Noch vor wenigen Monaten träumte Jade McKinley von einem Neuanfang. Sie zog nach Chicago und arbeitete an ihrem Durchbruch als Musikerin. Nun kehrt sie nach Hause zurück – zerbrochen, desillusioniert, schwanger. In ihrer Verzweiflung schmiedet sie einen aberwitzigen Plan: Sie will heiraten, damit ihr Kind nicht ohne Vater aufwachsen muss, aber ihr Herz plant sie nie wieder zu verschenken.
Doch wo soll sie einen passenden Heiratskandidaten hernehmen? Jade bittet ausgerechnet Daniel bei der Suche um Hilfe, den besten Freund ihres Bruders. Sie ahnt nicht, dass sie ihn damit vor eine unmögliche Herausforderung stellt ...
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Prolog
Jade McKinley drehte die Herdplatte herunter und gab die Hühnerbrustfilets zurück in die Pfanne. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen? Sie hätte sich mit ihm in einem Restaurant treffen sollen anstatt in der kleinen Wohnung, die sie sich mit ihrer Freundin teilte. Aber es war ihr einfacher erschienen, sich in ihrem eigenen Revier mit ihm zu treffen, mit Izzy im Nebenzimmer, die im Fernsehen den Jane-Austen-Marathon guckte.
„Im Schrank steht eine Flasche Merlot“, rief Izzy. „Die kannst du gerne nehmen.“
Jetzt klingelte auch noch das Telefon. „Kannst du drangehen, Izzy?“ Jade öffnete die Schranktür und nahm den Wein heraus.
Sie hoffte, er war in Ordnung. Sie trank eigentlich nie Alkohol, weil sie den Geschmack nicht besonders mochte.
Ein paar Minuten später kam Izzy in die Küche und schnitt eine Grimasse. „Äh … Jade?“
Jade schloss die Schublade. „Er kommt nicht, oder? Das ist schon in Ordnung. Im Ernst, ich hatte es sowieso schon bereut.“ Und wie!
„Keine Panik, Kleines. Das war der Chef.“ Wieder zog sie die Nase kraus. „Sie brauchen mich in der Spätschicht. Jemand ist krank geworden.“
„Oh.“
„Ich weiß, dass ich gesagt habe, ich würde hierbleiben, aber ich brauche die Stunden wirklich.“
Jade biss sich auf die Unterlippe. Nick kam schon seit Monaten ins Bistro. Er setzte sich jedes Mal in ihren Bereich und hatte sie wochenlang hartnäckig um eine Verabredung gebeten, bis sie schließlich Ja gesagt hatte.
„Es tut mir echt leid, dass ich dich im Stich lasse“, sagte Izzy. „Aber es ist wirklich gut, dass du dich endlich mal wieder auf eine Verabredung eingelassen hast. Das mit Aaron ist schon so lange her. Gib dem Kerl eine Chance.“
Es klopfte an der Eingangstür.
„Ich muss mich umziehen gehen!“ Bevor Jade protestieren konnte, huschte Izzy aus dem Zimmer.
Im Vorbeigehen warf Jade einen prüfenden Blick auf den gedeckten Tisch, dann öffnete sie Nick die Tür. Als sie ihn sah, fiel ihr wieder ein, warum sie sich schließlich doch auf die Verabredung eingelassen hatte. Er hatte einen Hundeblick und ein entspanntes Lächeln.
„Hi“, sagte er. „Du siehst hübsch aus. Wie eine schöne Zigeunerin.“
Jade hob den Saum ihres Rockes ein wenig an und machte einen Knicks. „Danke. Du hast mich noch nie in etwas anderem als meinem Kellnerinnen-Outfit gesehen, nicht wahr? Komm rein.“
Als er sich an ihr vorbeischob, wurde sie von einem Schwall seines Rasierwassers erfasst. Es war so stark, dass ihre Nase kribbelte. Fast hätte sie geniest. Nick trug ein Hemd und dunkle Jeans und seine Schuhe sahen frisch geputzt aus. Izzy sagte immer, man müsse bei Männern auf die Schuhe achten. Die von Nick sahen bequem aus und waren aus braunem Leder. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Sie war fest entschlossen, dass es bei dieser einen Verabredung bleiben würde.
„Riecht gut“, sagte er.
„Ich hoffe, du magst Marsala-Huhn. Mach’s dir bequem. Ich hole inzwischen den Wein.“
Zurück in der Küche suchte sie in den Schubladen nach einem Weinöffner. Sie bemühte sich gerade darum, die Flasche zu öffnen, als Izzy in ihrem Kellnerinnen-Outfit hereinkam und nach ihrer Handtasche griff.
„Warte, ich helfe dir!“ Bei Izzy sah das Entkorken der Flasche wie ein Kinderspiel aus. „Hier, bitte schön. Viel Spaß heute Abend.“
„Warte.“
Izzy drehte sich um.
Jade flüsterte: „Musst du wirklich gehen? Kannst du nicht noch ein oder zwei Stunden hierbleiben?“
Izzy verzog das Gesicht. „Ich habe denen gesagt, dass ich komme. Hör mal, er ist ein netter Kerl, der schon seit Monaten ins Bistro kommt. Da musst du doch keine Bedenken haben. Er ist schließlich kein Fremder.“
„Das stimmt.“
„Es wird bestimmt ein schöner Abend. Außerdem ist Mrs
Barlowe gleich nebenan und wir wissen doch beide, dass sie sofort auf der Matte stehen würde, sollte sie auch nur ein merkwürdiges Geräusch vernehmen.“
Wahrscheinlich stellte sich Jade wirklich zu sehr an. „In Ordnung, du hast recht.“
Nachdem Izzy gegangen war, ging Jade mit der geöffneten Weinflasche zum Esstisch.
Nick stand auf, als sie näher kam. „Lass mich einschenken.“
„Gerne.“
Zwanzig Minuten später hatten sie das Hühnchengericht halb aufgegessen und machten immer noch unbeholfen Small-Talk. Jade trank ihren letzten Schluck Wein und erzählte ihm von ihrer Familie in Chapel Springs und von ihrer Leidenschaft für Gitarrenmusik. Der Wein schien ihre Zunge zu lösen.
Nick konnte gut zuhören und das Kerzenlicht, das in seinen dunklen Augen flackerte, ließ ihn gut aussehen.
„Ich habe Nachtisch gemacht“, sagte sie eine Weile später, als ihnen der Gesprächsstoff ausging. „Magst du Käsekuchen?“
„Das ist sogar meine Lieblingssorte.“
Das war bisher so ziemlich der längste Satz von ihm. Jade holte den Kuchen aus dem Kühlschrank, und als sie zum Tisch zurückkam, sah sie, dass Nick ihr Weinglas wieder aufgefüllt hatte.
Auch während des Desserts war sie es, die am meisten redete. Sie hatte den Kuchen nach einem Rezept ihrer Schwester PJ gebacken und ihn nach dem Abkühlen mit einer leicht säuerlichen Sauce aus Blaubeeren, Erdbeeren und Himbeeren überzogen. Er schmeckte einfach himmlisch.
Als sie mit dem Nachtisch fertig waren, merkte Jade, dass ihr schwindelig war und der Raum sich ein bisschen drehte. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Der Wein. Sie hätte das zweite Glas nicht trinken sollen.
„Ist es eigentlich sehr heiß hier drin?“, versuchte sie zu sagen, aber die Worte wollten ihr nicht richtig über die Lippen kommen. Vermutlich sollte sie das Fenster öffnen und die Frühlingsluft hereinlassen. Der Tisch vor ihr wankte und Nick schien sich in die andere Richtung zu neigen. Jade blinzelte und versuchte wieder klar zu sehen.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
„Bestens.“ Aber danach hörte sie sich eindeutig nicht an. Ihre Worte klangen gedämpft und weit entfernt, als befände sie sich in einem Tunnel.
„Setzen wir uns doch aufs Sofa“, schlug Nick vor.
Um dorthin zu gelangen, brauchte sie seine Hilfe. Ihre Knie waren weich und die Füße wollten nicht dahin, wo sie hinwollte. „Ich glaube, ich habe zu viel Wein getrunken.“ Jade geriet ins Taumeln.
„Wollen wir einen Film gucken?“, fragte Nick.
Jade ließ sich auf das verschlissene Sofa sinken und fühlte sich sehr erleichtert bei dem Gedanken, nicht weiterreden zu müssen. Im Moment war sie sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt ein Gespräch zustande bringen würde. Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn Nick gegangen wäre, aber sie wollte nicht unhöflich sein.
„Klar. Such du einen aus. Sie sind im Schrank.“ Sie war sich nicht sicher, ob sie selbst den Weg dorthin geschafft hätte.
Nick wählte einen von Izzys Actionfilmen aus. Er legte den Film ein, aber Jade konnte der Handlung nicht folgen. Irgendwann wurden ihre Lider schwer. Sie war so müde. Machte Alkohol so müde? Sie hatte noch nie genug getrunken, um das zu wissen. Vielleicht hörte der Raum ja auf, sich zu drehen, wenn sie die Augen eine Weile zumachte.
„Jade?“
Nicks Stimme klang weit entfernt.
„Hmm?“, sagte sie. Und dann war alles dunkel und still.
Ein Magenkrampf riss Jade aus dem Schlaf. Fröstelnd zog sie die Knie an. Sie streckte die Hand nach der Decke aus, aber sie konnte sie nicht ertasten. Nach einer Weile merkte sie, dass sie auf der Bettdecke lag. Angezogen.
Jade schloss die Augen, weil das Sonnenlicht sie blendete, und versuchte sich an den vergangenen Abend zu erinnern. Das Essen mit Nick. Sie wusste nicht mehr, wie sie ins Bett gekommen war, und sie hatte auch keine Erinnerung daran, dass sie sich von Nick verabschiedet hatte. Sie hatten gegessen, dann war ihr schwindelig geworden. Sie hatten sich einen Film angesehen.
Und dann? Sie erinnerte sich an nichts.
Jade drehte sich um. Ihr Körper schmerzte, als sie sich den Rock über die Beine zog, und ihr Blick fiel auf ein Stück lila Seide am Fußende ihres Bettes.
Eine Erinnerung blitzte auf. Dunkelheit und Gewicht. Der überwältigende Geruch von Rasierwasser. Das rhythmische Knarren des Bettes. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Ruckartig setzte Jade sich auf. Um sie herum drehte sich alles. Ihre Blicke huschten durch das kleine Zimmer und sie hatte das Gefühl, als würden die Wände näher kommen. Ihr Herz hämmerte und ihr Atem ging keuchend.
Nein. Bitte nicht.
Was war geschehen? Die Erinnerungen waren verschwommen, mit riesigen schwarzen Löchern dazwischen.
Jades Magen zog sich so krampfhaft zusammen, dass sie Angst hatte, sich übergeben zu müssen. Der Schmerz in ihrem Inneren breitete sich aus und verzehrte sie. Sie zitterte, als ihr bewusst wurde, was geschehen war.
„Jade?“ Es klopfte an ihrer Tür. „Alles in Ordnung?“
Ihre Augen brannten. Sie öffnete den Mund, aber über ihre trockenen Lippen kam kein Laut. Wie hatte das nur passieren können?
„Jade?“ Der Türknauf drehte sich und Izzy kam herein. „Bist du krank?“
Jade zog die Knie an ihre Brust und wünschte, der Raum würde aufhören, sich zu drehen. Wenn es doch noch gestern wäre. Bevor sie Izzy gesagt hatte, dass sie ruhig gehen konnte. Bevor er ...
„Kleines, was ist los?“
Die Tränen flossen. Sie war so dumm. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Das hier war nicht Chapel Springs, sondern Chicago. Eigentlich wusste sie es doch besser. Und jetzt war sie ...
Izzy sank neben ihrem Bett auf den Boden und legte eine Hand auf ihre Stirn. „Kann ich irgendetwas für dich tun? Hast du die Grippe?“
Jade schüttelte zitternd den Kopf. Er hatte so nett gewirkt mit seinem offenen Lächeln und den großen braunen Augen. Sie schloss die Augen. Sie wollte nicht an ihn denken. Wenn sie ihn doch nur aus ihrer Erinnerung ausradieren könnte. Wie hatte er das nur tun können? Und wie hatte sie es zulassen können? Gott, wo bist du?
„Ist gestern Abend was passiert?“
Jades Zähne klapperten so sehr, dass es laut zu hören war. Sie nickte. Ihr ganzer Körper zitterte, veranstaltete ein ausgewachsenes Erdbeben.
Izzys warme haselnussbraune Augen sahen sie an. „Erzähl es mir, Kleines.“
„I-ich glaube, er hat mir was in den Wein getan. Mir wurde schwindelig und dann konnte ich nicht mehr sprechen. Oder die Augen offen halten. Danach kann ich mich an nichts mehr erinnern. Ich bin in meinen Kleidern aufgewacht und hatte keine Unterwäsche mehr an. Und ich habe so Flashbacks …“
„Oh, Süße …“ Izzy zog Jade in ihre Arme. „Das ist ganz allein meine Schuld.“
Wieder blitzten Erinnerungen auf. Jade kniff die Augen zusammen, um sie zu verdrängen. Der widerliche Geruch seines Rasierwassers. Ihre Arme und Beine schwer und hilflos. Geräusche, hektisches Atmen, das rhythmische Knarren des Bettes, alles wie aus der Ferne. Aber jetzt fühlte es sich viel zu nah, viel zu wirklich an. Sein erdrückendes Gewicht auf ihr.
Hastig riss sie sich von Izzy los und kroch aus dem Bett. „Ich muss duschen.“
„Kleines … du musst ins Krankenhaus.“
Jade ging ins Bad und drehte das Wasser auf. Sie musste sie loswerden. Die Spuren seiner Berührung. Seinen Geruch. Sie konnte sein Rasierwasser an sich riechen. Sie konnte es gar nicht schnell genug loswerden.
„Ich fahre dich hin.“
Jade schüttelte den Kopf und zog den Knopf an der Armatur hoch, bis das Wasser aus dem Duschkopf sprühte.
„Sie müssen Proben entnehmen, Jade.“
„Ich kann nicht.“ Sie wollte nur sauber sein. Nur vergessen, dass es überhaupt geschehen war. Wenn sie es vergessen könnte, würde es beinahe so sein, als wäre es nicht geschehen. Dann könnte sie es hinter sich lassen.
Izzy packte sie am Arm. „Jade ...“
Jade riss sich los. „Ich kann nicht, Izzy! Lass mich in Ruhe!“
Izzy warf ihr einen letzten Blick zu, bevor sie leise das Bad verließ. „Es tut mir so unendlich leid. Ich bin gleich vor der Tür, wenn du mich brauchst.“
Jade zog sich aus. Eine Minute später stand sie unter dem kochend heißen Wasserstrahl. Aber so sehr sie auch schrubbte, sie wurde nicht sauber. Sie fragte sich, ob sie sich jemals wieder sauber fühlen würde.
Kapitel 1
Als Jade am Yachthafen vorbeikam, nahm sie den Fuß vom Gas, nicht aufgrund einer Geschwindigkeitsbegrenzung, sondern weil ihr das Herz bis zum Hals schlug.
Gleich bin ich da.
Sie war nicht davon ausgegangen, dass sie Chapel Springs so schnell wiedersehen würde – es war kaum ein Jahr her, dass sie von hier weggegangen war. Aber manchmal verlief das Leben eben anders als erwartet.
Der Fluss funkelte in der Abendsonne und auf der Wasseroberfläche spiegelten sich die rosafarbenen Wolken. Der Frühling hatte das Tal aus dem Winterschlaf geweckt, hatte die Hügel ergrünen lassen und die Blattknospen an den Bäumen entfaltet.
An einer roten Ampel musste Jade anhalten. Sie öffnete das Fenster, um den frischen Frühlingsduft des Mittleren Westens einzuatmen: Regen, Flusswasser und Kiefern. Noch waren kaum Touristen da und die Parkbuchten an der Hauptstraße waren leer. Die Läden hatten für heute bereits Feierabend gemacht.
Nichts hatte sich verändert. Dieselben Schaufenster, von der Sonne ausgeblichenen Markisen und antiken Straßenlaternen. An der Ecke flammten die Lichter des Rialto-Filmtheaters auf und liefen in einem endlosen Rechteck um die Werbefläche herum. Es wurden zwei Filme beworben, die in Chicago schon seit Monaten liefen.
Die Ampel sprang um und Jade trat das Gaspedal durch. Widerwillig setzte sich ihr alter Wagen in Bewegung. Die Straße führte sie quer durch die Stadt und schließlich um eine Biegung, die sie vom Fluss wegbrachte. Als Jade sich der Einfahrt zum Hof ihrer Eltern näherte, wurde ihr Mund mit einem Mal ganz trocken.
Die Felder waren inzwischen bestimmt gepflügt und der Mais gesät. Wahrscheinlich saßen ihre Eltern auf dem Sofa und sahen sich irgendeinen alten Schwarz-Weiß-Film an. Jade malte sich aus, wie es sein würde, vor ihrer Tür zu stehen. Plötzlich bereute sie ihren Entschluss, die beiden zu überraschen.
Ihr Herz pochte wie in ihrer Brust. Sie umklammerte das Lenkrad so fest, dass die Ringe an ihren Fingern sich tief ins Fleisch eingruben. Ihr Fuß machte keine Anstalten, auf die Bremse zu gehen. Und so fuhr Jade an der Einfahrt vorbei, weiter die gewundene Straße entlang.
Links vor sich konnte sie bereits den asphaltierten Weg ausmachen, der mit Laternen gesäumt war und eine bewaldete Anhöhe hinaufführte. Er war schwer zu übersehen. Jade bog darauf ein und fuhr den Berg hinauf, was ihrem erbsengrünen Ford so ziemlich alles abverlangte. Unter dem Baldachin der alten Bäume war es fast dunkel und die Zikaden und Grillen hatten bereits ihren nächtlichen Chor angestimmt.
Jade fuhr weiter, bis die schmale Straße sie auf der anderen Seite des Hügels wieder zum Fluss hinunterführte. Vor ihr zeichnete sich die Silhouette des Bootshauses vor dem dunkler werdenden Himmel ab. Ein einsames Licht erleuchtete ein Fenster im Obergeschoss, das so aussah, als sei es mit einem dünnen Stück Stoff zugehängt worden.
Jade wählte die Parkstellung und stellte den Motor aus. Es waren Jahre vergangen, seit sie zuletzt hier gewesen war. Daniel war eigentlich fast immer im Haus ihrer Eltern oder lungerte mit seinem Laptop und einem freundlichen Lächeln im Café herum.
Als sie ausstieg und die Tür zuschlug, schallte das Quietschen der Angeln laut über den See. Sie trat auf das Holzdeck und stieg die Treppe hinauf, die zu Daniels Eingangstür führte. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass er sauer auf sie sein könnte. Schließlich hatte sie sich nicht gerade oft gemeldet.
Oben angekommen, klopfte sie an die Kiefernholztür und wartete. Unter ihr leckte das Wasser nicht nur am Ufer, sondern auch am Holzdeck. Der Wind frischte auf und Daniels Boot stieß gegen die Holzpfähle, auf denen das Haus stand. Sie fragte sich, ob er immer noch damit auf den Fluss hinausfuhr, wenn er allein sein wollte.
Jetzt öffnete sich die Tür und Daniel stand vor ihr. Bei ihrem Anblick erstarrte er. Sein Mund klappte auf und seine unendlich blauen Augen weiteten sich. Wenn sie nicht so froh gewesen wäre, ihn zu sehen, hätte sie gelacht.
„Jade?“
Sie trat auf ihn zu und spürte, wie seine Überraschung nachließ, als er sie in seine kräftigen Arme schloss. Sie hatte sich bereits gefragt, ob er wohl immer noch bei der freiwilligen Feuerwehr war, aber seine kraftvolle Umarmung ließ daran keinen Zweifel. Zwar hatte sie schon einen großen Bruder, doch Daniel füllte eine Lücke in ihrem Herzen, der sie sich gar nicht bewusst gewesen war, bis Ryan ihn zum ersten Mal mit nach Hause gebracht hatte. Damals war sie in der vierten Klasse gewesen.
„Was machst du hier?“
Jade vernahm eine Stimme, die weder ihm noch ihr gehörte, und wich zurück. Die Stimme kam aus dem Telefon, das Daniel in der Hand hielt.
Er hob es an sein Ohr, während er Jade eintreten ließ. „Ich muss Schluss machen, Mom. Ich rufe später noch mal an.“ Anstatt aufzulegen, seufzte er tief. „Kann sein. Ich weiß.“ Er griff nach einem Zettel und notierte sich eine Telefonnummer. „Gut. Ja, ich rufe sie an. Mach’s gut, Mom.“
Er steckte das Handy in seine Hosentasche und wandte sich zu ihr um. Irgendwie schien er größer und breiter geworden zu sein. Seine Haare waren gewachsen, sodass der Pony ihm fast in die Augen hing – sehr unbürgermeisterlich. Aber es stand ihm gut.
„Tut mir leid, dass ich hier einfach so reinplatze. Es tut gut, dich zu sehen.“
Sie sah, wie seine blauen Augen innerhalb von Sekunden von warm auf kühl umschalteten. Er hatte schon immer faszinierende Augen gehabt.
„Hast du kurz Zeit?“
Er verschränkte die Arme. „Eigentlich bin ich ziemlich beschäftigt.“
Jade wich seinem Blick aus und sah sich im Zimmer um. Eine Lampe brannte neben einem Ledersessel. Sein offener Laptop stand auf dem Beistelltisch neben einem Stapel langweilig aussehender Formulare.
Sie wischte sich die Hände an ihrem Zigeunerrock ab und schob ihren Zopf über die Schulter nach hinten. „Es tut mir leid, dass ich nicht angerufen habe.“
„Es ist ein Jahr her.“
„Tut mir leid.“
„Ich weiß, dass ich nicht dein richtiger Bruder bin, aber ...“
Sie runzelte die Stirn. „Hör auf damit.“
„... ein Anruf ist doch wohl nicht zu viel verlangt. Oder ein Brief, eine Karte, eine SMS …“
„Du hast ja recht.“ Sie hatte ihn verletzt. Und wahrscheinlich war er da nicht der Einzige. „Es tut mir leid.“
Sie folgte ihm ins Wohnzimmer, wobei sie an einem Gästezimmer vorbeikamen, das voller Hanteln und Gewichte war. In der Ecke stand ein Profilaufband, auf dessen Display orangefarbene Nummern leuchteten. Sie sog einen Hauch von Schweiß und Ehrgeiz ein.
Daniel griff nach der Fernbedienung und schaltete die politische Talkshow aus, die er sich anscheinend vor dem Anruf seiner Mutter angesehen hatte. Der Fernsehbildschirm wurde schwarz und plötzlich war es still im Zimmer. Das Schweigen war unbehaglich.
Daniel betrachtete sie, bis Jade sich vorkam wie eine Amöbe unterm Mikroskop.
„Bist du nur wegen der Hochzeit hier?“, fragte er schließlich.
Sie schüttelte den Kopf.
Irgendein Gefühl flackerte in seinen Augen auf, aber er wandte sich ab und ging in seine schmale Küche, bevor sie es identifizieren konnte.
Es war kein Monat mehr bis zur Hochzeit. Ihre Schwester Madison und Beckett O’Reilly. Jade wurde das Herz schwer, als sie daran dachte, dass sie ihrem zukünftigen Schwager würde gegenübertreten müssen. Diese ganze Heimlicher-Verehrer-Sache war so was von peinlich gewesen – und letztlich der Grund dafür, warum sie gegangen war. Oder zumindest der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.
Jade hatte wirklich gedacht, die Blumen wären von Beckett gewesen. Weil er in sie verliebt war. Dabei war es die ganze Zeit über Madison gewesen, die er geliebt hatte. Und jetzt kam Jade gerade rechtzeitig zu ihrer Hochzeit nach Hause.
Daniel öffnete den Kühlschrank, nahm einen Krug mit Eistee heraus und goss etwas davon in ein Glas. Nachdem er zwei gehäufte Löffel Zucker hinzugefügt hatte, brachte er ihr das Getränk.
„Setz dich.“ Er zeigte auf das braune Ledersofa.
„Danke.“ Jade leerte das Glas zur Hälfte und stellte es dann auf den Regionalteil der Chapel Springs Gazette. Ihr Blick wanderte durch den Raum und blieb am Vorhang hängen – einem weißen Tuch, das einfach über eine Gardinenstange geworfen worden war. Genau, wie sie es sich gedacht hatte.
„Deine Eltern haben mir nicht erzählt, dass du kommst.“
„Sie wussten es nicht. Und sie wissen es auch immer noch nicht. Ich bin zuerst hierhergekommen.“
„Warum?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Spontane Entscheidung.“ Allerdings hatte sie allmählich das Gefühl, dass es keine gute Entscheidung gewesen war. Dass sie ihn ein Jahr lang ignoriert hatte, hatte Daniel wirklich verletzt. Und jetzt wollte sie ihn um einen Gefallen bitten?
Wie selbstsüchtig und gedankenlos sie doch war! Sie hätte zu ihren Eltern oder zu Madison gehen sollen. Mit ihnen hatte sie im vergangenen Jahr wenigstens ab und zu telefoniert. Sie trank noch einen Schluck von ihrem Tee.
Daniel legte den Kopf ein wenig zur Seite. „Was kann ich für dich tun, Jade?“
Es war ihr unangenehm, dass er richtig geraten hatte. Aber sie wollte noch nicht zur Sache kommen. Das Telefonat, das sie unterbrochen hatte, fiel ihr wieder ein.
„Wie geht es deinen Eltern? Das war doch deine Mutter am Telefon, nicht wahr?“
Er warf ihr einen Ich-weiß-was-du-hier-abziehst-Blick zu, lehnte sich aber dennoch in seinem Sessel zurück und spielte mit. „Denen geht es gut. Mom hat mal wieder die Richtige für mich gefunden und ist fest entschlossen, mich zu verkuppeln, wenn ich nächstes Wochenende dort hinfahre.“
„Dort“ war Washington D. C. Daniels Vater war Senator in Illinois. Wenn es nach seinen Eltern ginge, würde Daniel auch irgendwann in die Bundespolitik einsteigen. Im Moment gaben sie sich mit seinem Bürgermeisterposten zufrieden, einer Stellung, die sein Großvater mehr als sechzehn Jahre lang innegehabt hatte, aber langfristig würden sie vermutlich keine Ruhe geben, ehe Daniel im Weißen Haus saß.
Jade lächelte halbherzig. „Vielleicht ist sie ja die Richtige. Mütter wissen es schließlich am besten, heißt es nicht so?“
Daniel wandte den Blick ab und klappte seinen Laptop zu.
„Erzähl mir, was bei dir momentan so los ist“, forderte Jade ihn auf.
Er stützte die Ellbogen auf die Knie und legte die Fingerspitzen aneinander, sodass er das Kinn darauf ruhen lassen konnte, während er sie auf den neuesten Stand brachte. Er war immer noch bei der freiwilligen Feuerwehr. Seine Arbeit hielt ihn auf Trab. Grandma Dawson hatte inzwischen Mühe, ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen und ihrer Wohltätigkeitsarbeit nachzukommen.
„Und du, Jade?“, fragte er, nachdem er geendet hatte. „Was ist mit dir?“
Sie räusperte sich und dachte an die anstrengenden letzten vier Wochen zurück. Warum lief ihr Leben eigentlich immer aus der Spur?
Aber darüber wollte sie heute Abend nicht reden. „Ich brauche einen Job, Daniel.“ Das war der geringste Gefallen, um den sie bitten musste, und es war am einfachsten, damit anzufangen.
„Warum?“
„Essen … Wohnung … Kleidung …“
„Das meine ich nicht.“ Seine blauen Augen waren wie Laser, die viel zu viel, viel zu tief sahen.
Sie senkte den Blick und drehte den obersten Ring an ihrem Mittelfinger. „Ich bin zurückgekommen, um hierzubleiben.“
„Warum?“
Jade war sich sicher, dass ihre Eltern ihn auf dem Laufenden gehalten hatten, während sie fort gewesen war. Sie hatte mit ihrer besten Freundin zusammengewohnt, in einem Café gearbeitet und in einem angesagten Bistro Gitarre gespielt.
Und jetzt war sie wieder zu Hause. Ohne Arbeit.
„Darüber möchte ich eigentlich nicht reden.“
Daniel stand auf und ging wieder in die Küche. Er goss den restlichen Eistee in einen Becher und trank einen Schluck. Sein weißes Anzughemd spannte bei jeder Bewegung über seinen Schultern. Die Ärmel waren aufgekrempelt, sodass seine muskulösen Unterarme zu sehen waren.
„Ich dachte, du weißt vielleicht, wer gerade Leute sucht.“
Nach einigen Sekunden drehte Daniel sich um. Er lehnte sich an die Küchenzeile. „Du könntest wahrscheinlich deinen alten Job im Café wiederhaben. Inklusive Auftritt. Der Typ, der für dich eingesprungen ist, kann dir nicht das Wasser reichen.“ Seine Mundwinkel wanderten nach oben, bevor er noch einen Schluck trank.
Sein Lächeln! Das hatte sie bisher vermisst. Sie fragte sich, ob bei ihm wirklich alles so gut war, wie er behauptete. Oder ob er vielleicht wütender auf sie war, als er durchblicken ließ.
„Ich brauche mehr als den Mindestlohn. Hoffentlich kann ich bis zur Hochzeit bei Madison wohnen, aber danach …“
„Willst du dem Brautpaar nicht im Weg sein?“
„Genau. Und ich weigere mich, eine dieser Endzwanziger zu sein, die den ganzen Tag im Keller ihrer Eltern hocken und Chips in sich hineinstopfen.“
„Also, kannst du mir helfen?“ Jade hatte die Augenbrauen so hochgezogen, dass sie unter ihrem dunklen Pony verschwanden.
Er hatte vergessen, wie anziehend ihre grünen Augen waren. Aber etwas an ihrem Gesicht war anders. Daniel musterte es und versuchte dahinterzukommen, was es war. Dieselben mandelförmigen Augen, die ein bisschen schräg nach oben verliefen. Dieselbe Stupsnase. Dieselben vollen Lippen, die sich so selten zu einem Lächeln verzogen, dass er sich wie ein Held vorkam, wenn er sie dazu brachte.
„Was ist mit deiner Musik?“, fragte er.
Jade richtete sich auf und hob ihr Kinn mit dem süßen Grübchen darin. Ihre Ringe klackerten, als sie die Hände faltete. „Es ist Zeit, dass ich erwachsen werde. Ich brauche einen richtigen Job.“
Daniel war sprachlos. Er hätte nicht gedacht, dass er diese Worte jemals aus Jades Mund hören würde. Ihre Musik war ihr Ein und Alles. So war es schon immer gewesen, seit er Jade in ihrem ersten Highschooljahr die ersten Akkorde beigebracht hatte. Stundenlang hatte sie geübt und war schon nach wenigen Monaten besser gewesen als er. Die ganze Schulzeit über hatte sie Songs geschrieben und jede Freundin unterrichtet, die Interesse am Gitarrespielen gezeigt hatte. Als sie gegangen war, hatte sie eine ordentliche Anzahl Schüler gehabt.
Was war in Chicago geschehen? Jade war immer eigenwillig gewesen und hatte auf ihr Herz gehört. Er erinnerte sich daran, wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie hatte sich im Garten der McKinleys im Kreis gedreht und ihr Rock war um ihre dünnen Beine herumgeflattert.
„Was machst du da?“, hatte er gefragt, teils spöttisch, teils fasziniert.
„Ich tanze mit den Glühwürmchen“, hatte sie gesagt. „Willst du mitmachen?“ Jade hatte immer ihr eigenes Ding gemacht. Aber jetzt wirkte sie anders. So als hätte sie ihren Schwung verloren. Wobei sie eigentlich schon seit Aarons Tod nicht mehr dieselbe war.
„Daniel?“
Er blinzelte die Erinnerung fort. „Ich höre mich um. Mal sehen, was ich herausfinden kann.“
„Danke, das weiß ich wirklich zu schätzen.“ Jade trank ihren Tee aus und stand auf, wobei ihr der lange dunkle Zopf über die Schulter rutschte. „Jetzt lasse ich dich besser weiterarbeiten.“
Daniel folgte ihr zur Tür und fragte sich, warum sie zuerst zu ihm gekommen war. Nur weil sie Arbeit brauchte? Wohl eher nicht. Es gab etwas, das sie ihm verschwieg, aber er kannte Jade gut genug, um sie nicht zu drängen.
„Die Familie wird froh sein, dass du wieder zu Hause bist“, sagte er, als sie an der Tür standen.
Jade drehte sich um und drückte ihn kurz mit einem Arm an sich. Nur zu gerne hätte Daniel sie richtig umarmt, doch stattdessen tätschelte er ihr den Rücken, so wie sie es erwartete.
„Es war schön, dich wiederzusehen“, sagte sie.
„Finde ich auch, Stöpsel“, erwiderte er sicherheitshalber.
Und dann schlüpfte Jade zur Tür hinaus, die Treppe hinunter und in ihren Wagen. Sie hatte sich genauso mühelos zurück in sein Leben gedrängt wie einst in sein Herz.
Denise Hunter
Denise Hunter hat bereits über 20 Romane geschrieben, die in den USA mit etlichen Preisen ausgezeichnet wurden. Neben dem Schreiben genießt sie es, mit ihrer Familie zu reisen und Schlagzeug zu spielen. Zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen lebt sie in Indiana.
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