es wäre schade, wenn Sie am Ende noch solche Rückenschmerzen bekommen, dass Sie diesen Tag nicht würdevoll überstehen können. Es ist schwer, einen guten Eindruck zu machen, wenn man sich vor Muskelkrämpfen ständig den Rücken hält.«
Er hatte sie schon wieder durchschaut. Und statt sie mit Worten beruhigen zu wollen, dass er keine Bedrohung sei, schlug er ihr eine praktische Lösung vor, um ihre Sicherheit zu erhöhen. Eine tatsächliche Barriere anstelle der Abwehrmauer, die sie vortäuschen wollte.
Er verstand sie. Das war beängstigend.
Toris Magen zog sich bei dieser Beobachtung zusammen.
Doch dann meldete sich die Kämpferin in ihr, die sich gegen alle Widerstände durchgesetzt und als alleinerziehende Mutter einen Laden eröffnet hatte. »Ich denke nicht, dass das nötig sein wird. Es wäre ärgerlich, wenn unser Essen bei diesen holprigen Straßenverhältnissen auf dem Boden landen würde.« Noch mehr ärgerte sie, dass er sie für so schwach hielt und glaubte, sie bräuchte einen Weidenkorb zwischen ihnen, um sich sicher zu fühlen. Sie war nicht schwach. Sie war nur vorsichtig. Das war etwas völlig anderes.
»Wie Sie wollen.« Er zuckte die Achseln und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. »Ich sehe da vorne sowieso schon die Abzweigung zur ersten Farm. In ein paar Minuten sind wir da.«