Ihre Gesichter waren genauso bleich wie die Kreidefelsen am Ufer, das hinter ihnen lag. Die Blässe betonte noch mehr, wie der Hunger ihre Gesichter gezeichnet hatte.
Die Columbia-Missionsgesellschaft hatte vor Antritt der Reise jeder Frau zwei Pence gegeben, um in einem öffentlichen Badehaus in der Nähe des Büros zu baden und sich die Haare zu waschen. Doch das Wasser hatte nur den Schmutz verschwinden lassen können, nicht all die Jahre in den ärmsten Teilen Londons.
Mercy war zuvor nur ein einziges Mal in einem Badehaus gewesen. Das Erlebnis, ihren ganzen Körper in eine Wanne zu tauchen - auch wenn das Wasser lauwarm und trüb gewesen war, da mehrere Frauen vor ihr an der Reihe gewesen waren -, war der reinste Luxus gewesen.
Sie staunte immer noch über die schöne Kleidung, die man ihr gegeben hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas so Gutes besessen. Der dunkelblaue Baumwollrock war zwar am Saum etwas abgenutzt, aber er war dick, widerstandsfähig und, was am allerbesten war, er hatte keine Flecken oder Löcher. Die Bluse hatte die gleiche Farbe und vorne eine schöne Knopfleiste.
Mercy strich mit der Hand über die langen Ärmel und genoss den weichen, fast seidigen Stoff. Auch für das saubere Unterhemd und die lange Unterhose war sie mehr als dankbar. Beides war zwar nicht mehr in einem ganz so guten Zustand wie die anderen Kleidungsstücke, aber immer noch weißer und sauberer als alles, was sie je zuvor getragen hatte.
»Sind wir bald da?«, fragte Sarah und drückte ihr Gesicht an Mercys Arm.
»Es dauert noch ein bisschen.« Mercy warf einen Blick auf das Schiff, das irgendwie nicht näherzukommen schien. Eine schöne Galionsfigur zierte das Bugspriet und ein Schornstein ragte neben mehreren Masten in die Luft.
Einer der Männer, die das Beiboot ruderten, hatte erklärt, dass das Schiff eine lange Propellerschraube hatte, die mit Dampf angetrieben wurde. Streckenweise brauchte die Tynemouth die Propellerschraube und die Dampfmaschine, um vorwärtszukommen, aber wenn der Wind stark genug war, reichte die Kraft der Segel aus.
Dieses Schiff würde also in den nächsten drei bis vier Monaten ihr Zuhause sein. Der Eisenbahnwaggon war schon ungewohnt genug gewesen, die Geschwindigkeit des Zugs hatte Mercy ein wenig beunruhigt, und dazu der Lärm, das Ruckeln und die Aufregung. Aber der Anblick dieses riesigen Dampfers verschlug ihr die Sprache und machte ihr erst richtig bewusst, dass sie England tatsächlich verlassen und vielleicht nie zurückkommen würde. Sie würde um die halbe Welt in ein fremdes Land segeln, wo sie niemanden kannte.
Ihr Blick wanderte an den Frauen im Beiboot vorbei, zurück zu dem Land, das sie verließ. Blumenwiesen und Wälder breiteten sich in den schönsten Farbtönen auf den Hügeln über der Stadt aus, der blaue Himmel schien endlos weit.
Das Bild, das sich ihr bot, war so anders als alles, was sie bisher gekannt hatte. Sie könnte dieses Panorama stundenlang betrachten, ohne sich jemals daran sattsehen zu können. Auch gestern hatte sie während der gesamten Zugfahrt wie gebannt aus dem Fenster geschaut. Die vorbeiziehende Landschaft, die kleinen Städte, die Wiesen und Felder und die üppige Vegetation hatten in ihr eine starke Sehnsucht geweckt - danach, barfuß übers Gras zu laufen, die saubere Luft einzuatmen und zwischen den hohen Bäumen spazieren zu gehen.
Das Land war so groß! Warum mussten dann in London so viele Menschen auf viel zu engem Raum zusammenleben, in Häusern, die so dicht nebeneinanderstanden, dass man den Himmel kaum sehen konnte? Wa-rum gab es in diesem reichen Land so viele Arme, die nicht genug zu essen, keine Arbeit und keine Hoffnung hatten? Es gab doch so viel Schönheit auf der Welt! Warum konnte Gott sie nicht so verteilen, dass jeder etwas davon hatte, statt sie nur wenige privilegierte Menschen genießen zu lassen?
Diese Fragen hatten sie schier erdrückt, je weiter sie London hinter sich zurückgelassen hatte. Es war, als hätte sie ihr ganzes Leben eingeengt in einer winzigen Ecke festgesessen, die ihre Existenz definiert hatte - und das, ohne dass sie gewusst hatte, welche große Welt außerhalb davon auf sie wartete. Wenn sie nur früher auf die Idee gekommen wäre, sich aus ihrer kleinen Welt hinauszuwagen! Doch auch wenn sie sich das wünschte, war ihr nach wie vor bewusst, wie schwer es für arme Frauen wie sie war, ein neues Leben anzufangen. Ohne die Hilfe der Columbia-Missionsgesellschaft hätte sie sich nie eine Zugfahrkarte leisten können. Und selbst wenn sie beschlossen hätte, zu Fuß bis aufs Land zu wandern, wurden Bettler, Vagabunden, Landstreicher und alle, die nicht dazugehörten, sofort vertrieben oder ins Gefängnis gesperrt.
»Wie soll ich es monatelang auf dem Meer aushalten, wenn ich es nicht einmal eine Stunde schaffe?«, fragte Sarah stöhnend.
»Du wirst dich daran gewöhnen«, versicherte Mercy ihr und betete, dass sie damit recht behalten würde.
Sarah wollte noch etwas sagen, doch dann hielt sie schnell den Kopf über den Bootsrand und fütterte mit dem Frühstück, das sie in ihrem Gasthaus bekommen hatten, die Fische.
Sie alle hatten das Essen gierig verschlungen: frisches Brot, Eier, Speck, Wurst und Kaffee - echten Kaffee! Und jetzt konnte Sarah die Nahrung, die ihr Körper so dringend bräuchte, nicht bei sich behalten.
Während der restlichen Fahrt zum Schiff rieb Mercy sanft Sarahs Rücken, hielt ihre Haare zurück, als sie sich noch ein weiteres Mal übergab, und streichelte ihr die Wange.
Sarah und einige andere in ihrer Gruppe waren nicht älter als fünfzehn. Sie waren aus dem Waisenhaus St. Margaret geholt worden. Die Mädchen hatten ihr erzählt, dass sie zu alt waren, um noch länger dort wohnen zu können. Die bevorstehende Seereise bewahrte sie vor einem Leben auf der Straße.
Als das Beiboot neben dem Schiff anlegte, stellte Mercy fest, dass der Dampfer aus der Nähe sehr mitgenommen aussah. Offenbar war er in seinem kurzen Leben zu oft an seine Grenzen gebracht worden. Der frische Farbanstrich konnte die Kratzer und Schrammen nicht verbergen und der größte Teil des Schiffsrumpfs war vom Kohlenruß ganz schwarz.
Als der Landesteg herabgelassen wurde und sie aufs Hauptdeck stiegen, stützte Mercy Sarah.
»Meine Damen, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit.« Eine großgewachsene Frau, die so dünn und flach war wie ein Brett, trat auf die Neuankömmlinge zu. Sie war nicht alt, aber ihre nach unten gezogenen Mundwinkel und die vortretenden Adern an ihren Schläfen verrieten, dass sie nicht unbedingt ein leichtes Leben hatte. »Ich bin Mrs Robb«, erklärte sie. »Ich habe während der Fahrt die Aufsicht über Sie.«
Mercy hätte sich denken können, dass die Columbia-Missionsgesellschaft nicht sechzig Frauen ohne eine Aufpasserin auf die Reise schickte. Es musste ja jemand für Ordnung sorgen.
»Nehmen Sie Ihre Sachen und folgen Sie mir.«
»Unsere Sachen?«, schnaubte Ann, ein weiteres Mädchen aus dem Waisenhaus, als Mrs Robb bereits außer Hörweite war. »Für wen hält sie uns denn? Für Königliche Hoheiten?«
Einige kicherten. Alle folgten Mrs Robb mit leeren Händen; sie gingen mit nichts als der Kleidung, die sie am Leib trugen, in ihr neues Leben.
Mercy war überrascht, als sie an einer Kuh in einem improvisierten Stall sowie an mehreren Schweinen und Hühnerkäfigen vorbeikamen. Barfüßige Matrosen, die Segel flickten und das Deck schrubbten, unterbrachen ihre Arbeit und blickten den Frauen nach. Mrs Robb führte sie eilig weiter.
»So, da wären wir«, sagte sie schließlich und blieb neben dem Schornstein stehen. Sie deutete zu einer Kabinenreihe direkt dahinter. »Sie dürfen sich gesegnet schätzen, dass Sie für die Dauer der Überfahrt nicht zusammen mit den anderen ärmeren Passagieren auf dem Zwischendeck hausen müssen. Die Columbia-Missionsgesellschaft hat Geld gesammelt, damit Sie eigene Kabinen haben.«
Mercy ahnte, wie die Bedingungen auf dem Zwischendeck waren - wahrscheinlich war es dort dunkel, überfüllt und stickig, ähnlich wie sie es aus dem Armenviertel gewohnt waren. Obwohl es sie immer noch schmerzte, dass sie Patience und ihre Familie nicht so schnell wiedersehen würde, begriff sie immer mehr, welche große Chance diese Reise bedeutete.
»Sie teilen sich je zu sechst eine Kabine«, erklärte Mrs Robb. »Wenn Sie sich zusammengefunden haben, wohnen Sie für die Dauer der Überfahrt in diesen Konstellationen.«
Mrs Robb wartete, bis alle Frauen Grüppchen gebildet hatten und wieder Ruhe einkehrte. »Es ist wichtig, dass Sie sich während der gesamten Reise streng an die Regeln der Columbia-Missionsgesellschaft halten. Die wichtigste: Es ist Ihnen verboten, zu anderen Passagieren Kontakt aufzunehmen, vor allem zu den Männern.«
Unzufriedenes Gemurmel erhob sich.
Mercy störte diese Regel nicht. Sie hatte nicht den Wunsch, jetzt oder in Zukunft irgendwelche Männer kennenzulernen. Sie sah keinen Sinn darin, da sie ja sowieso nicht die Absicht hatte, je zu heiraten. Soweit sie es beurteilen konnte, brachte die Ehe nur Streit, Untreue und Babys.
Es gab zu viele verzweifelte Frauen, die den erstbesten Mann heirateten, der ihnen seine Aufmerksamkeit schenkte, weil sie glaubten, die Ehe würde sie retten. Auch etliche von Mercys Freundinnen waren einem solchen Denken zum Opfer gefallen. Eine nach der anderen hatte einen Mann aus der Nachbarschaft geheiratet. Aber statt glücklicher zu werden, hatten ihre Freundinnen jetzt nur noch mehr Probleme, besonders wenn sie Kinder bekamen, die dann an Hunger oder Krankheiten starben. Mercy hatte bislang wirklich nicht viele gute Ehen gesehen.
Aber vermutlich hofften die meisten Frauen, die an Bord der Tynemouth waren, eines Tages einen guten Ehemann zu finden.
Mrs Robb ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen. »Wenn wir in der Kolonie ankommen, werden mindestens tausend junge Männer sehnsüchtig Ihre Ankunft erwarten. Sie werden von Verehrern umringt werden und sich vor Heiratsanträgen kaum retten können.«
Diese Bemerkung löste ein aufgeregtes Kichern aus, in das Mercy nicht einstimmte. Sie wand sich innerlich bei der Vorstellung, es könnte wirklich so kommen, und betete, dass Mrs Robb übertrieb.
Die große Frau blickte jedoch genauso ernst wie ein Totengräber. »Sie verstehen hoffentlich, wie wichtig es ist, dass Ihr Ruf und Ihre Tugend in den langen Wochen auf See keinen Schaden nehmen. Sie wollen bestimmt nicht, dass auch nur der geringste Verdacht auf ein unmoralisches Verhalten einer Ehe im Weg steht. Deshalb müssen Sie sich von den Männern an Bord unbedingt fernhalten. Haben Sie verstanden?«
Die Frauen konnten ihre Aufregung kaum zügeln. Mercy konnte diese Begeisterung absolut nicht teilen.
»Ich habe gefragt, ob Sie mich verstanden haben!«, übertönte Mrs Robbs scharfe Stimme das Tuscheln.
»Ja!«, antwortete Mercy mit den anderen Frauen im Chor.
Mrs Robb würde bald merken, dass sie sich bei Mercy Wilkins in dieser Hinsicht keine Sorgen machen musste. Absolut keine Sorgen.