Die erfolgreiche Restaurantbesitzerin Whitney steht völlig unerwartet vor dem Ruin. Da kommt es ihr gerade recht, dass sie von ihrer Mutter ein altes Hotel am Atlantik gererbt hat. Vielleicht lässt es sich ja noch zu Geld machen? Doch ihre Sondierungsreise nach Roanoke Island stellt Whitney vor ungeahnte Schwierigkeiten: Sie muss sich nicht nur mit ihrem Stiefvater auseinandersetzen, der für sie lange ein Fremder war, sondern auch noch mit Mark, der in dem historischen Gebäude einen Surfshop betreibt und von ihren Plänen alles andere als begeistert ist. Außerdem hält das alte Gemäuer für Whitney die eine oder andere rätselhafte Entdeckung bereit.
Während sie die Schätze sichtet, die das Hotel birgt, beginnt für sie eine Reise zu ungeahnten Familiengeheimnissen ...
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Kapitel 1
Vielleicht ist das Nicht-wahrhaben-Wollen ein Schutzmechanismus, um das Herz vor einem Tiefschlag abzuschirmen, den es nicht verkraftet. Vielleicht ist es aber auch viel banaler. Vielleicht ist das Verleugnen auch einfach nur ein Nebenprodukt von Eigensinn, der etwas trotz erdrückender Beweise nicht wahrhaben will.
Ich kann nicht sagen, welche Erklärung in meinem Fall zutraf, als ich jetzt im Türrahmen stand, eine zitternde Hand auf dem Türgriff und in der anderen die Schlüssel, aber ich konnte nur eines denken: Das darf nicht wahr sein! So kann es doch nicht enden! Alles ist so … still. Wenn ein Traum stirbt, sollte man das wenigstens hören. Es steht ihm zu, in einem theatralischen Ruhmesfeuer zu erlöschen.
Es sollte eine dramatische Sterbeszene geben, ein ächzendes Ringen nach Luft. Irgendetwas.
Denise legte eine Hand auf meine Schulter und flüsterte: „Geht es dir gut?“ Ihre Stimme wurde beim letzten Wort ganz leise und klang gebrochen.
„Nein.“ Ein verzerrter, bitterer Ton verschärfte die Härte des Wortes. Meine Bitterkeit war nicht gegen Denise gerichtet, das wusste sie. „Hier ist überhaupt nichts gut. Absolut gar nichts!“
„Das stimmt.“ Sie lehnte die Schulter an den Türrahmen und legte den Kopf so an die Seite, dass ihre Wange das Holz berührte. „Aber ich bin nicht sicher, ob es die Sache besser oder schlimmer macht, wenn wir hier stehen und es uns ansehen. Zum endgültig letzten Mal.“
„Wir haben so viel Energie in dieses Projekt gesteckt.“ Das Leugnen meldete sich erneut, so unvernünftig es auch war. Ich hätte es gerne Hoffnung genannt, aber falls dieses Gefühl Hoffnung war, dann nur eine falsche, hauchdünne Hoffnung. Eine Hoffnung, die einen nur verhöhnt.
Die Haare von Denise fielen wie ein heller, seidiger Vorhang über ihre Schultern und bildeten einen auffallenden Kontrast zu meinen Haaren. Wir waren zwar Cousinen, aber wir waren schon immer sehr verschieden gewesen: Denise war rotblond, hell und hatte Sommersprossen, ich war dunkelhaarig, blauäugig und hatte einen olivfarbenen Teint. Denise war häuslich und ich war ständig auf Wanderschaft.
„Whitney, wir müssen es aufgeben. Sonst verlieren wir am Ende beide Restaurants.“
„Ich weiß. Ich weiß, dass du recht hast.“ Trotzdem rebellierte etwas in mir. Alles in mir rebellierte. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, schon wieder in die Enge getrieben zu werden. „Ich verstehe, dass du nur vernünftig bist. Außerdem musst du an Mattie denken. Und an deine Großmutter. Wir müssen den Schaden begrenzen, solange wir das erste Restaurant behalten können.“
„Es tut mir leid“, flüsterte Denise traurig. Da es Menschen gab, die von ihr abhängig waren, konnte sie kein weiteres Risiko eingehen. Wir waren in diesem Kleinkrieg, in dem ein unfairer Angriff auf den anderen folgte, schon viel zu weit gegangen. Wir kämpften gegen korrupte Bezirksbeamte, Baubehörden, die sich schmieren ließen, verlogene Baufirmen und einen Feuerwehrhauptmann, der für seine Vetternwirtschaft bekannt war. Sie alle steckten mit einheimischen Geschäftsbetreibern unter einer Decke, die in diesem Kaff keine Konkurrenz zulassen wollten.
Denise und ich hätten uns die Umgebung genauer ansehen sollen, bevor wir uns in das Fabrikgebäude mit seinem rustikalen Charme verliebt und beschlossen hatten, dass es ideal wäre, um hier ein zweites Bella Tazza und unser erstes richtig vornehmes Restaurant zu eröffnen. Das Bella Tazza 2 lag an einer stark befahrenen Durchgangsstraße, die viele Touristen in Richtung Norden benutzten, um dort ihren Skiurlaub oder ihren Sommerurlaub auf der Oberen Halbinsel von Michigan zu verbringen. Mit seinem hohen, beleuchteten Kornspeicherturm lud es die Autofahrer zur Rast ein.
Aber in den vergangenen elf Monaten hatten wir öfter geschlossen als geöffnet gehabt. Jedes Mal, wenn wir dachten, wir hätten den Kampf gewonnen und könnten unsere Gaststättenlizenz behalten, flatterte ein neuer Bescheid mit kostenintensiven Auflagen ins Haus und wir mussten vorübergehend schließen, bis wir die Auflagen erfüllten. Dann taten die Handwerker und die Baufirmen das Ihrige, um alles hinauszuzögern und die Kosten noch weiter in die Höhe zu treiben.
Du bist hier nicht diejenige, die sich entschuldigen muss, wollte ich zu Denise sagen, aber ich tat es nicht. Stattdessen sank ich auf eine Bank und betrachtete die Wandbemalung, die Denise und ich nach langen Arbeitstagen im Bella Tazza 1 im Nachbarbezirk hier angebracht hatten.
Mir wurde wieder übel.
„Sobald wir den Mietvertrag kündigen müssen, werden sie wie Geier über dieses Gebäude herfallen.“ Denise sprach aus, was ich dachte. Sie war zwar meine Cousine, aber eigentlich war sie eher wie eine große Schwester für mich. „Diese Aasgeier!“
„Ja, das ist das Schlimmste dabei.“ Aber das stimmte nicht. Das Schlimmste war, dass es meine Schuld war. Ich war dafür verantwortlich, dass wir so weit gegangen waren, um das Tazza 2 unbedingt zu behalten. Denise hätte sich Tagg Harper und seinen Handlangern schon längst ergeben. Denise wäre kein Risiko eingegangen.
Aber selbst jetzt konnte ich immer noch nicht akzeptieren, was passierte, obwohl wir schon alle Lebensmittel ins andere Restaurant verfrachtet und die Geräte und Einrichtungsgegenstände, die wir verkaufen konnten, aufgelistet hatten. Irgendwie war es Tagg und seinen Gefolgsleuten gelungen, dass sich der Termin für die Lizenzverhandlung beim Bezirksgericht um einen weiteren Monat hinauszögerte. So lange konnten wir aber nicht durchhalten, wenn das Tazza 2 geschlossen war, da wir trotzdem die monatlichen Rechnungen zahlen mussten. Das bedeutete das Ende, wenigstens für das Tazza 2. Wenn wir nicht aufpassten, würden wir dabei auch noch das Tazza 1 verlieren und die Angestellten, die wir noch hatten, stünden auf der Straße.
„Komm, gehen wir.“ Denise betätigte den Lichtschalter und tauchte das, wofür wir mit Blut, Schweiß und Tränen gekämpft hatten, in dunkle Schatten. „Ich kann es nicht mehr sehen.“
Das Einschnappen des Türriegels verkündete eine unmissverständliche Endgültigkeit, aber mein Verstand arbeitete auf Hochtouren und mein Herz suchte immer noch nach einem Schlupfloch. Es wünschte sich, obwohl es längst fünf vor zwölf war, dass ein strahlender Held angeritten käme und uns vor dem Feind retten würde.
Doch statt des Schimmels eines rettenden Märchenprinzen stand nur Tagg Harpers Geländewagen ein Stück unterhalb unseres Parkplatzes am Straßenrand. Dieser widerliche Kerl! Wahrscheinlich kratzte er sich genüsslich den Bauch, trank ein Bier und grinste triumphierend.
„Oh, ich hasse diesen Mann!“ Denise knirschte mit den Zähnen. „Am liebsten würde ich …“
Ich konnte nicht anders und ging einen Schritt in Taggs Richtung.
„Whitney, lass die Finger von ihm. Dieser Mann ist zu allem fähig.“
Meine Verzweiflung verwandelte sich in einen fieberhaften Ärger. Ich hatte noch nie einen Menschen so gehasst wie Tagg Harper.
Denise hielt mich schnell an der Jacke fest. „Gönn ihm nicht noch mehr Genugtuung. Es ist schon schlimm genug, dass er unsere Geräte auf eBay sehen wird, sobald wir sie zum Verkauf anbieten. So ein abscheulicher Kerl! Gegen ehrliche Konkurrenz durch sein Restaurant hätte ich nichts einzuwenden, aber das …“
„Ich würde einfach gerne zu ihm hinübergehen und ihm einen kräftigen Tritt in seinen fetten Bauch verpassen.“ Nach den ständigen Kämpfen der letzten Monate dachte ich daran, Auffrischungskurse in der Kampfsportart Tang Soo Do zu belegen – ein Hobby, dass ich vor zwanzig Jahren aufgegeben hatte, seit ich nicht mehr von Halbstarken an der Schule belästigt wurde. Ich hatte Denise nichts davon erzählt, aber jemand schlich seit einigen Tagen nachts um meine Hütte herum.
Wie üblich konzentrierte sich meine Cousine auf das Praktische, darauf, den Schaden zu begrenzen. „Wir müssen versuchen, finanziell mit heiler Haut aus der Sache herauszukommen und das erste Restaurant über Wasser zu halten.“
„Ich weiß.“ Das Problem war, dass ich im Kopf schon alles zusammengerechnet hatte, als wir unsere Versteigerungsliste im Gebäude erstellt hatten. Was wir für die Geräte und das Material bekämen, würde nicht einmal für die Abschlussrechnung der Stadtwerke reichen, geschweige denn für die Anwaltskosten und die Verwaltungsgebühren, die sich angesammelt hatten. Aufgrund der schlechten Wirtschaftslage und da es nötig war, so viele Angestellte des Tazza 2 wie möglich im anderen Restaurant unterzubringen, war ich nicht einmal sicher, ob wir am Monatsende ihr Gehalt zahlen könnten. Aber wir mussten es zahlen. Unsere Angestellten rechneten damit. Sie hatten auch Rechnungen, die sie bezahlen mussten.
Meine Schuldgefühle, die sich Stein für Stein anhäuften, wurden immer schwerer, während wir über den Parkplatz zu unseren Autos gingen. Wenn ich vor fünf Jahren nicht nach Michigan zurückgekehrt wäre und Denise nicht überredet hätte, mit mir ein Restaurant zu eröffnen, hätte sie immer noch eine sichere Stelle als Lehrerin. Aber ich hatte einen großen Gewinn eingefahren, nachdem ich eine Stelle im gehobenen Management gekündigt, ein eigenes Bistro in Dallas eröffnet, es erfolgreich betrieben und dann mit gutem Gewinn wieder verkauft hatte. Mit vierhunderttausend Dollar in der Tasche war ich so sicher gewesen, dass ich die perfekte Erfolgsformel gefunden hätte. Ich hatte mir eingeredet, ich würde meiner Cousine etwas Gutes tun, weil ich ihr den ständigen Kampf ersparte, allein ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, sich um ihre betagte Großmutter zu kümmern und mit ihrem Lehrerinnengehalt für Matties Asthmabehandlung aufzukommen.
Denise hatte vermutlich gehofft, ein gemeinsames Geschäft zu eröffnen würde irgendwie meine innere Unruhe stillen, die mich von der Kochschule in die entferntesten Winkel der Welt geführt hatte, wo ich für eine internationale Restaurantkette erstklassige Küchen eröffnet hatte.
„Wir sehen uns dann morgen früh, Whitney.“ Sie umarmte mich kurz von der Seite, stieg in ihr Auto, ließ den Motor an und fuhr mit laut knirschenden Reifen über die vereisten Stellen, die der Polarwirbel-Winter zurückgelassen hatte. Statt die Auffahrt hinabzurollen, blieb sie an der Kurve in der Nähe von Taggs Geländewagen stehen. Ich merkte, dass sie mich durch die Abgaswolke hindurch im Auge behielt und wartete, bis ich sicher auf der Straße angekommen wäre, ohne mich auf eine Konfrontation einzulassen.
Es war so typisch für Denise, dass sie sich um mich kümmerte. Seit sie vor vielen Jahren regelmäßig nach der Schule auf mich aufgepasst hatte, versuchte sie immer noch, mich zu beschützen. Genauso wie der Rest von Mamas Familie hatte sie sich Sorgen gemacht, ich käme mit dem Tod meines Vaters nicht zurecht und Mama hätte einen Fehler gemacht, weil sie mich dem Einfluss meiner Großmutter auf dem weit entfernt liegenden Roanoke Island ausgesetzt hatte. Es war kein Geheimnis gewesen, dass Ziltha Benoit meine Mutter für den viel zu frühen Tod ihres Sohnes verantwortlich gemacht hatte.
Denise hatte, ohne es von mir erklärt zu bekommen, verstanden, was ich meiner Mutter nie hatte sagen können. Und auch sonst niemandem: Während meiner ganzen Kindheit hatte mich das schmerzhafte Gefühl, nicht dazuzugehören, gequält. Das Gefühl, nie gut genug sein zu können und in der exklusiven Privatschule auf der anderen Seite der Stadt verspottet zu werden, wo ich dank Mamas Stelle als Musiklehrerin kostenlos zur Schule gegangen war. Das unangenehme Gefühl und die Unsicherheit, weil ich nicht zu den reichen Kindern passte, die dort die Schule besuchten, obwohl mein Nachname Benoit war. Denise war immer meine Oase gewesen. Freundlich und mit weisem Rat hatte sie mich immer wieder aufgerichtet. Sie war die große Schwester, die ich nie gehabt hatte.
Als ich jetzt auf dem Weg zur Straße an ihrem Auto vorbeifuhr, konnte ich sie nicht einmal anschauen. Ich raste einfach die Auffahrt mit den vereisten Fahrrillen und Schlaglöchern hinab, bog auf die Straße und wollte nur noch nach Hause. Mit einem kurzen Blick in den Rückspiegel vergewisserte ich mich, dass Denise den Parkplatz auch wohlbehalten verlassen hatte.
Tagg Harpers Rücklichter leuchteten auf, sobald Denises Auto auf die Straße bog. Meine Wut nahm Orkanstärke an. Bevor ich richtig wusste, was überhaupt geschah, wendete ich auf der Straße. Als ich wieder vor dem Restaurant ankam, stellte sich Tagg gerade mit seinem Geländewagen mitten auf den Parkplatz. Auf unseren Parkplatz. In diesem Moment ging die Fahrertür auf.
Ich fuhr einen Bogen und blieb so nahe neben ihm stehen, dass er nicht aussteigen konnte. Kalte Luft strömte durch mein Fenster herein. Sie hatte eine schnelle, starke, abkühlende Wirkung.
„Wenn Sie auch nur einen Fuß auf diesen Parkplatz setzen, Tagg Harper, rufe ich die Polizei!“ Natürlich wurde der Sheriff dieses Bezirks auch von Tagg geschmiert. Taggs unappetitlicher Pizzaladen war der Treffpunkt, wo alle Männer der Stadt ihre Kaffeepause einlegten – wenn sie wussten, was gut für sie war.
Er ließ das Fenster nach unten, legte seinen dicken Arm auf den Rahmen und zog die Tür ein wenig zurück, deren Scharniere quietschten. „Das ist ein öffentlicher Parkplatz.“ Er bewegte seinen Zeigefinger träge durch die Luft. „Ich habe gerade ein Klappern in meinem Motor gehört und wollte kurz unter die Motorhaube schauen.“
„Na klar!“ Natürlich würde er nicht zugeben, dass er sich dieses Gebäude unter den Nagel reißen wollte. Wahrscheinlich befürchtete er, dass ich mit dem Handy unser Gespräch aufnehmen und versuchen könnte, Beweise dafür zu sammeln, dass er uns bedrohte, dass er Beamte und Handwerker bestach und uns ständig schikanierte. Deshalb lächelte er mich jetzt wie ein ahnungsloser Einfalts- pinsel an.
„Das ist immer noch unser Parkplatz. Wir behalten uns das Recht vor, jeden, den wir nicht bedienen wollen, wegzuschicken. Sie sind hier nicht erwünscht.“ Weiche jetzt nicht zurück! Dieses Mal nicht! Lass dich von ihm nicht unterkriegen! Ich krampfte die Hände um das Lenkrad und schluckte schwer.
„Habe gehört, dass ihr bald auszieht, um Miete zu sparen.“ Sein Atem bildete Dampfwolken in der kalten Luft. Mir stieg sein abstoßender Biergeruch in die Nase. „Es ist teuer, ein Gebäude grundlos zu behalten.“
„Dann haben Sie falsch gehört. Wir haben in sechs Wochen eine Verhandlung vor dem Bezirksgericht, und da wir jetzt genügend Vorbereitungszeit haben, werden wir die Lizenz sicher bekommen.“
Sein Kinn zog sich in gerötete Doppelfalten zurück, bevor er sich mit einem selbstgefälligen Lächeln auf seinem Autositz zurücklehnte. Er durchschaute mich sofort und merkte, dass ich nur bluffte. „Es wäre wirklich schade, wenn ihr euch noch tiefer hineinreitet. Ihr müsst ja auch noch an euer anderes Geschäft denken.“
Was sollte das jetzt heißen? Das Bella Tazza 1 befand sich nicht in diesem Bezirk. Diesem Restaurant konnte Tagg nichts anhaben, abgesehen von den negativen Bewertungen über unser Essen, die er und seine Kumpane bereits ins Netz stellten.
Aber er führte noch etwas anderes im Schilde. Das sah ich ihm an. Seine Zunge schnalzte heraus und benetzte seine Lippen. Dann besaß er auch noch die Frechheit, den Blick genüsslich über das Gebäude schweifen zu lassen, bevor er ihn wieder auf mich richtete. „Dann warte ich wohl lieber, bis der Kadaver ein wenig kälter ist.“
Er zog die Tür zu, schloss das Seitenfenster und fuhr davon.
Ich saß allein im kalten Schatten meines sterbenden Traums und fühlte mich wieder wie das kleine Mädchen, das es nicht verdiente, Träume zu haben, den Namen Benoit zu tragen oder sonst irgendetwas zu besitzen.
Ich konnte noch so weit reisen, ich konnte noch so viel erreichen, aber dieses Mädchen saß immer gleich unter der Oberfläche meiner Haut. Im Moment sagte es mir, dass ich verdiente, was ich gerade erlebte.
Während ich um vereiste Kurven bog und die Scheinwerfer schmutzige, alte Schneehaufen beleuchteten, regte sich in mir der Gedanke, das Lenkrad loszulassen, die Augen zu schließen und einfach sitzen zu bleiben, egal, wo das Auto landete … bis die Kälte oder das Kohlenmonoxid allem ein Ende bereitete. Irgendwo in einem logischen Winkel meines Gehirns wusste ich, dass ich überreagierte, aber die Vorstellung pleitezugehen und meine Cousine mit in den Abgrund zu reißen, war unerträglich.
Es muss einen Ausweg geben. Es muss doch irgendetwas geben, das ich tun kann!
Aber während der halbstündigen Heimfahrt kamen mir keine wunderbaren Lösungsmöglichkeiten in den Sinn. Endlich glitzerte die Wasseroberfläche des Lake Michigan durch die Bäume hindurch. Ich schaute den See an und wartete auf den Trost, den mir dieser Anblick normalerweise bot. Dieses Mal konnte ich jedoch nichts anderes sehen als mich selbst, wie ich kalt und stumm unter der Wasseroberfläche trieb.
Halt! Hör auf damit! Die Worte in meinem Kopf schalten mich laut und entschlossen wie die Stimme meiner Mutter. Du bist nicht dein Vater!
Aber im Laufe der Jahre hatte ich mich manchmal gefragt: Steckte in mir derselbe Dämon, der ihn uns genommen hatte, als ich noch nicht einmal sechs Jahre alt gewesen war? Und der schuld daran war, dass ich mich an ihn nur als ein Gefühl, als eine bruchstückhafte Stimme, als ein verschwommenes Bild erinnern konnte?
Konnte ich, ohne es vorherzusehen, an einen Punkt gelangen, an dem es scheinbar die beste Lösung war, einfach aufzugeben?
Wie konnte ich diesen Gedanken überhaupt zulassen, da ich doch aus eigener Erfahrung wusste, welches Leid eine solche Entscheidung nach sich zog? Ich wusste, welches Nachspiel es hatte, wenn ein Mensch, den man liebt, ins kalte Wasser steigt und ins Meer hinausschwimmt, ohne die Absicht zu haben, ans Ufer zurückzukehren.
Jemand sollte den Toten sagen, dass es für die Lebenden kein Trost und keine Hilfe ist, wenn man ihnen einen Zettel hinterlässt, auf dem steht: Es ist nicht eure Schuld. Denn für die Lebenden ist immer jemand schuld.
Während ich auf den Weg zur Hütte abbog, bemühte ich mich, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Tränen liefen mir übers Gesicht, als versuchten sie, meinen Kopf zu reinigen. Tränen waren anscheinend das Einzige, was mir noch geblieben war. Der Tränenfluss schwoll an und schnürte mir die Kehle zu, während ich mich der kleinen Hütte am See näherte, in der ich wohnte, seit ich nach Michigan zurückgekommen war. Zum Glück hatte Mrs Doyne, die im Haus vorne an der Straße wohnte, die Mietpreise für ihre Hütten seit den 1950er-Jahren nicht mehr erhöht. Ihr lag mehr daran, zuverlässige, langfristige Mieter zu haben, als viel Kapital aus ihren Hütten zu schlagen.
Sie hatte schon ihr Nachthemd an und wollte wahrscheinlich bald ins Bett gehen, winkte mir aber durch ein großes Fenster zu, als ich an ihrem Haus vorbeifuhr. In der Hand hielt sie eines ihrer allgegenwärtigen Kreuzworträtsel.
Unwillkürlich musste ich denken, dass sogar Mrs Doyne traurig wäre, wenn ich unter der stillen Seeoberfläche treiben würde. Reißen Sie sich zusammen, Whitney Monroe!, würde sie wahrscheinlich sagen. Das Leben geht weiter. Mrs Doyne hatte den Tod ihres Mannes, mit dem sie fünfzig Jahre verheiratet gewesen war – ihre einzige, große Liebe –, überlebt. Sie arbeitete in ihrem Garten, engagierte sich ehrenamtlich und betreute eine Pfadfinderinnengruppe. Ihre positive Lebenseinstellung, die aus der Tiefe ihres Herzens kam, war unvergleichlich. Sie fürchtete sich vor nichts und war immer offen für ein neues Abenteuer.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich gedacht hatte, wenn ich äußerlich nur lange genug für eine gute Fassade sorgte, würde das irgendwann auch auf mein Inneres abfärben. Ich hatte erstklassige Küchen eröffnet, andere zu Höchstleistungen angetrieben, mich nie aus der Ruhe bringen lassen, wenn ein Jungkoch eine Soße anbrennen ließ oder ein Kellner ein Tablett fallen ließ. Ich war mit hohen Tieren in der Geschäftsleitung fertiggeworden, die sich nicht allzu sehr von Tagg Harper unterschieden – aufgeblasene, wichtigtuerische Persönlichkeiten, die unbedingt der ganzen Welt zeigen wollten, wie bedeutend sie waren. Ich kam mit den Dingen gut klar. Ich hatte alles unter Kontrolle.
Aber mit einem war ich nie konfrontiert worden, eines hatte ich immer vermieden, seit ich erwachsen geworden war – genau das, was mich in den letzten Monaten ausgelaugt hatte: Ich hatte zuvor nie zugelassen, dass das Wohl eines anderen Menschen von meinem Erfolg abhängt. Selbst während meiner kurzen Ehe, die katastrophal begonnen und ebenso geendet hatte, hatte ich meine Finanzen, mein Leben nie aus der Hand gegeben, und David hatte es genauso gehalten. Anscheinend war uns das beiden so lieber gewesen. Ich hatte nie damit leben müssen, dass meine Entscheidungen, mein Tun, mein Versagen das Leben eines anderen Menschen zerstören könnten.
Ich stellte den Motor ab und legte den Kopf aufs Lenkrad, während die Kälte durch die Fenster hereindrang und vom ersterbenden Motor nur noch ein dumpfes, metallenes Geräusch blieb, das schließlich verstummte. Ein Schluchzen durchschnitt die Luft. Ich hörte es, bevor ich es fühlte.
Ein Atemzug stieg in mir auf, brannte in meiner Kehle. Ein weiteres Schluchzen brach sich Bahn. Ich hob den Kopf, ließ ihn aufs Lenkrad fallen und dachte: Schluss! Schluss! Schluss damit!
Ein Klopfen ans Fenster traf mich wie ein Stromschlag und ließ mich in die Höhe fahren. Durch die beschlagene Scheibe hindurch erkannte ich im Licht der Veranda Mrs Doynes Umrisse. Die pelzbesetzte Haube ihres Mantels fing das Licht ein und verlieh ihr einen flauschigen Heiligenschein.
Meine Gefühle flüchteten wie aufgeschreckte Kaninchen. Nur zwei Gefühle, die ich identifizieren konnte, blieben zurück: Entsetzen und Beschämung. Ich wollte nicht, dass mich irgendjemand in dieser Verfassung sehen würde, schon gar nicht Mrs Doyne. Sonst würde sie sich nur Sorgen machen. Sie war in den letzten Jahren zu einem Geschenk des Himmels für mich geworden. Obwohl ich versucht hatte, meine finanzielle Situation für mich zu behalten, während das Bella Tazza 2 implodierte, hatte sie irgendwie geahnt, dass es nicht gut lief. Sie hatte angefangen, mir Essen zu bringen, und angeboten, dass ich die Miete auch später zahlen könnte, falls ich finanzielle Engpässe haben sollte.
Genauso wie alle anderen in der Stadt hatte sie keine Ahnung von der ganzen Geschichte. Sie wusste nur, dass wir mit den Genehmigungen für das neue Restaurant Probleme hatten. Ich wollte ihr auf keinen Fall mehr verraten. Die Wahrheit über Tagg Harpers unfaire Machenschaften würde sie nur verletzen. Mrs Doynes verstorbener Mann war Taggs Lieblingsonkel gewesen, mit dem er gerne Eisfischen gegangen war.
Ich tat, als zöge ich den Schlüssel aus dem Zündschloss, während ich mir verstohlen die Augen abwischte, bevor ich die Scheibe nach unten rollte. Ich hoffte, sie würde nicht merken, in welcher Verfassung ich war. Offenbar war das jedoch auch in der Dunkelheit nicht zu übersehen.
„Oh, Liebes!“ Sie berührte meine Schulter und ich biss die Zähne zusammen, um nicht wieder zu weinen. „Sie haben es also schon gehört. Es tut mir so leid ...“ Ihre Stimme klang, als wollte sie noch mehr sagen, aber sie führte den Satz nicht zu Ende. Es war mir ein Rätsel, wovon sie sprach. Was tat ihr leid? Wusste sie, dass der Termin beim Bezirksgericht noch weiter nach hinten verschoben worden war? Hatte sie schon die ganze Zeit gewusst, welches Spiel Tagg Harper spielte?
Allein schon diese Frage tat weh. Für mich war Mrs Doyne fast zu einer Art Ersatzmutter geworden. Meine Mutter und sie liebten die gleichen Dinge. Beide liebten Musik. Beide spielten Geige. Sie sprachen beide den gleichen Dialekt der Oberen Halbinsel Michigans. Wenn ich Zeit mit Mrs Doyne verbrachte, dann war es fast so, als hätte ich meine Mutter zurück. Mrs Doyne hatte sogar ebenfalls Krebs gehabt, ihn aber besiegt. Sie war stark genug gewesen, um die Krankheit zu besiegen, die mir vor fünf Jahren meine Mutter geraubt hatte. Bei Mamas Beerdigung hatten Denise und ich uns wiedergetroffen und danach einen Abend lang über alles Mögliche gesprochen: über das Leben, unsere Träume und Denises Kampf, Matties Arztrechnungen zu begleichen, da sich ihr Exmann weigerte, Unterhalt zu zahlen. Plötzlich hatte das unerwartete Kaufangebot für mein Restaurant in Dallas einen Sinn ergeben. Es hatte so ausgesehen, als solle alles so sein.
„Kommen Sie mit ins Haus.“ Mrs Doynes Hand legte sich um meinen Arm, als habe sie vor, mich gewaltsam durchs Fenster zu ziehen. „Sie sehen aus, als bräuchten Sie eine Tasse heißen Tee.“
Ich widersprach ihr nicht. Dazu fehlte mir die Energie. Ich ging einfach mit.
Im Haus roch es nach Katzen, Fußbodenheizung und frisch umgetopften Pflanzen. Wenn das widerspenstige Frühlingswetter in diesem Jahr endlich warm werden würde, wäre in Mrs Doynes Wintergarten schon alles startbereit und könnte draußen im Garten eingepflanzt werden. Wie konnte jemand, der die zarten Schösslinge neuen Lebens liebevoll versorgte, mit Tagg Harpers schmutzigen Machenschaften unter einer Decke stecken? Ich ließ mich schon wieder von Kerlen, die ihre Muskeln spielen ließen, unterkriegen und wurde paranoid. Ich durfte nicht zulassen, dass mir jemand wie Tagg die Hoffnung und das Vertrauen zu anderen Menschen raubte. Zu guten Menschen wie Mrs Doyne.
„Setzen Sie sich doch“, sagte sie und führte mich zu einem Sofa, wo zwischen drei zusammengerollten Katzen noch ein wenig Platz frei war. „Ich setze Wasser auf.“
Ich sank aufs Sofa, klemmte meine kalten Finger zwischen die Knie, ließ den Kopf zurückfallen, schloss die Augen und versuchte zu denken. Eine Katze kroch auf meinen Schoß, machte es sich darauf bequem und spielte mit dem Reißverschluss an meiner Jacke. Ihr leises Schnurren war irgendwie tröstlich.
„Ich habe versucht, Sie anzurufen, als ich die Nachricht bekam.“ Mrs Doynes Stimme klang, als käme sie von weit her.
Noch einen Monat? Können wir noch einen Monat durchhalten? Es muss doch eine Möglichkeit geben, zu Geld zu kommen …
Möglichkeiten über Möglichkeiten kreisten in meinem Kopf, aber alle stießen an eine unüberwindliche Mauer nach der anderen. Und dann an die größte Mauer: Wenn wir weitermachten, riskierten wir, alles zu verlieren.
Das kannst du Denise nicht antun. Das kannst du Denise und Mattie und Oma Daisy nicht antun. Du hättest nie hierher zurückkommen sollen. Du hättest sie nie in diese Sache hineinziehen sollen. Es ist deine Schuld. Das alles ist deine Schuld.
„Wie gesagt, ich habe versucht, Sie auf Ihrem Handy anzurufen, als ich die Nachricht bekam.“
Mrs Doyne wartete auf eine Reaktion.
„Die Nachricht?“
Der Teekessel pfiff. Der hohe, schrille Ton ließ die Katzen kurz ihre Köpfe heben.
Ein Löffel klirrte, die Kühlschranktür ging auf und wieder zu. Sahne und Zucker. Mrs Doyne wusste, wie ich meinen Tee am liebsten mochte. Wir hatten in den vergangenen Jahren schon einige Tassen zusammen getrunken.
„Es klang, als habe der Mann keine Ahnung, wen er sonst anrufen sollte. Er hat auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen, während ich auf dem Markt war. Ich nehme an, er hat Ihre Handynummer gefunden und Sie inzwischen persönlich erreicht?“
Ihre Hausschuhe schlurften über den Holzboden, als sie wieder ins Wohnzimmer trat und mir meinen Tee reichte. Die Tasse war warm, tröstlich und der Kamillengeruch tat gut. „Ich habe mein Handy den ganzen Nachmittag über im Auto liegen gelassen.“ Ich erzählte ihr nicht, dass ich das getan hatte, um nicht ständig die Anrufe der Leute abwimmeln zu müssen, die Geld für ausstehende Rechnungen eintreiben wollten.
Mrs Doyne schaute mich verwirrt an, bevor sie sich in ihren Liegesessel setzte. „Ich weiß, dass Sie eine solche Nachricht im Moment wirklich nicht brauchen können, da Sie mit Ihrem Restaurant schon genug um die Ohren haben.“ Sie neigte mitfühlend den Kopf und schaute mich durch ihre dicken Brillengläser hindurch sanft an. „Stehen Sie sich sehr nahe?“
„Nahe?“
„Sie und Ihr Stiefvater?“ Sie runzelte die Stirn und schaute in ihre Teetasse, als könne sie darin die Antwort finden. „Ich ging davon aus, dass Sie sich nicht sehr nahe stehen, da der Nachbar sonst nicht so große Probleme gehabt hätte, Ihre Telefonnummer zu finden.“
„Mein Stiefvater?“ Die Worte schlugen wie ein Querschläger ein und berührten unerwartete Stellen in meinem Innersten. Ich hatte den Mann, den meine Mutter nur wenige Jahre vor ihrem Tod geheiratet hatte, seit ihrer Beerdigung nicht mehr gesehen.
Es war kein Zufall, dass der Nachbar meines Stiefvaters Probleme gehabt hatte, unter seinen Sachen meine Telefonnummer zu finden. Dieser Mann wollte nichts mit mir zu tun haben.
„Mrs Doyne, ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Ich habe seit fast fünf Jahren nichts mehr von meinem Stiefvater gehört. Er hat keinen Grund, den Kontakt zu mir zu suchen, glauben Sie mir.“
„Oh.“ Sie legte die Hand überrascht an ihre Brust. „Als ich Sie im Auto weinen sah, dachte ich, Sie hätten die Nachricht schon bekommen. Es tut mir leid, dass ich jetzt die Überbringerin dieser Nachricht sein muss. Der Anruf kam vom Nachbarn Ihres Stiefvaters auf den Outer Banks von North Carolina. Von Roanoke Island, glaube ich, hat er gesagt. Er dachte, Sie sollten informiert werden. Offenbar liegt Ihr Stiefvater im Krankenhaus. Er ist im Badezimmer gestürzt und lag dort fast vier Tage, bis man ihn fand.“
Lisa Wingate
Lisa Wingate arbeitet als Journalistin, Kolumnistin, Rednerin und Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Texas.
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