Saint-Lizier, Frankreich, September 1943: Das Morgenrot der Sonne wies Grace Tonquin und den zwölf Kindern in ihrer Obhut den Weg. In wenigen Minuten würden sie Schutz in der Kathedrale von Saint-Lizier finden. Schutz vor dem hellen Licht.
Grace versuchte, die Angst abzuschütteln, als sie die Kinder eine moosbewachsene Mauer entlangführte. Die zerklüfteten Steine an dieser Stelle verdeckten die Sicht auf das glühende Rot des Sonnenaufgangs. Sie rutschte mit ihren Oxford-Schuhen über das glitschige Kopfsteinpflaster.
Die Blasen an ihren Füßen schmerzten, doch sie konnte jetzt nicht stehen bleiben. Ihre amerikanischen Landsleute waren bereits in die Heimat zurückbeordert worden, doch Grace konnte dieses Land nicht verlassen, bis alle jüdischen Kinder entweder ein sicheres Versteck erreicht hatten oder aus Frankreich evakuiert worden waren.
Élias, der Älteste, trug den kleinen Louis auf dem Arm, während er gleichzeitig seiner Schwester Marguerite über eine Pfütze hinweghalf. Über ihrem Weg unter dem schützenden Dach des Herbstlaubes duftete es nach Regen.
Marguerite drehte sich zu Grace um. Ihre Augen waren angeschwollen und rot wie die aufgehende Sonne. Grace bückte sich zu ihr hinunter und legte einen Finger auf die Lippen. Die Stille war ihr Verbündeter, bis sie die Kathedrale erreicht hätten, hatte sie den Kindern erklärt. Das Schweigen war ihr Schutzschild.
Zwei der Kinder stießen miteinander zusammen und begannen zu kichern. Dabei hatte Grace sie angewiesen, still zu sein. Sie verstanden nicht, was auf dem Spiel stand. Wie sollten sie auch?
Vor ihnen war nun die Kathedrale zu sehen, deren mittelalterlicher Glockenturm in den Himmel ragte. Ein Ort der Geborgenheit, dachte Grace. Bald, so hatte Roland Mercier gesagt, würden sie sich gemeinsam in einem Schloss verstecken, bis er für die Kinder eine sichere Route über die Pyrenäen nach Spanien und weiter nach Portugal gefunden hätte.
Die Stille in diesen frühen Morgenstunden war wahrhaftig ein Segen. Aber eigentlich war es fast zu still, dachte Grace. Nicht einmal das Bellen eines Hundes oder das Geklapper des Milchwagens war zu vernehmen.
Marguerite griff nach Grace Hand. Grace blieb stehen, bückte sich zu dem Mädchen herunter und blickte ihr in die Augen. »Was ist denn los?«
»Ich muss mal ganz dringend!« Marguerite klang weinerlich. Die Tränen eines neunjährigen Mädchens konnten in der Stille dieser Straßen für jeden aus der Gruppe den Tod bedeuten.
Grace schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Dann spitzte sie die Ohren und lauschte. Doch alles blieb ruhig.
»Komm, beeil dich, Marguerite!«, mahnte Grace. Sie mussten zur Kirche gelangen, bevor die Nonnen das Tor verschlossen.
Marguerite zupfte ihre Strumpfhosen zurecht und schlüpfte in ihren Mantel. Die beiden beeilten sich, durch den engen Durchgang wieder zu den anderen zu gelangen. Doch plötzlich schlangen sich zwei starke Arme um Graces Hüfte und zogen sie von der Straße weg.
Grace schluckte ihre Schreie hinunter, um keinen Lärm zu machen, versuchte sich aber gegen den festen Griff zur Wehr zu setzen.
»Grace
«. Die Stimme des Mannes war leise, aber kraftvoll, wie der Anbruch des neuen Tages.
Marguerite erkannte den Mann zuerst. Sie ließ die Hand von Grace los und hängte sich an sein Hosenbein. Grace Angst wich und sie hörte auf, sich zu wehren. Als der Mann erneut ihren Namen sagte, wusste sie, dass Roland sie gefunden hatte.
»Ihr seid jetzt in Sicherheit!« Er lockerte seinen Griff und nahm Marguerite auf den Arm. »Aber ihr müsst Saint-Lizier verlassen.«
»Wir sind doch gerade erst angekommen
«
»Vite!«, sagte er. »Ihr dürft keine Zeit verlieren!«
Grace machte einen Schritt in Richtung Straße. »Ich muss die Kinder zusammentrommeln.«
Ein Auto ratterte plötzlich über das Kopfsteinpflaster. Dann sah Grace zwei Männer in königsblauen Uniformen und glänzenden schwarzen Stiefeln. Sie schritten die Straße entlang. Ihre Orden glänzten in der Morgensonne.
»Wir kommen zu spät!«, sagte Roland
Alle Polizisten waren mit einer Pistole bewaffnet, als ob die Kinder sich gegen sie wehren könnten. Grace trat auf die Straße, die Blätter unter ihren Füßen knirschten. Sie würde mit den französischen Polizisten sprechen, wie sie es auch schon vor ein paar Monaten auf einer Zugfahrt getan hatte.
»Grace!« Roland zog sie in die enge Gasse zurück. »Du kannst ihnen jetzt nicht helfen.«
»Ich werde mit der Polizei sprechen!«
»Dann werden sie dich erschießen. Was glaubst du, würde das mit den Kindern machen?«
»Das werden sie nicht tun
«
»Doch«, beharrte er. »Du und Marguerite, ihr müsst in die andere Richtung davonlaufen. Folgt dem Fluss in Richtung Süden.«
Grace befreite sich aus Rolands Griff. Der Wind wehte ihr die Haare ins Gesicht. Sie war bereit, der Polizei gegenüberzutreten. Doch dann hörte sie neuen Lärm. Dieses Mal klang es wie Donnergrollen. Ein Lastwagen in Tarnfarben hielt vor den Kindern an. Ein halbes Dutzend Soldaten stieg ab, an ihren braunen Uniformen trugen sie rote Armbinden.
Seit wann waren die Nazis denn in Saint-Lizier?
»Um Himmels willen«, entfuhr es Grace.
Die Soldaten begannen, die Kinder zusammenzutreiben. Schluchzen durchdrang nun die vorherige Stille. Grace hätte am liebsten geschrien.
Sie drehte sich zu Roland um. »Ich kann doch nicht einfach hier stehen bleiben und nichts tun.«
Roland wies mit dem Kopf in Richtung Marguerite. »Wenn die Nazis dich auch mitnehmen ... werden sie sie sicherlich finden.«
Grace sank in sich zusammen und lehnte sich an die kalten Steine der Mauern. »Bring sie an einen sicheren Ort. Bitte ...«
»Ich muss los.« Er ratterte eine Wegbeschreibung zu einer Kirche außerhalb der Stadt herunter, wo Grace und Marguerite sich verstecken konnten. »Wartet dort auf mich.«
»Ich kann das nicht!«
»Ihr müsst fliehen, Grace. Nur noch einen weiteren Tag.«
Ein weiterer Tag. Nach diesem Motto hatte sie nun schon monatelang gelebt. Mit Gottes Hilfe würde sie vielleicht vierundzwanzig Stunden durchhalten können. Auch wenn dabei jede Minute ihr Herz brechen würde.
»Gott sei mit euch!«, sagte Roland und küsste sie auf die Wange.
Dann war er verschwunden.
Yamhill County, Oregon, September 2003: Der Wind rüttelte an den Zweigen der Bäume und ließ Kiefernnadeln auf Addie Hoults Mietwagen herabregnen. Sie machte den Scheibenwischer an und bemerkte sogleich, dass das ein Fehler gewesen war. Wie sollte sie bei diesem wolkenverhangenen Himmel, dem Nebel und der schmierigen Scheibenwischerflüssigkeit überhaupt die Tonquin-Hütte finden, wenn sie noch nicht einmal die Straße vor sich erkennen konnte?
Sie hatte mit Niederschlägen in Oregon gerechnet. Aber eben mit Regen - nicht mit Kiefernnadeln.
Der Schotter knirschte unter den Reifen ihres Honda Civic und machte Geräusche wie Maiskörner, die in heißem Öl aufplatzen. Was würde sie jetzt nicht für frisch gemachtes Popcorn in Butter geben! Eine eiskalte Cola in einem echten Glas. Oder Brombeeren mit selbstgemachtem Eis.
Während des Fluges von Chattanooga nach Portland hatte sie Spaghetti aus einer Aluminiumschale gegessen. Dann war sie vom Flughafen aus eine Stunde Richtung Westen gefahren, bis sie die kleine Stadt Newberg erreicht hatte. Eine Stadt mit ereignisreicher Vergangenheit, geprägt von den Quäkern, so hatte sie gelesen. Heimat von Präsident Hoover und Anbaugebiet für Pinot Noir. Addie hoffte, in diesem Bezirk ein Familienmitglied ihres besten Freundes Charlie ausfindig machen zu können. Papa C, so nannten ihn die Mädchen in Sale Creek. Es war der Mann, der sich ihrer vor zehn Jahren als Ersatzvater angenommen hatte, als sie selbst keinen gehabt hatte.
Jetzt war Charlie erkrankt. Sein Knochenmark löste sich zusehends auf. Der Körper produzierte praktisch keine roten Blutkörperchen mehr. Ohne eine Infusion gesunder Stammzellen würde er - der Mann, der Addie das Leben gerettet hatte, - möglicherweise noch vor Ende des Jahres sterben.
Charlies behandelnder Arzt hatte erfolglos versucht, ein sogenanntes »HLA-Match« in der Krankenhausdatenbank zu finden. Charlie benötigte eine Knochenmarktransplantation, vorzugsweise von Geschwistern, Neffen oder Nichten. Ein blutsverwandter Spender unter sechzig Jahren konnte sein Leben retten.
Der Arzt hatte sich damit einverstanden erklärt, jeden zu testen, den Addie finden würde. Sie suchte nach einem Familienmitglied, das bereit war, einen Teil des eigenen Körpers zu spenden. Kompliziert wurde es dadurch, dass möglicher Spender und Empfänger sich wahrscheinlich nie begegnet waren oder sie sich jedenfalls nicht daran erinnern konnten.
Addie befand sich nun auf einer kurvenreichen Nebenstraße, die durch ein Tal führte. Zunächst sah sie noch einige Lichter, die über den Hügeln funkelten, doch der Wald um sie herum wurde zusehends dichter. Von den Lichtern war dort nichts mehr zu sehen.
Mit dem Fuß auf dem Gaspedal fuhr Addie langsam weiter und suchte zwischen Dornensträuchern und Kieferästen einen Platz zum Wenden.
Sie warf einen Blick auf die enge Straße vor ihr und bog nach rechts ab. Sofort türmte sich vor, über und neben ihr eine Mauer aus Blattwerk auf und wand sich wie ein Kranz um ihr Auto. Zwischen diesen Zweigen konnte sich alles Mögliche verstecken. Brombeeren. Biber. Bigfoot.
Die Straße führte zwischen den Bäumen bergauf und trotz der Klimaanlage brachten die engen Wegbegrenzungen Addie ins Schwitzen. Sicherlich würde die Straße bald auf einen Bergrücken führen. Vielleicht konnte sie sogar einen Blick auf den See erhaschen.
Plötzlich wurde ihr Wagen von einem Stoß erschüttert, als hätte Bigfoot selbst mit dem Fuß aufgestampft. Der Bergrücken unter ihr schien zu beben und Addie wurde starr vor Schreck. Doch es war nur ein starker Windstoß, der Blätter über den Hügel wehte. Dennoch hielt Addie an und wartete ab, bis der Windstoß vorübergezogen war und ihr Herz sich wieder beruhigt hatte.
Tara Dawson, ihre Vermieterin, hatte gesagt, die Hütte wäre nur ein paar hundert Meter entfernt. Doch die Beschreibung hatte sich bereits jetzt als falsch herausgestellt. Anderthalb Kilometer würde Addie noch fahren und dann nach Newberg zurückkehren. Hoffentlich war im Hotel, an dem sie vorbeigefahren war, noch ein Zimmer frei.
Addie nahm ihr Handy zur Hand und suchte auf dem Bildschirm nach Netz. Doch das gab es hier auf dem Laurel Ridge offensichtlich nicht. Tara hatte sie genau davor gewarnt, doch Addie hatte sich keine Sorgen gemacht, bis das Wetter ihr einen Strich durch die Pläne gemacht hatte. Eigentlich hatte sie lange vor Einbruch der Dunkelheit an ihrem Ziel ankommen wollen.
Sie hatte versprochen, Emma Tonquin anzurufen, sobald sie das Haus erreicht hatte. Doch ein Anruf mitten in der Nacht würde Charlie Emmas Ehemann nur beunruhigen. Addie wollte ihre Freundin nicht in die unangenehme Situation bringen, Charlie erklären zu müssen, warum Addie sich in Oregon aufhielt. Emma wollte es ihrem Mann erst sagen, wenn Addie einen seiner Verwandten ausfindig gemacht hatte.
Sie würde Emma erst morgen anrufen und sie auf den neuesten Stand bringen. Danach würde sie mit der Suche beginnen. Irgendjemand hier in der Gegend, so hoffte Addie, würde sich an die Familie erinnern, die das Gelände am Tonquin-See bewohnt hatte