Untiefen

Mann, war das peinlich! Drei Tage waren seit seiner Ankunft verstrichen und sie konnte noch immer nicht fassen, dass er tatsächlich neben ihr saß.
Der Junge, in den sie sich als Teenager unsterblich verliebt hatte, war zurück. Und das ausgerechnet als Ermittler bei der Küstenwache, genauer gesagt, in ihrem Team des Coast Guard Investigative Service, kurz CGIS.
Mason reichte ihr den Korb mit den Maisklößchen, die das Restaurant anstelle von Brot als Vorspeise reichte. Dabei berührten sich ihre Hände und ihr Herz flatterte. »Danke«, sagte sie und hielt den Blick unverwandt auf den roten Korb gerichtet, während sie zwei der gebackenen Bällchen daraus nahm. Sie tat die noch warmen Klößchen auf ihren Teller. Reiß dich gefälligst zusammen, Mensch!
Das Brummen eines Bootsmotors, das sich in ein leises Tuckern verwandelte, drang vom Anleger herüber. Ein Teenager sprang aus dem weißen Außenborder auf den Steg und machte das Boot an der Klampe fest. Rissi genoss es, an einem Ort zu leben, an dem es ein Drive-in-Restaurant für Boote gab.
Noah hob sein Glas mit Eistee. »Alle mal herhören ...« Als Reaktion auf die Aufforderung ihres Vorgesetzten hoben die anderen Kollegen ebenfalls die Gläser.
Noah nickte in Masons Richtung. »Willkommen, Mason. Schön, dass du dabei bist.«
Alle stießen mit den Gläsern an, sogar Caleb, der mürrisch an Rissis linker Seite saß. So aufmerksam, wie er war, konnte ihm nicht entgangen sein, wie sie Mason ansah. Er hatte in den vergangenen Monaten Gefühle für Rissi entwickelt, also war es nicht verwunderlich, dass ihm Masons Auftauchen gar nicht gefiel – vor allem, nachdem er erfahren hatte, dass sie und Mason eine gemeinsame Geschichte hatten, obwohl er keine Einzelheiten kannte. Nur dass sie als Teenager einige Monate zusammen in einem Kinderheim verbracht hatten.
Die Anfangsakkorde von »Sweet Home Alabama« signalisierten, dass ein Anruf für Noah einging. Er erhob sich von seinem Platz und nahm das Gespräch an. »Rowley«, sagte er. »Ja?« Dann ging er die Rampe hinunter zum Bootsanleger des Restaurants.
»Rotbarsch-Tacos«, sagte die Kellnerin und stellte den Teller vor Rissi ab. Der süß tropische Duft von Mango-Salat zog durch die Luft.
Sie reichte einem nach dem anderen ihren Teller und stellte Noahs Burger an seinen Platz, während er weiter auf dem Steg auf und ab ging und telefonierte.
»Tut mir leid, Leute«, sagte er, als er wiederkam und sich setzte. »Rissi, Mason.« Er nickte in ihre Richtung. »Ich habe einen Job für euch. Draußen auf der Dauntless gibt es eine Leiche.«
»Auf dem Bohrschiff vor der Küste?«, fragte Mason und wischte sich einen Tropfen Limo von der Unterlippe.
Hör auf, ihn anzustarren. Ja, er sieht fantastisch aus. Und ja, zwischen euch war mal was. Aber ihn anzustarren, ist einfach unhöflich. Auch wenn sie keine Mutter hatte, die sie erzogen hatte, war sich Rissi inzwischen sehr im Klaren darüber, was gute Manieren waren.
Noah legte seine Serviette auf den Schoß. »Ihr müsst feststellen, ob es sich um einen Unfall handelt oder ob ein Verbrechen im Spiel war. In einer Dreiviertelstunde hebt ein Heli vom Landeplatz der Textra Oil ab. Ich will, dass ihr mitfliegt.«
Mason schob seinen Teller zurück. »Kein Problem.«
»Prima«, antwortete Noah. »Ihr fliegt mit einem Firmenhubschrauber, zusammen mit dem Einsatzleiter, einem Profi-Taucher und dem Mann, der den Toten auf der Insel ersetzen soll.«
Rissi nahm noch einen Bissen von ihrem Taco, bevor sie den Rest wieder auf den Teller legte. Dann tupfte sie sich mit der Serviette die Mundwinkel ab. »Da haben sie aber keine Zeit verschwendet, einen Ersatz zu finden.«
»Wir wissen, wer der Tote ist. Ich habe mit dem Einsatzleiter gesprochen und er sagte, sie müssen den Mann so schnell wie möglich ersetzen.«
»Muss ein wichtiger Job sein.« Rissi nahm ihr Glas und trank einen letzten Schluck.
»Das sollte man meinen«, nickte Noah. »Aber vor allem brauchen sie schnell Ersatz, weil sie ohnehin zu wenig Leute haben.«
Mason zog die Augenbrauen hoch, während er sich erhob. »Warum?«
»Mehrere Männer sind zu ihrer Drei-Wochen-Schicht nicht erschienen«, erwiderte Noah und schob sich eine Pommes in den Mund.
»Ich weiß, warum sie nicht ausgeflogen sind, als sie dran waren.« Am Tisch rechts von ihnen beugte sich ein alter Fischer vor.
»Warum denn?«, fragte Mason und trat hinter Rissis Stuhl, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
Sie warf ihm über die Schulter einen Blick zu und lächelte. »Danke.«
Er nickte.
Der Alte, der eine der schillerndsten Gestalten im Ort war, winkte sie mit dem Zeigefinger näher. »Dieses Schiff ist verflucht.«
»Verflucht?« Caleb lachte leise. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
Der alte Fischer bewegte den Finger hin und her. »Das ist nicht zum Lachen, junger Mann.«
»Ich bin sicher, es ist eine gute Story«, sagte Rissi an den Alten gewandt. Es gab keinen Grund, unhöflich zu sein. »Aber ich fürchte, wir müssen einen Helikopter erwischen.«
Der Fischer zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seinem Essen zu. »Es ist euer Leben, das auf dem Spiel steht.«
»Wie meinst du das?«, fragte Rissi. Nun war sie doch neugierig geworden.
»Das werdet ihr ja sehen.« Er lächelte und man sah, dass sein rechter Schneidezahn fehlte. »Henrys Fluch ist echt.«
»Henry?« Wieso ließ sie sich eigentlich in diese Unterhaltung hineinziehen?
Der Alte stieß ein hohes Lachen aus. »Ihr werdet schon noch erfahren, was es mit Henry auf sich hat.«
»Sollen wir?«, fragte Mason und zeigte auf die hölzerne Rampe, die zum Schotterparkplatz hinunterführte.
Sie verabschiedeten sich und gingen zum Parkplatz. Mason beugte sich ein wenig näher zu Rissi. Er roch nach Meer und Gewürzen und flüsterte: »Hat der Typ gerade wirklich gegackert?«
Rissi nickte. Aus irgendeinem Grund hatte die Spukgeschichte des alten Mannes sie neugierig gemacht.
»Ich dachte, das machen nur Figuren in Kinderfilmen.«
Rissi lachte.
»Ich an eurer Stelle würde nicht lachen«, rief der Fischer ihnen nach. »Seid vorsichtig da draußen, hört ihr? Das ist ein gefährlicher Ort.«
»Na, das war ja interessant«, sagte Mason auf dem Weg zum Parkplatz. Beinahe so interessant wie die Tatsache, dass er gerade allein mit Rissi zu seinem ersten Einsatz aufbrach.
»Vorhin hat mich eine Kollegin mitgenommen«, sagte sie, »also musst du wohl fahren.«
»Kein Problem.«
Sie sah sich auf dem Parkplatz um. »Wo steht dein Wagen?«
Er deutete mit dem Kinn auf eine Triumph Bonneville, die vielleicht einen Meter entfernt stand.
Sie neigte den Kopf anerkennend und musterte das Motorrad. »Nette Mitfahrgelegenheit.«
»Danke.«
»Ich kann dich fahren«, sagte Caleb, der die Rampe heruntergeschlendert kam und keinen halben Meter vor ihr stehen blieb. »Dann musst du nicht auf dem Ding da fahren.«
Mason senkte den Kopf ein wenig. »Dem Ding?«
»Hinten auf dem Motorrad«, erwiderte Caleb und richtete sich noch ein wenig mehr auf. »Im Auto ist es für Rissi doch bestimmt bequemer.«
Rissi blickte zu Caleb auf, der eins neunzig war oder vielleicht sogar noch größer, schätzte Mason. So oder so überragte er Rissi um einiges.
»Ich komme schon klar, aber danke«, sagte sie lächelnd. »Es ist praktischer, wenn ich mit Mason zum Flugplatz fahre.«
Calebs Unterkiefer zuckte im Licht der Scheinwerfer. Er schabte mit dem Schuh über den Schotter, sodass ein paar Steinchen aufstoben. »Okay. Aber sei vorsichtig.«
Calebs Blick wanderte zu Mason. »Pass gut auf sie auf.«
»Immer«, sagte Mason.
Caleb nickte und ging zur Rampe zurück.
Mason machte die rechte Satteltasche auf und zog einen Helm in Gelb und Orange heraus Den reichte er Rissi. »Für dich.«
»Danke.« Sie warf ihre Haare zurück und setzte den Helm auf.
»Lass mich mal kurz sehen.« Mason trat näher, um den Helm zu begutachten. Er musste schließlich richtig sitzen. »Ich verstelle ihn nur ein bisschen.« Er zog die Gurte straff und berührte dabei mit den Fingern leicht die zarte Haut an ihrem Hals.
»Sitzt er richtig?«, fragte sie und blinzelte zu ihm auf.
»J–« Er räusperte sich. »Ja, alles in Ordnung.«
»Super.«
Er nahm seinen eigenen Helm vom Tank, setzte ihn auf und schwang sich auf sein Motorrad. Rissi stieg hinter ihm auf und rückte näher, um sich an ihm festzuhalten.
Konzentrier dich, Mann. Kostbare Fracht.
»Bist du schon mal auf einem Motorrad mitgefahren?«, fragte er.
»Klar. Mit Logan. Keiner fährt so verrückt wie er. Als wollte er Weltmeister werden.«
Mason lachte. »Das ist eine treffende Beschreibung. Er hat mir gestern Abend die besten Strecken in der Gegend gezeigt. Hat Spaß gemacht.«
Sie lachte leise. »Das stelle ich mir lieber nicht vor.«
Mason drehte den Schlüssel in der Zündung und ließ den Motor aufheulen. Langsam fuhr er vom Schotterplatz. Als er die Straße erreicht hatte, gab er Gas.
Rissi klammerte sich an ihn, die Arme um seine Taille geschlungen. Er atmete scharf ein und betete, dass sie sein Zittern unter ihrer Berührung nicht bemerkte.
Sie überquerten die Brücke, die Wrightsville Beach mit Wilmington verband, und dann drehte er den Motor endgültig auf. Der Wind drückte gegen das Visier seines Helms. Salz lag in der Luft.
Sie hatten zwanzig Minuten, um den Helikopter zu erreichen. Das könnte knapp werden. Zum Glück hatte er bei seiner Ausfahrt mit Logan einige Abkürzungen durch die Stadt kennengelernt, die ihnen fünf Minuten Zeitersparnis einbringen würden.
Er blinkte und bog ab. »Halt dich fest!«, brüllte er Rissi über die Schulter zu.
Sie legte die Arme fester um seine Taille.
Mason schluckte. Vielleicht war das doch keine so gute Idee. Er musste sich auf die Serpentinen konzentrieren, die vor ihnen lagen. Während er um Konzentration betete, gab er Gas und schoss vorwärts.
Rissi hielt sich unverändert an ihm fest, aber ihr herrliches, ungezügeltes Lachen erhellte die Nacht.
Wenn er doch jetzt noch das flaue Gefühl im Magen loswerden könnte – das mulmige Gefühl, dass sie gerade auf eine ganz andere Gefahr zusteuerten.