Einst glaubte ich sogar, er könnte mein Schwiegervater werden.
Diese Vorstellung gehörte jedoch der Vergangenheit an.
Ich war in Watchfield House, dem englischen Landsitz von Baron Lydney, um dort wieder einmal meine Aufwartung zu machen. Danach wollte ich so schnell wie möglich das Weite suchen und die Vergangenheit endgültig hinter mir lassen.
Mein Blick fiel auf Harry und wider besseres Wissen sah ich ihn länger an. Seine helle Haut und sein widerspenstiges goldbraunes Haar bildeten einen bewundernswerten Kontrast zu der schwarzen Trauerkleidung, die er - wie wir alle auch - trug. Rasch sah ich weg, bevor er mich dabei ertappen konnte, wie ich ihn anstarrte.
»Ein Schwarm von Krähen.« Marguerite zeigte mit einem Kopfnicken auf eine Gruppe unfreundlich dreinschauender Männer, die ihre Köpfe bei der Begrüßung ruckartig bewegten wie Vögel, die Körner aufpicken. Nicht nur ihr hohes Alter, auch ihre schwarzen Frackjacken ließen sie steif wirken.
Ja, meine beste Freundin Marguerite. Obwohl wir fast gleich alt waren, war sie als Witwe eine passende Anstandsdame für mich, wenn ich eine benötigte. Bei meiner gesellschaftlichen Stellung war das jedoch nicht oft der Fall. Sie wusste, dass es seit meiner Kindheit meine Angewohnheit war, alles Mögliche in Sammelbegriffen zusammenzufassen, vor allem in Situationen, in denen meine Ängste an die Oberfläche drängten. Diese Gewohnheit passte besonders gut zur Tochter und Assistentin eines Konservators für Kunstsammler. Jetzt war ich selbst als Konservatorin und Gutachterin tätig - beinahe zumindest.
»Eine Rotte Wildschweine?« Ich täuschte ein gelangweiltes Gähnen vor.
Sie blickte in Harrys Richtung. »Ein Wüstling als Anführer von Maultieren?«, fragte sie spöttisch.
Ich musste über ihren Scherz lächeln, wusste aber, dass sie das nicht wirklich ernst meinen konnte. Sie hatte Harry immer gern gemocht, zumindest bis zu seinem Verschwinden. Wie jeder von uns hatte Harry seine Fehler, aber er war ganz bestimmt kein Wüstling. Sein Interesse hatte immer nur einer Frau gegolten.
Diese Frau war ich.
Mein Herz schlug schnell und unregelmäßig. Bis dieses Interesse plötzlich nachließ. Ich erlaubte mir, ihn erneut anzuschauen.
Er war hochgewachsen und stand kerzengerade zwischen Mitgliedern des Adels. Sein Auftreten war selbstsicher, so wie ich ihn immer gekannt hatte. Fast in der Mitte der versammelten Männer stand eine Frau, die ich nicht kannte. Ihr Haar war so schwarz wie unsere Trauergewänder. Sie war eine schöne junge Frau. Ihr Schmuck leuchtete dunkel im Licht der Lampen. Atemlos beobachtete ich, wie Harry sie ansah und wie aufmerksam er sich ihr gegenüber verhielt.
Marguerite steckte eine Strähne ihres blonden Haares zurück in ihre Hochfrisur. »Als ich im Flur war, habe ich zufällig etwas von dem Gerede gehört, aber du wirst es bald selbst herausfinden, wenn es tatsächlich stimmt.« Marguerite neigte den Kopf zu der dunkelhaarigen Schönheit inmitten der Männer und flüsterte: »Sie ist mit ihm zusammen aus Venedig zurückgekehrt.« Dann entfernte sich meine Freundin von mir.
Ich holte tief Luft und drehte mich um. Niemand sollte meinem Gesichtsausdruck ansehen, wie bestürzt und überrascht ich war.
Ich wollte gerade auf mein Zimmer zurückkehren, als ein Mann mich sanft am Arm berührte. »Miss Sheffield?«
Ich nickte und er stellte sich vor. »Ich bin Sir Matthew Landon, der Anwalt des Verstorbenen. Dürfte ich Sie kurz sprechen?«
Ich folgte ihm in die Bibliothek. Marguerite ging mir in diskretem Abstand nach, um ihrer Pflicht als Anstandsdame nachzukommen. Sobald wir in dem großen Raum waren, tat sie so, als würde sie die vielen Buchtitel auf den Regalen durchsehen, während Sir Matthew mich zu dem riesigen Schreibtisch des verstorbenen Lords führte.
Wir nahmen Platz, Sir Matthew auf der einen Seite, ich auf der anderen. Dann beugte er sich über den Schreibtisch. Sein Atem duftete nach zerstoßenem Fenchelsamen. »Ich komme direkt zur Sache. Lord Lydney hat darum gebeten, dass Sie als vorübergehende Treuhänderin seiner Sammlung agieren und dann später nach Ihrem Ermessen damit verfahren. Sie wissen besser als die meisten, welch einen gewaltigen Schatz die Stücke in seiner Sammlung darstellen. Hunderte Kunstwerke und Waffen. Glas und Porzellan. Schmuck. Silber. Möbelstücke. Porträts. Skulpturen. Der verstorbene Lord Lydney ist sich sicher, dass Sie am besten dafür geeignet sind festzustellen, ob die Sammlung an Ort und Stelle verbleiben oder gespendet werden soll.«
»Geht nicht alles an seinen Sohn als sein einziges Kind?« Hastig korrigierte ich mich: »Noch lebendes Kind?«
»Sein Sohn erbt den Titel, das Londoner Haus und den Landsitz. Beide müssen instand gesetzt werden.« Sir Matthew zuckte mit den Schultern. »An diesen Vermächtnissen ließ sich nichts ändern, befürchte ich. Die Pferde gehören ihm, denn sie stammen aus dem Nachlass seiner verstorbenen Mutter.«
»Aber nicht die Sammlung?« Sie war eine unerhört hohe Summe wert.
»Nicht die Sammlung«, bestätigte Sir Matthew. »Als er sicher war, dass sein Ende nahte, erwähnte der verstorbene Lord Lydney mir gegenüber in einem Brief und in Schriftsätzen, dass er Ihnen die Verfügungsgewalt über seine Kunstwerke überlassen wollte. Denn als Tochter Ihres Vaters kennen Sie die Pflege und Bedeutung eines jeden Stückes und verfügen außerdem über genügend Urteilskraft und Erfahrung, um zu entscheiden, wo die Sammlung schließlich untergebracht werden soll.«
Nein, ich will diese Verantwortung nicht übernehmen. »Was waren die Wünsche des verstorbenen Lord Lydney?«
Sir Matthew lächelte. »Er sagte mir, dass Sie zustimmen würden, und er hat recht behalten wie immer. Sein Sohn scheint kein Interesse an Kunst zu haben, außer am Verkauf der Gegenstände, damit er Pferde kaufen kann, für Sport und Spiel natürlich.«
Bei dieser Bemerkung blickte ich auf. »Sind denn Gegenstände verkauft worden?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich weiß noch nicht einmal, aus welcher Quelle er ein Einkommen bezieht.«
Ich antwortete mit einem Kopfnicken, weil ich nicht wusste, was ich davon halten sollte. Noch vor einem Jahr hätte ich Harrys Vertrauenswürdigkeit und Ehre verteidigt. Aber jetzt? Jetzt war ich mir nicht mehr sicher.
Das Sommerhaus lag auf halbem Weg zwischen dem Herrenhaus und den Stallungen, gut versteckt auf dem Anwesen. Jetzt vor dem Beginn des Winters wirkte der Garten leer und verlassen und es gab nur wenig zu sehen im Inneren des wunderschönen, aus buttergelbem Stein errichteten Gartentempels mit seinen hohen, bis zum Boden reichenden Fenstern und den römischen Säulen, die das Dach stützten.
Ich öffnete die Tür und der Wind blies bunte Blätter vor mir her. Manche von ihnen hatten die Form von rubinroten und bernsteinfarbenen Händen. Sie waren noch biegsam, weil sie gerade erst von den Bäumen gefallen waren. Ein paar von ihnen waren schon braun und trocken wie Pergament, geringelt wie die Locken einer Dame um ein Lockeneisen. Ich ging zu den Steinbänken, die sich mitten im Raum gegenüberstanden und umringt waren von zurückgelassenen Garten-Statuen mit Rissen an den Stirnen oder von einer dünnen Moosschicht bedeckt.
In meinen jüngeren Jahren, als mein Vater in Watchfield übernachtet hatte, um sich dort um die Sammlung von Lord Lydney zu kümmern oder einen Kauf zu planen, hatte er mich immer mitgenommen.
Wenn Harry dann nicht in der Schule oder an der Universität war, ritten wir oft zusammen aus. Oder ich half zuerst meinem Vater und dann trafen wir beide uns im Sommerhaus, weit weg von lauernden Blicken und lauschenden Ohren. Dort redeten wir, spielten Karten und taten so, als wären wir bloß gute Freunde und hätten sonst kein Interesse aneinander.
Bis wir uns natürlich das Gegenteil eingestehen mussten.
Im Sommerhaus war es dunkel und kühl. Ich fröstelte und bereute es, hierhergekommen zu sein. Ich blies die Lampe aus, damit uns niemand bemerken konnte. Kurz darauf hörte ich Schritte auf dem Kies und ein leises Knirschen, als sich die Tür öffnete. Eine Gestalt erschien in der dunklen Türöffnung.
Dann stand er vor mir. Harry. Er warf einen Blick auf die Bank, auf der ich saß. Neben mir war gerade so viel Platz, dass wir eng zusammensitzen konnten. Ich rutschte in die Mitte und breitete die Röcke meines Kleides um mich herum aus, damit er sich nicht neben mich quetschen konnte. Also nahm er mir gegenüber Platz.
»Ich bin pünktlich.« Er strahlte mich an mit jenem Lächeln, das zur einen Hälfte wie das eines Piraten und zur anderen Hälfte wie das eines Gutsherrn wirkte. Ich hoffte, dass ich äußerlich nicht so wacklig und unsicher wirkte, wie ich es innerlich war. Die Luft zwischen uns schien aufgeladen zu sein wie bei einem Gewitter.
»Es macht mir Mut zu wissen, dass eine Besserung für jeden Menschen möglich ist.« Ich bemühte mich, meine Stimme ruhig klingen zu lassen.
Er lachte laut auf. Um seine Augen herum erschienen kleine Fältchen, die ich vorher noch nicht bemerkt hatte. Obwohl er so attraktiv aussah wie immer, schien sein Gesicht härtere und ernstere Züge angenommen zu haben. »Ellie. Du hast mir so sehr gefehlt«, sagte er und neigte sich zu mir hin.
Ich senkte den Kopf und hielt meine Tränen zurück. »Das konnte ich nicht wissen.«
»Bitte, bitte, sieh mich an.« Seine Stimme klang sanft. Ich blickte auf und er sprach weiter. »Ich bin gerade erst zurückgekehrt mit den sterblichen Überresten meines Vaters. Deshalb konnte ich dich nicht früher erreichen. Und als ich weg war, habe ich geschrieben.«
Ich konnte von dem Mann keine Rechenschaft fordern, auch nicht für die Zeit seiner Abwesenheit. Wir waren nicht verlobt. Wir hatten uns noch nicht einmal ein mündliches Eheversprechen gegeben. Vielleicht war unsere Liebe so, wie Julia es im Drama von Shakespeare ausgedrückt hatte - zu sehr wie der Blitz, der schon verschwunden ist, bevor man sagen kann: »Es blitzt.« Aber er hatte mir diesen Ring und einen Kuss gegeben und wir beide wussten, was das bedeutete.
»Ellie
« Er griff in die Tasche seines Jacketts und holte eine Schachtel heraus. »Ich habe dir ein Geschenk aus Venedig mitgebracht. Darf ich es dir geben?«
Ich holte tief Luft, aber ich schwieg.
»Ich erwarte nichts als Gegenleistung von dir«, ergänzte er. »Ich habe bloß an dich gedacht, als ich es gesehen habe. Da wusste ich, dass du es haben musst.«
Ich nickte zustimmend. »Wenigstens als Erinnerung an vergangene Zeiten.«
Er zuckte zusammen und ich unterdrückte meinen Wunsch, ihn zu trösten. Nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war. Er reichte mir die Schachtel. »Machst du sie auf?«
Ich hob den samtenen Deckel an und zog den Gegenstand heraus. An einer Messingkette hing ein ovaler Anhänger aus antikem Messing, rundherum verziert mit filigranen Schlaufen. Und dann, in der Mitte des Anhängers, grüner Samt und darauf
»Ein Senfkorn!«, rief ich laut.
Er nickte lächelnd. »Unter Glas natürlich. Beides hat mich an dich erinnert: der Same des Glaubens und das Glas.«
Ich starrte auf den Anhänger, nicht weil ich ihn weiter untersuchen wollte, sondern weil ich meine Gedanken und Gefühle zusammennehmen musste.
»Danke, Harry. Das ist sehr aufmerksam von dir.«
Aber ich legte das Schmuckstück nicht an.
Harry wartete einen Augenblick. Dann stand er auf und reichte mir seine Hand, um mir beim Aufstehen von der Steinbank zu helfen
Er legte galant meinen Arm durch seine Armbeuge. Ich ließ diese zuvorkommende Geste zu, weil ich nicht unhöflich sein wollte. Und trotzdem
die vielversprechende Verheißung der Vergangenheit und die Leere der vor uns liegenden Zukunft umschlang unsere Arme wie die skelettartigen Zweige der Glyzinie, die sich um das Sommerhaus schlangen.
»Darf ich dich in London aufsuchen?«, fragte er.
»Das kann ich nicht sagen«, antwortete ich. Sollte ich seinen Besuch zulassen? Wenn ich ihn nicht sehen konnte, wie konnte ich dann beurteilen, ob er jetzt würdig war, die Kunstsammlung seines Vaters zu bekommen? Aber wenn wir uns begegnen sollten, würde ich mich dann von meiner früheren Zuneigung für diesen Mann beeinflussen lassen?
Das konnte ich nicht zulassen.