Steven Roark hat mehrere Gründe, ins beschauliche Hope Harbor zu ziehen: Einerseits möchte er nach seinen Auslandseinsätzen als Soldat endlich ein Zuhause finden. Andererseits fühlt er sich verpflichtet, seinen Bruder im Auge zu behalten, der offenbar das Alkoholproblem ihres Vaters »geerbt« hat.
Doch sein Job als Besitzer eines Charterfischerbootes erfüllt Steven nicht und die Versuche, die Probleme seines Bruders zu lösen, lassen die Situation nur weiter eskalieren.
Dass die sympathische Grundschullehrerin Holly Miller in Stevens Leben tritt, löst eine zusätzliche Lawine aus – an Emotionen. Trotz all ihrer Unterschiede fühlen sich Holly und Steven unwiderstehlich zueinander hingezogen. Doch sie sind beide zutiefst geprägt von schmerzhaften Erfahrungen ihrer Vergangenheit – und so verschieden wie Tag und Nacht. Bei all diesen Differenzen scheint eine gemeinsame Zukunft völlig ausgeschlossen ... oder?
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Kapitel 1
Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, nach Oregon zu ziehen.
Mit einem tiefen Seufzen stapfte Steven Roark zum Heck seines sieben Meter langen Fischerboots, auf dem er den größten Teil seiner Tage verbrachte, und kontrollierte den Schiffsknoten.
Der Knoten war fest und sicher.
Das war mehr, als er von seinem Platz auf der Welt – oder in Hope Harbor – sagen konnte.
Er bückte sich und verschwand in der zusammenklappbaren Leinenkabine, die seinen Charterkunden an windigen, kalten Tagen – wie heute, an diesem letzten Märzsamstag – ein wenig Schutz bot. Er sank auf einen Klappstuhl und massierte seine Stirn.
Aus beruflicher Sicht war es ein erfolgreicher Tag gewesen. Dafür, dass es noch so früh im Jahr war, hatte es im Fluss im Norden der Stadt ungewöhnlich viele Regenbogenforellen gegeben und seine Kunden waren mit ihrem Fang zufrieden gewesen. Einer von ihnen hatte sogar einen Zwanzigpfünder am Haken gehabt.
Aus persönlicher Sicht war dieser Tag jedoch ein totaler Reinfall.
Steven beugte sich vor, öffnete den Deckel eines eingebauten Materialcontainers und nahm den Umschlag, den er gestern aus seinem Briefkasten geholt hatte. Die Adresse war in Cindys fließender, geschwungener Handschrift geschrieben.
Er zog die Karte heraus, las den gedruckten Vers noch einmal und überflog die Glückwünsche, die seine Schwägerin unter einen schief lächelnden Smiley geschrieben hatte.
Den Smiley hatte sein Neffe gemalt.
Sein Bruder hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Karte selbst zu unterschreiben. Das hatte Cindy für ihn übernommen.
Stevens Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als er die Karte wieder in den Umschlag steckte. Dann beugte er sich vor und stützte die Ellbogen auf seine Knie.
Was für ein Geburtstag!
Seine einzige Gesellschaft waren Fische, ein paar lästige Seemöwen und drei schweigsame Kunden gewesen. Kein Kuchen oder Festessen mit Freunden oder Angehörigen. Keine Glückwünsche von seinem jüngeren Bruder und kein Durchbruch in ihrer Beziehung.
Wenn er bei Patrick nach fast einem Jahr immer noch nicht weitergekommen war, war es sehr unwahrscheinlich, dass das in Zukunft geschehen würde, solange sich nichts Grundsätzliches im Leben seines Bruders änderte.
Steven seufzte.
Er hatte es vor zwölf Monaten als richtige Entscheidung angesehen, aus der Armee auszuscheiden, nachdem ihn Cindys beunruhigender Brief im Mittleren Osten erreicht hatte. Aber jetzt im Rückblick …
»Hallo? Ist jemand an Bord?«
Steven fuhr hoch und blickte mit zusammengekniffenen Augen durch das Folienfenster.
Eine schlanke Frau Anfang dreißig stand neben seinem Boot auf dem Kai und drückte eine Mappe an ihre Brust. Der böige Wind wehte ihr langes hellbraunes Haar um ihr Gesicht. Sie schob die Haare zurück und versuchte in die Kabine zu spähen.
Da es an diesem grauen Tag – und wegen des Nebels, der aufgezogen war – hier drinnen ziemlich dunkel war, konnte sie vielleicht nicht sehen, dass er hier war.
Er hatte also zwei Möglichkeiten:
Er könnte sich im Schatten der Kabine verbergen und sie
ignorieren. Oder er könnte sich selbst ein Geburtstagsgeschenk machen und sich ein paar Minuten mit einer attraktiven Frau unterhalten.
Da ihn heute nur ein einsamer Abend erwartete, brauchte Steven nicht lange zu überlegen. Vorausgesetzt, diese Frau war nicht wegen irgendeiner lästigen Sache hier.
Er legte die Karte weg, schob die Leinwand zurück und trat aufs Heck.
Die Frau drückte die Mappe noch fester an sich und musterte ihn vorsichtig.
Angesichts seines zerzausten Zustands nach einem ganzen Tag auf dem Wasser und des Dreitagebarts, der inzwischen einen dunklen Schatten auf sein Kinn und seine Wangen warf, war das verständlich.
»Kann ich etwas für Sie tun?« Da sie steif und fluchtbereit auf dem Kai stand, blieb er lieber stehen, wo er war.
»Steven Roark?«
»Schuldig.«
»Ich bin Holly Miller. Kann ich ein paar Minuten mit Ihnen sprechen?«
»Das kommt darauf an.«
Leichte Falten traten auf ihre Stirn. »Worauf?«
»Auf den Grund für Ihren Besuch. Ich bin nicht in der Stimmung, mir etwas andrehen zu lassen.«
»Ich will Ihnen nichts verkaufen.«
»Dann können wir reden.« So lange sie wollte, da er nichts Besseres zu tun hatte.
Wie armselig, dass der Lichtblick seines Geburtstags ein Besuch von einer nervösen Frau war, die aussah, als könne sie es nicht erwarten, schnell wieder fortzukommen.
Aber das war besser, als in eine leere Wohnung nach Hause zu gehen.
»Ähm.« Sie ließ ihren Blick über den Hafen schweifen. »Könnten wir uns irgendwo hinsetzen? Dort hinten vielleicht?« Sie deutete hinter sich zu der halbmondförmigen Straße. Entlang des Gehwegs am Dockside Drive standen Bänke und Pflanztröge mit Blick auf die Felsen, die zum Wasser hinabführten.
»Ich muss hier noch ein paar Arbeiten erledigen. Kommen Sie doch einfach an Bord.«
Holly Miller bedachte das Boot mit einem zweifelnden Blick. »Ich habe keine guten Seemannsbeine.«
»Hier im Hafen ist das Wasser ganz ruhig.« Steven hielt ihr die Hand hin und trat näher auf sie zu, sorgsam darauf bedacht, nicht wie üblich die Dinge in die Hand zu nehmen. Ihre angespannte Haltung verriet, dass er sie damit vielleicht einschüchtern und verjagen würde. »Ich helfe Ihnen aufs Deck und wir können uns dort drüben hinsetzen.« Er deutete zu den nicht überdachten Sitzen am Rand des Hecks.
In der Leinwandkabine, die er für seine Chartertour heute aufgebaut hatte, wäre es wärmer – und windgeschützter –, aber trotz der Fenster war es sicherer, im Freien zu bleiben. Man konnte nicht vorsichtig genug sein.
»Okay.« Sie schluckte, nahm seine Hand und setzte zögernd einen Fuß aufs Seitendeck.
Das Boot schaukelte unmerklich, als sie ihr Gewicht verlagerte. Sie keuchte und verstärkte ihren Griff um seine Hand.
»Ihnen passiert nichts. Ich halte Sie. Kommen Sie.«
Sie befolgte seine Anweisungen, aber ihre Bewegungen waren ziemlich unbeholfen. Sobald sie mit beiden Beinen auf dem Deck stand, tastete sie nach der Bank und ließ sich ungelenk darauf nieder.
So hübsch seine Besucherin auch war, schien sie, was anmutige Bewegungen betraf, ein Defizit zu haben.
Die leichte Röte, die über ihre Wangen kroch, verriet, dass sie das wusste.
Er setzte sich auf die andere Seite des Hecks und ließ viel Platz zwischen ihnen. »Was führt Sie zu mir? Überschwängliche Begeisterung für Fischerboote ist offensichtlich nicht der Grund für Ihren Besuch.« Er zog einen Mundwinkel hoch. Holly Miller wirkte so verschlossen wie die Schwarzen Turbanschnecken, die an der Küste von Oregon überall an den Felsen klebten. Vielleicht würde ihr ein wenig Humor helfen, sich zu entspannen.
Fehlanzeige.
Ihre Lippen verzogen sich keinen Millimeter, während sie die Mappe auf ihren Schoß legte, einen Fussel von ihrer Jeans zupfte und den Reißverschluss an ihrer Windjacke so weit wie möglich zuzog. »Kennen Sie die ehrenamtliche Hilfsorganisation Helfende Hände hier in der Stadt?«
»Ja.«
»Ich gehöre zu einer Arbeitsgruppe, die ein Galadinner mit Versteigerung vorbereitet, um Geld für eine neue Lebensschutz-
initiative zu sammeln. Wir versuchen Sachspenden für die Versteigerung zu bekommen. Pastor Baker von der Grace-Chris-
tian-Gemeinde hat erwähnt, dass Sie vielleicht zu einer Spende bereit wären. Das ist der Grund für meinen Besuch.«
Steven unterdrückte nur mühsam ein Stöhnen.
Das hatte er davon, dass er sich von Cindy hatte überreden lassen, bei der Lebensmittelsammlung einer Kirchengemeinde mitzuhelfen, zu der er nicht einmal gehörte! Und dann hatte ihn seine Schwägerin auch noch quer durch den Raum gezerrt, um ihn dem Pfarrer vorzustellen.
Das stellte wieder einmal die Wahrheit des alten Sprichworts unter Beweis, dass keine gute Tat ungestraft bleibt.
Aber noch schlimmer war, dass seine Besucherin von allen Anliegen, für die sie sich einsetzen könnte, ausgerechnet diese Initiative unterstützen musste!
Als sich das Schweigen in die Länge zog, räusperte sie sich. »Ich hatte, ähm, gehofft, dass Sie vielleicht bereit wären, einen Charterangelausflug zu spenden. Oder zwei. Oder vielleicht vier, wenn das möglich ist. Alle Geschäftsleute, mit denen wir gesprochen haben, sind sehr großzügig. Heute Morgen war ich bei dem Betreiber der Frühstückspension Seabird Inn. Er spendet ein Wochenend-Romantikpaket für eines seiner Zimmer.«
Wenn sie glaubte, dass sie ihn mit Schuldgefühlen dazu bringen könnte, ihre Sache zu unterstützen, war sie auf dem Holzweg.
»Wofür soll das Geld, das Sie einnehmen, verwendet werden?« Steven konnte sich die Antwort denken, aber mit dieser Verzögerungstaktik gewann er ein paar Sekunden, in denen er sich überlegen konnte, wie er ihre Bitte ausschlagen konnte, ohne als herzloser Klotz dazustehen.
Holly Miller schlug die Mappe auf ihrem Schoß auf, zog ein Blatt Papier heraus und hielt es ihm hin. »Hier wird die Sache im Detail erklärt. Kurz gesagt: Wir sammeln Geld, um Bemühungen zu unterstützen, die das Leben schützen, egal in welchem Stadium. Zum Beispiel Abtreibungsalternativen wie die Kostenübernahme für Frauen, die bereit sind, ihr Kind auszutragen, und die Vermittlung von Adoptionsagenturen. Ein anderer Bereich ist die Abschaffung der Todesstrafe.«
Er kniff die Augen zusammen. »Aber mit der Hinrichtung eines überführten Gewaltverbrechers wird doch verhindert, dass er noch mehr unschuldige Menschen tötet.«
»Das erreicht man auch mit einer lebenslangen Haft.«
»Mit hohen Ausgaben für den Steuerzahler.«
»Wie wollen Sie den Preis für ein Menschenleben berechnen?«
»Es gibt praktische Erwägungen.«
»Aber auch ethische.«
Er widerstand der Versuchung, diese Diskussion fortzusetzen, und überflog das Blatt, das sie ihm gegeben hatte. Bei diesem Thema kämen sie auf keinen grünen Zweig, warum sollte er also an seinem Geburtstag darüber diskutieren? Oder ein Gespräch in die Länge ziehen, das zu nichts führte? Dieser Tag war schon deprimierend genug.
»Ich werde es mir überlegen.« Er faltete das Blatt zusammen, steckte es in seine Jackentasche und stand auf.
Bei seiner unhöflichen, abweisenden Reaktion sah Holly Miller ihn überrascht an. Nach einem kurzen Zögern stand sie ebenfalls auf.
Sie verlor fast das Gleichgewicht.
Schon wieder.
Er hielt ihren Arm fest. »Vorsicht.«
»Entschuldigung. Ich bin eine Landratte.« Sie lächelte ihn schwach an.
Das mochte sein, aber das erklärte ihre Gleichgewichtsstörungen nicht.
Sie schwankte genauso wie Patrick manchmal.
Aber diese Frau mit ihren klaren braunen Augen schien nicht mit dem gleichen Problem zu kämpfen wie sein Bruder.
Natürlich konnte der erste Eindruck täuschen. Deshalb war es wichtig, zuerst die Fakten zu sammeln und dann auf Basis der Beweise, die man ausgegraben hatte, Entscheidungen zu treffen und dabei immer das größere Ziel im Auge zu behalten.
Mit dieser Devise hatte er in der Vergangenheit einige seiner Entscheidungen gerechtfertigt.
Als sich die junge Frau von seinem Griff befreite und abwandte, um von Bord zu gehen, änderte er seine Taktik. »Lassen Sie mich vorausgehen.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, sprang er auf den Kai und hielt ihr eine Hand hin.
Nach einem kurzen Zögern ergriff sie seine Hand und stieg auf den Sitz. Sie schwankte. Nachdem er seinen Griff verstärkt hatte, stand sie wieder sicher.
»Nur noch ein Schritt.« Steven half ihr und sie schwang sich in die Höhe.
Als sie neben ihm auf dem Kai stand, zog sie ihre Hand zurück.
Obwohl sie immer noch nicht übermäßig sicher auf den Beinen zu stehen schien, ließ er sie los, blieb aber vorsichtshalber neben ihr stehen.
Holly Miller drückte die Mappe wieder an ihre Brust. »Danke für Ihre Zeit. Falls Sie sich entscheiden, sich an der Aktion zu beteiligen, melden Sie sich bitte bei Helfende Hände unter der Nummer auf dem Blatt, das ich Ihnen gegeben habe.«
»Könnte ich nicht lieber Sie anrufen?«
Sobald er diese Worte gesagt hatte, runzelte Steven die Stirn. Woher zum Kuckuck war das jetzt gekommen? Warum suchte er Kontakt zu einer Frau, die schnellstens Reißaus nehmen würde, wenn sie seine Geschichte kennen würde?
Ihre hochgezogenen Brauen verrieten, dass seine Frage sie genauso überraschte wie ihn selbst. »Ich, ähm, kann Ihnen meine Nummer und meine E-Mail-Adresse geben.«
Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Er zog sein Handy heraus. »Ich bin bereit.«
Sie nannte ihm ihre Kontaktdaten und Steven gab ihre Telefonnummer und ihre berufliche E-Mail-Adresse in sein Adressbuch ein. »Sie arbeiten für den Schulbezirk?«
»Ja.«
Mehr sagte sie nicht dazu.
Das war verständlich. Er war ein Fremder und es war klug von ihr, vorsichtig zu sein.
Aber er stellte keine Bedrohung für sie dar.
Es war sehr unwahrscheinlich, dass sie je wieder von ihm hören würde. Auch wenn er gern bereit war, wohltätige Zwecke zu unterstützen, widersprach diese spezielle Initiative seiner persönlichen Geschichte.
Er deutete zum Dockside Drive. »Ich begleite Sie, bis Sie festen Boden unter den Füßen haben.«
»Nicht nötig.« Als sie zurücktrat, stieg ihm ein schwacher, angenehmer Blumenduft in die Nase. »Ich halte Sie schon lange genug von Ihrer Arbeit ab.«
»Das macht nichts.«
»Danke, aber ich komme allein zurecht.« Ihr Kinn hob sich ein wenig. »Ich habe zwar vielleicht nicht den besten Gleichgewichtssinn, aber ich bin sehr wohl in der Lage, selbst auf mich aufzupassen. Ich überlasse Sie wieder Ihrer Arbeit auf dem Boot.«
Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und ging wackelig über den Kai zum Dockside Drive.
Steven verschränkte die Arme vor seiner Brust und unterdrückte den Drang, ihr zu folgen, um sie aufzufangen, falls sie strauchelte. Die Frau hatte klargestellt, dass sie nicht von ihm festgehalten werden wollte.
Sie wollte nur eine Spende.
Leider konnte er ihrer Bitte nicht nachkommen.
Nach allem, was er getan hatte, war er wirklich der Letzte, der sich für eine Lebensschutzinitiative engagieren sollte.
* * *
Fall nicht hin! Fall nicht hin! Fall nicht hin!
Holly konzentrierte sich darauf, auf den Holzbrettern einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Das Gehen auf einem festen Untergrund stellte sie vor keine großen Probleme, aber ein unebener Boden konnte kritisch sein.
Obwohl sie in ihrem Leben schon oft gestürzt war, empfände sie es aus irgendeinem Grund als schmerzliche Demütigung, vor Steven Roarks Augen auf die Nase zu fallen.
Dieser Mann beobachtete sie hundertprozentig. Sein durchdringender Blick brannte förmlich ein Loch in ihren Rücken.
Nur noch wenige Meter, Holly. Dann hast du wieder festen Boden unter den Füßen. Du schaffst das.
Sie konzentrierte sich auf ihr Ziel und atmete erleichtert auf, als ihre Sohlen den asphaltierten Gehweg berührten.
Der Weg von hier zu ihrem Auto war ein Kinderspiel.
Sie beschleunigte ihre Schritte und runzelte die Stirn, als sich plötzlich der Wunsch in ihr regte, über die Schulter einen letzten Blick auf den Mann mit dem Charterfischerboot zu werfen. Was sollte das? Warum wollte sie Steven Roark noch einmal sehen?
Er hatte sich definitiv keine Mühe gegeben, charmant zu sein. Ja, er hatte sich anständig und höflich benommen, aber bei ihrem kurzen Wortwechsel zum Thema Todesstrafe war er unerbittlich gewesen.
Die Todesstrafe war für viele ein heißes Eisen und beide Seiten hatten überzeugende Argumente.
Er hatte das Gespräch jedoch so abrupt beendet, dass er bestimmt nicht offen für eine weitere Diskussion war. Er hatte es unübersehbar sehr eilig gehabt, sie wieder loszuwerden.
Kein Wunder, dass sie verunsichert und aufgewühlt war.
Dazu kam, dass Steven Roark ganz anders war, als sie erwartet hatte. Dieser schweigsame, abweisende Mann hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinem liebenswerten sechsjährigen Neffen. Und er war auch völlig anders – sowohl in seinem Auftreten als auch in seinem Aussehen – als der blonde ruhige Vater des Jungen, der mit seiner Frau zum Elternsprechtag der Erstklässler gekommen war.
Trotzdem kostete es sie viel Selbstbeherrschung, der Versuchung zu widerstehen, sich noch einmal zu ihm umzudrehen.
Holly trat um zwei Möwen herum, die hartnäckig auf dem Gehweg standen und sie unverwandt anschauten.
Für ihre eigene Reaktion konnte es nur eine Erklärung geben:
Abgesehen von der brüsken Art, mit der er das Gespräch beendet hatte, strahlte dieser Mann etwas Faszinierendes aus. Dazu kamen sein großer, durchtrainierter Körper, sein starkes Kinn, sein windzerzaustes braunes Haar und seine durchdringenden dunkelbraunen Augen.
Er war der Typ, der Frauen gefiel, die auf große, dunkelhaarige, gefährliche Männer standen.
Aber zu diesen Frauen gehörte sie nicht. Steven Roark war das Gegenteil von dem romantischen Helden ihrer Träume. Eigentlich sollte nichts an ihm ihre Nerven zum Kribbeln bringen.
Aber das Kribbeln war da.
Wer hätte das gedacht!
Als sich erneut die starke Versuchung in ihr regte, sich umzudrehen, schnaubte sie laut.
Schluss damit!
Holly war zu seinem Boot gegangen, um ihn um eine Sachspende zu bitten. Punkt. Der nächste Schritt – falls es einen geben sollte – müsste von ihm kommen.
Sie richtete ihren Blick auf den Weg, der zu ihrem Auto führte, und ging weiter. Plötzlich stieg ihr der verlockende Duft von gegrilltem Fisch in die Nase.
Das Wasser lief ihr im Mund zusammen und sie ließ ihren Blick durch den kleinen Park zwischen dem Hafen und dem Fluss am anderen Ende des Dockside Drive wandern. Das Verkaufsfenster des Tacostands, der eine feste Institution im Park war, war offen. Charley Lopez hatte sich auf die Verkaufstheke gestützt und war in ein Gespräch mit einem Kunden vertieft.
Holly zögerte.
Für ein Abendessen war es noch sehr früh. Aber nach dieser aufwühlenden Begegnung mit Steven Roark könnten Charleys köstliche Tacos eine angenehme, beruhigende Wirkung haben.
Und sie würde sich zu Hause das Kochen sparen.
Damit stand ihr Entschluss fest.
Sie wechselte die Richtung und trat auf das Verkaufsfenster zu, über dem in bunten Buchstaben auf weißem Hintergrund der Name des Betreibers stand.
Während sie näher kam, nahm der Kunde seine Bestellung, hob zum Abschied die Hand und schlenderte davon.
»Ah, wenn das nicht meine Lieblingslehrerin ist!« Charleys Mundwinkel hoben sich und in seinen Augenwinkeln bildeten sich tiefe Fältchen.
»Ich wette, dass du das zu allen Lehrerinnen sagst.« Sie lächelte den Mann mit der gegerbten milchkaffeebraunen Haut an, der eine Ducks-Kappe über seinem langen grauen Pferdeschwanz trug.
Sonderbar, wie leicht es ihr fiel, sich mit Charley zu unterhalten, obwohl sie ihre Menschenscheu seit ihrer Kindheit nie ganz hatte ablegen können.
»Ich habe viele Lieblingsmenschen. Alle aus verschiedenen Gründen.«
»Eine diplomatische Antwort.«
»Es ist trotzdem die Wahrheit.« Charley grinste sie an. »Kommst du, um Hallo zu sagen, oder hast du Appetit auf Tacos?«
»Ich möchte Tacos. Auf dem Rückweg vom Kai habe ich deinen gegrillten Fisch gerochen und konnte nicht widerstehen.«
»Das ist meine beste Werbung. Neben der Mundpropaganda.« Er zog zwei Fischfilets aus einer Kühlbox und legte sie auf den Grill. »Was hattest du am Kai zu tun?«
Holly fasste ihren Besuch bei Steven Roark kurz zusammen. »Aber ich fürchte, mein Verkaufsgeschick ist nicht so gut wie deines. Er hat sich nicht zu einer Spende überreden lassen.«
»Vielleicht will er sich nur in Ruhe überlegen, wie er am besten helfen kann.« Charley warf eine Handvoll geschnittene Zwiebeln und rote Paprika in die Pfanne und begann einen Chipotle zu schneiden.
»Das glaube ich nicht. Ich hatte den Eindruck, dass er von dem Anliegen, das wir mit der Versteigerung unterstützen wollen, nicht angetan ist.«
»Tatsächlich?« Er war mit dem Chipotle fertig. »Das überrascht mich. Er scheint sehr nett zu sein.«
»Du kennst ihn?« Holly bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall. Selbst wenn der Mann mit dem Charterfischerboot ihre Neugier geweckt hatte, brauchte das niemand zu wissen.
»Du etwa nicht?«
»Nein. Sollte ich?«
»Vielleicht nicht. Soweit ich es beurteilen kann, bleibt Steven die meiste Zeit für sich.« Charley holte eine Limone aus der Kühlbox und schnitt sie in Stücke. »Dich sehe ich auch nicht sehr oft.«
»Das hat nichts mit deinen Kochkünsten zu tun, das kannst du mir glauben. Ich habe alle Hände voll damit zu tun, mich in meiner neuen Arbeit zurechtzufinden und mich einzugewöhnen. Die Kirche ist so ziemlich der einzige Ort, an dem ich private Kontakte habe.«
Das war traurig, aber wahr.
Mit ihrem Umzug von Eugene nach Hope Harbor im Januar hatte sie zwar ihre Selbstständigkeit unter Beweis stellen können, aber ihr Plan, mehr Würze in ihr soziales Leben zu bringen, ging bis jetzt nicht auf.
»Ich nehme an, dass Steven auch viel zu tun hat. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum man ihn kaum sieht. Natürlich ziehen sich Menschen auch dann zurück, wenn sie viel nachdenken. Oder wenn sie unsicher sind.« Er schaute sie schnell an und wandte sich dann wieder dem Grill zu.
Sie starrte mit zusammengekniffenen Augen auf seinen Rücken. Hatte er mit dieser letzten Bemerkung sie gemeint?
Nein.
Was für ein lächerlicher Gedanke!
Charley kannte sie nur flüchtig. Er wusste nichts über ihre Geschichte.
Außerdem wuchs ihr Selbstvertrauen mit jedem Tag.
»Warum glaubst du, dass er viel nachdenkt?« Sie wollte das Gespräch lieber wieder auf Steven Roark lenken.
Charley legte drei Maistortillas auf den Grill und streute sein Spezialgewürz auf die Fische und das Gemüse. »Nenne es Intuition. Jedenfalls nehme ich an, dass ihm Freunde guttun würden. Findest du nicht auch, Floyd?« Bei dieser Frage blickte er über ihre Schulter auf irgendetwas hinter ihr.
Holly drehte sich um. Auf der anderen Seite des stark belebten Dockside Drive säumten mehrere Geschäfte mit ihren Markisen die Straße; davor standen Pflanztröge, die darauf warteten, mit Frühlingsblumen bepflanzt zu werden. Aber direkt hinter ihr war weit und breit niemand zu sehen.
Mit wem hatte Charley …?
Ein lautes Kreischen ertönte neben ihren Füßen und Holly sprang erschrocken zurück.
Keinen Meter neben ihr standen zwei Möwen. Die eine musterte sie forschend, während der andere Vogel ein glucksendes Geräusch von sich gab, das wie ein Lachen klang.
Charley beugte sich aus dem Fenster. »Hey, Gladys. Ich wusste nicht, dass du auch da bist.«
Holly atmete tief ein, um ihre Nerven zu beruhigen, während ihr Schreck einem fröhlichen Kichern wich. »Du kennst diese Möwen?« Der weise Mann wurde seinem Ruf als exzentrischer Künstler und Tacokoch wieder einmal gerecht.
»Wir sind alte Freunde. Nicht wahr, ihr zwei?«
Gladys gluckste wieder und Charley richtete sich schmunzelnd auf und machte die Tacos fertig.
»Du hast ungewöhnliche Freunde.« Holly zog ihr Portemonnaie aus der Tasche, behielt aber die beiden Vögel im Auge, die ihr für ihren Geschmack ein wenig zu nahe gekommen waren.
Sie waren ähnlich hartnäckig wie die beiden Möwen auf dem Gehweg, die sich geweigert hatten, ihr Platz zu machen, als sie aus dem Hafen gekommen war.
War es möglich, dass die beiden ihr hierher gefolgt waren?
Holly verdrehte die Augen und verdrängte diesen albernen Gedanken.
Als ob Möwen so weit denken würden!
»Freunde kommen in allen möglichen Gestalten und aus allen möglichen Ecken.« Charley wickelte die Tacos in weißes Papier. »Viele Menschen schreiben potenzielle Freunde ab, weil sie auf den ersten Blick zu unterschiedlich erscheinen. Das Geheimnis liegt darin, einen zweiten Blick zu riskieren und nicht nur das Äußere, sondern auch das Herz zu sehen.«
Holly zählte ihr Geld hin. »Das klingt in der Theorie logisch.«
»Es funktioniert auch in der Praxis. Nicht wahr, Floyd?«
Als Antwort stiegen die Möwen mit einem Kreischen und schlagenden Flügeln in die Luft und flatterten in Richtung von Stevens Boot davon.
Wahrscheinlich flogen sie einfach ganz allgemein zum Hafen, da er eine gute Nahrungsquelle bot. Dank der Fischerboote, die in den geschützten Gewässern zwischen den zwei Inseln auf der rechten Seite und den Wellenbrechern auf der linken Seite vor Anker lagen, fanden die Möwen reichlich Nahrung.
Die beiden Möwen steuerten jedoch Stevens Boot direkt an und kreisten darüber.
Sonderbar.
Charleys nachdenkliche Miene verriet, dass er das Gleiche dachte, als sie sich wieder umdrehte, um ihre Tacos zu bezahlen. »Seltsam.« Er ließ das gefiederte Duo nicht aus den Augen.
»Wieso?«
Er zeigte seine weißen Zähne. »Floyd und Gladys hängen normalerweise hier herum, bis ich ihnen ein Stück Fisch hinwerfe. Es sei denn, eine andere Mission ist wichtiger.« Ohne Holly die Gelegenheit zu geben, ihn noch weiter zu befragen, reichte er ihr die Tacos. »Guten Appetit.«
»Immer.« Sie gab ihm einige Geldscheine.
»Einen Moment. Du bekommst gleich dein Wechselgeld.«
Sie winkte ab. »Das ist nicht nötig. Wenn du Kreditkarten nehmen würdest, bräuchtest du keine Wechselgeldkasse.« Sie deutete auf das Schild »Nur Barzahlung« neben dem Verkaufsfenster.
»Warum muss man einen einfachen Geschäftsvorgang durch Computer und Chiffrierung und Clouds unnötig erschweren? Die Leute heute neigen dazu, die Dinge komplizierter zu machen, als nötig wäre. Wenn ich das Wort Cloud höre, denke ich an eine Wolke, die ich malen will.« Charley deutete zum Himmel, wo weiße Federwolken und ein blauer Himmel den Nieselregen immer mehr zurückdrängten.
»Von einem Künstler erwarte ich auch nichts anderes.« Holly atmete den köstlichen Duft ein, der von der Tüte aufstieg.
»Jeder Mensch ist ein geborener Künstler. Die Herausforderung besteht darin, dass man auch als Erwachsener Künstler bleibt. Das hat Picasso sehr richtig erkannt.«
»Aber nicht jeder hat dein Talent mit Pinsel und Farbe.«
»Aber wir können alle mit den Augen eines Künstlers sehen. Wir müssen nur unsere vorgefertigten Meinungen über Bord werfen, für unerwartete Möglichkeiten offen sein und mit dem Herzen hören. Und einen Glaubensschritt wagen.« Charley grinste. »Das war mein Wort zum Tag. Lass dir die Tacos schmecken.«
Holly machte den Platz vor Charleys Fenster für ein Paar frei, das sich an den Händen hielt, und ging mit etwas leichteren Schritten zu ihrem Auto. Wie immer hatte sie der kurze Besuch bei Charley aufgemuntert und ihr sowohl für den Kopf als auch für den Magen Nahrung gegeben.
Über Steven Roark hatte sie jedoch nichts in Erfahrung gebracht.
Obwohl der Tacokoch sehr viel über die Bewohner von Hope Harbor zu wissen schien, war er die Diskretion in Person.
Das bedeutete, dass sie eine andere Informationsquelle finden müsste, wenn sie mehr über den Fischer wissen wollte.
Zuvor sollte sie sich allerdings klar werden, warum sie so erpicht darauf war, mehr über einen Mann zu erfahren, der vor einer Stunde noch ein Fremder gewesen war.
An der Tür ihres Honda Civic drehte Holly sich leicht zum Hafen herum. Stevens Boot war zu weit weg, um es erkennen zu können, aber die zwei Möwen kreisten immer noch über der Stelle, wo sein Boot lag.
Auch wenn Charley den Fischer als netten Mann bezeichnet hatte, würde sie wetten, dass er bereits beschlossen hatte, für die Spendenaktion von Helfende Hände nichts zu geben.
Wirklich schade! Ein Ausflug auf seinem Charterboot würde bei der Versteigerung eine ansehnliche Summe einbringen.
Mit dem Autoschlüssel in der Hand legte sie den Kopf schief und beobachtete die Möwen.
Falls sie sich noch einmal aus ihrer Komfortzone herauswagen wollte – einen Glaubensschritt wagen wollte, wie es Charley formuliert hatte –, könnte sie Roark einen zweiten Besuch abstatten und ihre Bitte um eine Spende wiederholen. Immerhin war sie von dieser Sache fest überzeugt.
Aber das wäre nicht der einzige Grund, warum du wieder zu ihm gehen würdest, Holly.
Bei der tadelnden Erinnerung ihres Unterbewusstseins öffnete sie die Autotür und stieg ein.
Also gut. Sie konnte die Wahrheit zugeben.
Ihre Gründe, noch einmal zu ihm zu gehen – falls sie beschließen sollte, ihrem Impuls zu folgen –, wären nicht ganz uneigennützig.
Denn trotz seiner einschüchternden Persönlichkeit, trotz des intuitiven Gefühls, dass es sicherer wäre, einen weiten Bogen um ihn zu machen, war Steven Roark der faszinierendste Mann, dem sie je begegnet war.
Und sie wollte ihn wiedersehen.
Irene Hannon
Irene Hannon studierte Psychologie und Journalistik. Sie kündigte ihren Job bei einem Weltunternehmen, um sich dem Schreiben zu widmen. In ihrer Freizeit spielt sie in Gemeindemusicals mit und unternimmt Reisen. Die Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann in Missouri.
Webseite: www.irenehannon.com
Instagram: irenehannonauthor
Facebook: Irene Hannon
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