England 1931
Die schüchterne Audrey gehört zum englischen Adel und lebt mit ihren Eltern und ihrem Bruder in einem prächtigen Herrenhaus auf dem Land. Äußerlich fehlt es ihr an nichts, doch als sie der lebenslustigen Eve über den Weg läuft, der Tochter einer Zofe, weckt deren Unbekümmertheit ungeahnte Sehnsüchte in ihr. Schnell werden die beiden beste Freundinnen, aber die soziale Kluft erweist sich als größer als gedacht ...
Jahre später, während des Zweiten Weltkriegs, melden sich beide Frauen wie viele andere Engländerinnen freiwillig und unterstützen ihr Land als Rettungswagenfahrerinnen im Kampf gegen Nazideutschland. Als der Krieg endlich zu Ende ist, hoffen sowohl Audrey als auch Eve auf ein besseres Leben in Übersee. Doch welchen Preis sind sie dafür bereit zu zahlen?
Ein faszinierender Familienroman über Freundschaft, Verrat, Liebe und Vergebung.
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Prolog
USA, 1950
Sie lag in einem Liegestuhl am Swimmingpool ihrer Schwiegermutter und genoss die warme Sommersonne. Wolken wie Watte und der blaue Himmel spiegelten sich in dem klaren Wasser – bis der vierjährige Robbie mit einem Juchzer hineinsprang, die stille Wasseroberfläche durchbrach und sie mit eisigen Tropfen nass spritzte. »Komm rein, Mommy. Das Wasser ist warm!«
»Jetzt nicht, Liebling. Vielleicht später.« Sie wischte ihre Sonnenbrille ab und schlug das Life-Magazin auf.
Sie lag lieber gemütlich in der Sonne.
Jemand rief ihren Namen. »Miss Audrey?« Sie drehte sich um und sah das Hausmädchen ihrer Schwiegermutter eilig aus dem Haus kommen. »Miss Audrey? Tut mir leid, dass ich Sie störe, Ma’am, aber Sie kommen besser rein.«
»Was ist denn, Nell?«
Robbie sprang wieder mit einem lauten Platschen in den Pool, sodass sie beide nass wurden. Nell schien den kalten Regen gar nicht wahrzunehmen.
»Da steht eine Frau vor der Tür, die behauptet, sie wäre Sie. Sie redet sogar wie Sie. Hat einen kleinen Jungen und einen ganzen Haufen Koffer dabei.«
1. Kapitel
London, November 1945
Eve Dawson fuhr aus dem Schlaf hoch. Jemand hämmerte an ihre Tür. Draußen heulten die Sirenen, sie wurden immer lauter. Kamen näher. Sie sprang auf und ihr Instinkt schrie, sie müsse zu einem Luftschutzkeller rennen. Aber nein. Der Krieg war vorbei.
Das Hämmern wurde immer hektischer. Mit ungelenken Bewegungen schob sie schlaftrunken die Arme in ihren Morgenmantel. Ihre Mitbewohnerin Audrey saß aufrecht in ihrem schmalen Bett neben dem von Eve. »Was ist los?«
»Ich weiß nicht.« Eve schlängelte sich zwischen den bunt zusammengewürfelten Möbeln in ihrer winzigen Wohnung hindurch und öffnete die Tür.
Ein Polizeibeamter. Atemlos, als hätte er gerade ein Wettrennen hinter sich. »Sie müssen raus! Sofort! Man hat einen Blindgänger in den Trümmern auf der anderen Straßenseite gefunden. Kommen Sie, kommen Sie!« Der Wachtmeister wedelte hektisch mit den Händen, um ihnen zu bedeuten, sie sollten ihm auf den Flur und die Treppe hinunter folgen.
»Ich bin noch nicht angezogen«, sagte Audrey hinter Eve. Das war typisch für sie. Immer die feine Dame.
»Dazu ist keine Zeit!«, sagte der Wachtmeister. »Wenn das Ding explodiert, fliegt der ganze Block in die Luft. Ihr Mädels müsst hier raus! Jetzt!« Er ließ sie in ihren Pyjamas im Türrahmen stehen und hämmerte an die Tür der Nachbarn, um ihnen dieselbe dringliche Nachricht zu überbringen.
Eve griff nach ihrem Mantel und schob die Füße in das erste Paar Schuhe, das sie finden konnte. Audrey bewegte sich in ihrer typisch langsamen, absichtsvollen Art und musterte kritisch die Schuhe an der Tür, als wollte sie entscheiden, welches Paar am besten zu ihrem Schlafanzug passte. »Jetzt komm!«, sagte Eve. Sie drückte Audrey ihren Mantel in die Hände. »Ich will heute nicht sterben – du etwa?« Dann zog sie ihre Mitbewohnerin den Gang hinunter in Richtung Treppe.
Sie waren beinahe im Erdgeschoss angekommen, als Audrey stehen blieb. »Warte! Meine Handtasche! Da sind mein Ausweis und meine Coupons drin.« Sie drehte sich um.
Eve riss sie zurück. »Vergiss es. Es lohnt nicht, dafür zu sterben. Ich jedenfalls würde gerne weiterleben!« Sie dachte an das winzige Baby, das heimlich in ihrem Leib heranwuchs, und zum ersten Mal wollte sie, dass auch ihr Kind lebte.
Ein Schwall kalter Luft schlug Eve entgegen, als sie die Haustür öffnete, und wehte durch ihren offenen Mantel und die dünne Schlafanzughose, sodass sie fröstelte. Die aufgehende Sonne lugte unter den Wolken hervor, brachte aber keine Wärme mit sich. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bewegte sich ein Trupp Soldaten durch die herumliegenden Steine und Ziegel, als würden sie auf rohen Eiern laufen. Arbeiter hatten hier in der vergangenen Woche aufgeräumt und jeden Morgen früh angefangen. Wieder bekam Eve eine Gänsehaut. Die Fliegerbombe hätte jeden Augenblick detonieren können.
»Hier lang ... hier lang«, drängte der Wachtmeister sie. »Machen Sie schnell. Weiter, weiter.« Sie scheuchten alle die Straße entlang, weg von der Abwurfstelle der Bombe. Verwirrte Menschen strömten aus den benachbarten Gebäuden, um mit ihnen zu fliehen. Eve erinnerte sich an die schrecklichen Monate, in denen die Deutschen London bombardiert hatten. Das panische Rennen zu den Luftschutzkellern, das Heulen der Sirenen, das Stolpern durch die Finsternis während der Verdunklung. Aber der Krieg war zu Ende gegangen.
»Ich dachte, wir müssten nie wieder vor einer Bombe fliehen«, sagte Audrey. »Und müssten keine Angst mehr um unser Leben haben.« Sie rang um Atem und wurde langsamer.
Eve zwang sich ebenfalls, ihre Schritte zu verlangsamen, obwohl sie am liebsten gerannt wäre. Sie war immer schneller gewesen als Audrey. »Dann haben wir uns wohl geirrt.«
»Die Nazis haben diesen Häuserblock vor einem Jahr zerstört. Ich kann nicht fassen, dass die Bombe die ganze Zeit dort lag und nur darauf gewartet hat zu explodieren.«
»Das beweist nur, wie zerbrechlich das Leben ist.« Es war eine der vielen Lektionen, die Eve im Krieg gelernt hatte. Liebe Menschen konnten gerade noch am Leben sein und einen Augenblick später tot. Und verdiente dieses verletzliche Kind in ihr nicht auch die Chance auf Leben? Sobald sie wieder nach Hause durfte, würde sie die Adresse des Hinterhofarztes wegwerfen, der bereit war, den Eingriff vorzunehmen. Oder vielleicht würde der Blindgänger seinen Namen ja mit allem anderen zusammen in die Luft jagen. Möglicherweise war das ja auch ein Zeichen von Gott – oder wer auch immer ihre Geschicke lenkte –, dass sie sich so entscheiden sollte.
Sie kamen an das Ende ihrer Häuserzeile. Ein anderer Polizeibeamter zeigte über die Straße zu einer Kirche, deren Krypta während der Bombenangriffe auf London als Zuflucht gedient hatte. Sie eilten die Steintreppe hinunter und drängten sich mit Hunderten anderer Menschen in Schlafanzügen und Morgenmänteln in dem Grabgewölbe zusammen, während sie darauf warteten, dass die Experten die Bombe entschärften. Eve hatte viel Zeit, an all die Dinge zu denken, die sie gerne gerettet hätte. Audrey hatte recht gehabt, dass sie ihre Handtasche brauchen würde. All die Ausweise und die Essensmarken zu ersetzen, würde ein Albtraum sein.
»Wie spät ist es?«, fragte Audrey. »Wir werden zu spät zur Arbeit kommen. Glaubst du, die Leute von der Kirche lassen uns das Telefon benutzen, damit wir anrufen und die Sache erklären können?«
Eve sah auf ihre Uhr. »Es ist zu früh, um anzurufen. Noch nicht einmal sieben. Also wirklich, Audrey, du machst dir aber auch über die albernsten Dinge Gedanken.«
Audrey rückte näher und senkte die Stimme. »Hör zu, Eve. Ich muss dir ein Geheimnis erzählen.«
Eve unterdrückte ein Lächeln. Es war typisch Audrey, so ernst und geheimnisvoll zu tun.
»Soll ich dir mein Pfadfinderehrenwort geben, dass ich es niemandem verrate?«, fragte Eve.
Audrey lächelte nicht. »Ich glaube, ich bin schwanger.«
Eve konnte sich gerade noch beherrschen, nicht »Ich auch« zu sagen. Immerhin hatten sie in den vergangenen sechs Jahren alles andere zusammen gemacht, warum also sollten sie nicht auch zusammen Kinder bekommen? Nur dass Audrey einen Ehemann hatte und Eve nicht. »Herzlichen Glückwunsch«, brachte sie he-raus und umarmte ihre Freundin.
»Ich habe Robert noch nichts davon geschrieben. Ich traue mich nicht. Es war ein Unfall. Wir haben eigentlich aufgepasst ...«
»Er wird sich trotzdem freuen«, sagte sie und drückte Audreys Hand. »Vor allem, wenn es ein Junge ist. Will nicht jeder Mann einen Sohn haben?« Zu spät erinnerte sie sich daran, dass Audreys Vater seinen Sohn geradezu vergöttert und seine Tochter all die Jahre ignoriert hatte. Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen.
Audrey schien sie nicht zu hören, denn sie sprach weiter. »Heute Morgen, mit dieser Bombe – da ist mir bewusst geworden, wie wichtig es mir jetzt ist, in Sicherheit zu sein. Während des Krieges haben wir so oft unser Leben riskiert und es schien keine Rolle zu spielen, weil niemand wusste, was der nächste Tag bringen würde, ob wir leben oder sterben würden oder ob die Nazis über den Ärmelkanal kommen und uns umbringen würden. Aber der Krieg ist vorbei und Robert ist in Sicherheit und ich will auch sicher sein, bis der Zeitpunkt gekommen ist, zu dem ich mit ihm nach Amerika gehe. Ich will, dass unserem Baby nichts passiert.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich verlasse London. Ich gehe zurück nach Wellingford Hall.«
Es dauerte einige Sekunden, bis Eve antwortete: »Aber was ist mit deiner Arbeit? Und unserer Wohnung?«
»Ich werde kündigen. Heute noch. Du wirst sicher keine Schwierigkeiten haben, eine Mitbewohnerin zu finden.«
Irgendwann würde es unweigerlich dazu kommen. Eve wusste, dass Audrey England verlassen und mit ihrem GI-Ehemann in dessen amerikanische Heimat ziehen wollte, wenn der Berg an Papierkram erledigt war. Diese Bombe, die in ihr Leben gefallen war, schien wie ein Vorbote der Veränderung. Für sie beide.
»Ich werde dich vermissen, Eve«, sagte Audrey.
»Ich dich auch.« Eve würde wieder allein sein. Musste allein mit den Entscheidungen und Veränderungen fertigwerden, die ein vaterloses Baby mit sich brachte. Warum hatte sie zu hoffen gewagt, dass Audrey immer an ihrer Seite sein würde? Dass Audrey sie immer brauchen würde?
Drei lange Stunden später stiegen sie die Treppe aus der Krypta wieder hoch, nachdem der Blindgänger entschärft war und man die Gegend nach weiteren versteckten Gefahren abgesucht hatte. »Ich komme mir in meinem Pyjama wie ein Dummkopf vor«, sagte Audrey, als sie wieder auf der Straße standen.
»Wir sind nicht die Einzigen.« Eve zeigte auf die anderen frierenden Personen, die unter dem grauen Novemberhimmel nach Hause eilten.
Als sie bei ihrem Haus angekommen waren, lief Audrey schnell hinein, aber Eve blieb einen Moment stehen und starrte den vertrauten Trümmerhaufen auf der anderen Straßenseite an. Die Polizisten und Soldaten gingen davon und die Arbeiter kletterten wieder mit ihren Schaufeln und Schubkarren in den Steinen herum. Bei dem Gedanken, dass etwas so Tödliches hier verborgen gewesen war, während sie ihrem Alltag nachgingen, fröstelte Eve. Die Fliegerbombe hätte jeden Augenblick explodieren und sie und all ihr Hab und Gut auslöschen können. Wie viele verbor- gene Gefahren lauerten noch auf ihrem Weg?
Audrey würde nach Hause zurückgehen und sich dann in Amerika mit ihrem Mann und ihrem Kind ein neues Zuhause schaffen. Aber wo war Eve zu Hause? Wenn sie ihr Kind behielt, wo würden sie dann wohnen? Wie sollten sie überleben? Eve wusste, wie es war, ohne Vater aufzuwachsen.
Einen Tag nach dem anderen, sagte sie sich. So hatte sie auch den Krieg überlebt. Einen Tag nach dem anderen.
2. Kapitel
Wellingford Hall, England, 1931
»Du kannst Alfie nicht wegschicken!« In dem riesigen Salon klang Audreys Stimme ganz piepsig. Vater warf ihr einen Blick zu und sprach dann weiter, als hätte sie nichts gesagt.
»Es ist eine der besten Schulen für Jungen in England«, sagte er. »Ich weiß, dass du alles tun wirst, damit ich stolz auf dich sein kann, mein Sohn.« Er hatte die Hand auf die Schulter ihres Bruders gelegt, als wollte er ihn segnen, und seine Miene war streng, aber stolz. Vaters dunkles Haar war schütter geworden und an den Schläfen wurde es schon grau. Audreys Protest beachtete er gar nicht. Sie war für ihn unsichtbar. Schon immer.
Alfie hob das Kinn und straffte die Schultern. »Ja, Vater.« Er war inzwischen beinahe so groß wie Vater. Wenn die Nachricht, dass er ins Internat geschickt wurde, ihm etwas ausmachte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Aber ihr Bruder war schon immer mutiger gewesen als Audrey. Er war ihr bester Freund. Einen anderen hatte sie nicht. Und der einzige Mensch, der ihr Leben erträglich machte.
»Du wirst mit jungen Männern aus den vornehmsten Familien Freundschaft schließen, mein Sohn. Ich wünschte, ich hätte diese Gelegenheit gehabt.«
Ein Schluchzer entfuhr Audreys Kehle. Mutter verdrehte die Augen und lehnte sich vor, um die Asche von ihrer Zigarette zu schnipsen. Ihr leuchtend roter Lippenstift hinterließ Flecken an einem Ende des langen Zigarettenhalters. »Miss Blake, seien Sie so gut und bringen Sie Audrey hinaus, bis sie sich beruhigt hat«, sagte sie an Audreys Gouvernante gewandt.
Audrey schluckte und wischte ihre Tränen fort. »Ich ... ich möchte bitte bleiben.«
»Keine Ausbrüche mehr?«
Audrey schüttelte den Kopf, besann sich dann aber. Mutter hasste es, wenn sie wortlos nickte oder den Kopf schüttelte. »Nein, Mutter.«
Vater sprach noch immer mit Alfie, als wäre außer den beiden niemand anwesend. »Wir fahren ein paar Tage vor Beginn des Herbstsemesters hin, damit du dich einleben kannst. Williams kann uns fahren. Es ist eine gute Schule, eine sehr gute Schule.«
»Darf ich auch mitkommen?«, fragte Audrey.
Mutter schnaubte verächtlich. »Das ist eine Schule für Jungen, Audrey.«
»Ich meine, wenn Vater Alfie dort hinbringt.«
Mutter zog an ihrer Zigarette und sprach dann durch die Rauchwolke, die sie ausatmete. »Du wirst dich dann darauf vorbereiten müssen, in deine eigene Schule aufzubrechen. Das ist die andere Nachricht, die wir euch mitteilen wollten, bevor du angefangen hast zu jammern.«
»Was für eine Schule?« Audrey sah Miss Blake an, die sie und Alfie bis jetzt unterrichtet hatte. Die Gouvernante wandte den Blick ab und betrachtete den Inhalt ihrer Teetasse.
»Ich habe dich im selben Mädcheninternat angemeldet, das ich besucht habe«, sagte Mutter. »Es wird dir dort gefallen.«
Weder Mutter noch Vater sahen Audrey an. Alfie lächelte ihr halbherzig zu. Hysterie stieg in Audrey auf wie ein sprudelndes Getränk, das man geschüttelt hatte. Weil sie wusste, wie ihre Eltern auf ihre Tränen reagieren würden, bat sie um Erlaubnis zu gehen und flüchtete sich in ihr Zimmer, um ungestört zu weinen.
Sie wusste nicht, wie lange sie geweint hatte, als sie ein leises Klopfen an der Tür hörte. Ihr Kissen war von den Tränen ganz nass, ihre Augen waren geschwollen und brannten. »Wer ist da?« Mutter oder Vater waren es sicher nicht. Sie betete, dass es nicht Miss Blake war.
Die Tür ging auf und Alfie streckte den Kopf herein. »Kann ich reinkommen?«
Sie kletterte von ihrem Bett und lief in seine Arme. »Ist es nicht schrecklich, wie sie uns wegschicken?«, fragte sie.
Er drückte sie kurz und wand sich dann aus ihrer Umarmung. »Nimm’s nicht so schwer, Schwesterherz. Wir wussten doch, dass es irgendwann dazu kommt.«
»Ich nicht!«
»Ich bin fast vierzehn, Audrey. Das ist ein bisschen alt, um von einer Gouvernante im Kinderzimmer unterrichtet zu werden, meinst du nicht?«
»Aber du bist mein bester Freund!«
»Ach, du wirst schnell ganz viele neue Freundinnen finden.«
Der Gedanke, sich Freundinnen suchen zu müssen, machte ihr Angst. Sie wusste nicht, wie das ging. Vater war vor Kurzem sechzig geworden und keiner der Männer, die zu seinen Jagd- partys nach Wellingford Hall kamen, hatte Kinder in ihrem Alter. Mutters Freundinnen, alle Anfang vierzig, brachten ihre Kinder nie mit, wenn sie aus London zu Besuch kamen. »Ich will nicht weg und auf eine Schule gehen«, sagte Audrey. »Ich werde mich weigern.«
»Ich will ja eigentlich auch nicht«, gab Alfie zu. »Aber Vater ist das sehr wichtig. Er will, dass ich die ganzen Vorteile habe, die er nicht hatte. All die Jungen aus den vornehmsten Familien gehen auf diese Schule. Und er hat viel Geld gespendet, damit ich aufgenommen wurde.«
Audrey setzte sich auf die Bettkante. Vom vielen Weinen war sie ganz erschöpft. »Ich werde dich vermissen, Alfie. Ohne dich wird es hier schrecklich still sein.«
»In den Ferien komme ich doch nach Hause. Und wir haben immer noch den Sommer am Meer, wenn wir mit Vaters Boot segeln. Ich bin jetzt alt genug, um selbst Kapitän zu sein. Dann fahren wir zusammen raus, nur du und ich. Ich zeige dir dann, wie man segelt. Was hältst du davon?«
»Das wäre toll!« Schon der Gedanke machte ihr Angst, aber er sollte denken, dass sie tapfer war.
»Gut«, grinste er. »Darauf können wir uns doch freuen, oder?«
Einen Monat später ging Alfie ins Internat. Es war der schlimmste Tag, den Audrey je erlebt hatte. Sie beobachtete, wie er in Vaters Automobil stieg, das mit Koffern und Kisten beladen war, aber dann konnte sie nicht dabei zusehen, wie er davonfuhr. Sie flüchtete sich die geschwungene Treppe hinauf in ihr Zimmer, ohne sich noch einmal umzublicken.
Die Schule, die sie besuchen sollte, fing erst eine Woche später an. Sie hatte einen Monat Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, aber Audrey wollte immer noch nicht dorthin. Allerdings würde Wellingford sowieso unerträglich sein, wenn sie nur die öde Miss Blake als Gesprächspartnerin hatte. Sie starrte aus dem Fenster ihres Zimmers, während die Staubwolke, die das Fahrzeug aufgewirbelt hatte, sich wieder legte. Der Wald am Ende des Rasens rief sie. Sie würde weglaufen.
Audrey schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und in den Salon, während sie aufmerksam lauschte und sich immer wieder umsah. Die Terrassentür stand offen, damit der Spätsommerwind hereinwehen konnte, und sie eilte hinaus, wobei sie den knirschenden Schotter auf den Wegen mied und stattdessen über den Rasen lief, auf den Wald zu, als würde sie einen Ball jagen, der ihr davongerollt war. Wenn sie die Straße in die Stadt nahm, würde man sie zu schnell finden, also würde sie einfach im Wald verschwinden. Am Anfang trieben Wut und Kummer ihre Schritte an, aber je tiefer sie in den Wald hineinlief, desto mehr Mühe hatte sie, sich einen Weg durch das Unterholz zu bahnen. Die Bäume standen jetzt dichter und sie blieb mit ihren Kleidern an Ästen hängen und Zweige zerkratzten ihre bloßen Arme und Beine. Ihre Flucht endete, als sie an einen Bach kam, dessen Wasser wie ein Springbrunnen sprudelte und über Felsen und abgestorbene Äste floss. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das Gewässer überqueren sollte. Tränen der Enttäuschung stiegen in ihr auf.
»Hallo, da unten!«
Audrey stieß einen erschrockenen Schrei aus. Sie presste die Hände auf ihr Herz, als wollte sie verhindern, dass es heraussprang, und blickte nach oben. Ein Mädchen in Baumwollrock und verwaschener Bluse saß auf einem Ast über ihr und ließ die Beine baumeln.
»Du hast mich erschreckt!«, sagte Audrey.
»Ich weiß!«, erwiderte das Mädchen lachend. »Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen. Wie ein verschrecktes Kaninchen bist du hochgesprungen.« Audrey sah zu, wie das Mädchen herunterkletterte, stark und geschickt wie ein Junge. Es landete vor ihr und grinste, als es Moos und Rinde von seinen Kleidern klopfte. Die grauen Augen des Mädchens tanzten amüsiert und seine Nase und Wangen waren mit Sommersprossen übersät wie mit Goldstaub. »Du bist Audrey Clarkson, stimmt’s?«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß alles über dich.«
»Wirklich?«
»Du bist zwölf Jahre alt, so wie ich, und du wohnst in Wellingford Hall mit deinem Vater Alfred, deiner Mutter Rosamunde und deinem großen Bruder Alfie.« Während sie sprach, zählte sie all diese Informationen an ihren Fingern ab. »Dein Vater musste nicht im Großen Krieg kämpfen wie die anderen Väter, weil er reich war und …«
»Nein, seine Arbeit war zu wichtig. Er besitzt Kohlebergwerke und Eisenbahnen und so. Deshalb hat er nicht gekämpft.«
»Na klar.« Ihr spöttischer Tonfall sagte Audrey, dass das Mädchen ihr nicht glaubte. »Dein ›wichtiger‹ Vater ist zu Hause geblieben, während meiner in der Schlacht von Amiens gekämpft hat und gefallen ist. Ich habe ihn noch nicht einmal kennengelernt.« Ihr goldbraunes Haar, das in der Sonne rötlich leuchtete, löste sich aus den Zöpfen und Blätter und Kiefernnadeln hingen darin.
»Das mit deinem Vater tut mir leid«, sagte Audrey. So etwas Schreckliches konnte sie sich gar nicht vorstellen. »Ich sehe meinen Vater kaum …«, fing sie an, um sich zu entschuldigen.
»Aber wenigstens hast du einen.« Das Mädchen kreuzte die Beine und sank auf den Boden, so anmutig wie eine Elfe. Dann zog es Schuhe und Socken aus. Audrey hatte noch nie so abgenutztes Schuhwerk gesehen oder Socken, die so oft geflickt und gestopft worden waren. »Deine Mutter ist die Tochter eines Herzogs oder Barons oder so was«, fuhr das Mädchen fort, »aber sie hat deinen Vater seines Geldes wegen geheiratet, obwohl er viel älter ist als sie. Und jetzt ist sie eine feine Dame der Gesellschaft, die meistens in London ist und Feste und Bälle mag.«
Audreys Wangen wurden angesichts dieser wenig schmeichelhaften Zusammenfassung ganz warm, aber sie konnte nicht leugnen, dass das Mädchen im Wesentlichen recht hatte. »Wer hat dir denn das alles erzählt?«
»Meine Mum. Sie arbeitet für deine Eltern in Wellingford Hall. Sie wollte zu Hause bleiben und für mich sorgen, als ich geboren war, aber sie musste arbeiten gehen, weil mein Daddy tot war. Granny Maud kümmert sich um mich. Meine Mum sehe ich nur an ihrem freien Tag.«
»Wo wohnst du denn?«
»In einem Haus in der Stadt. Es gehört deinem Vater – wie alles andere in der Stadt. Er schickt immer einen seiner Männer vorbei, um unsere Miete einzusammeln, bei jedem Wetter. Letztes Jahr Weihnachten habe ich euch in der Kirche gesehen. Ich gehe jeden Sonntag mit meiner Großmutter. Ich wette, du hast mich noch nie bemerkt, oder?«
Audrey schüttelte verlegen den Kopf. Sie wollte das Thema wechseln. »Was machst du denn hier draußen im Wald?«
»Ich wollte gerade ein Picknick machen.« Sie stand wieder auf und ließ Schuhe und Socken unter dem Baum liegen. »Es ist ein schöner Tag dafür, meinst du nicht? Aber es wird nicht wie eins von euren Picknicks sein.«
»Wie meinst du das?«
»Eure Diener schleppen Tische und Stühle und schicke weiße Tischdecken und Porzellan auf den Rasen, damit euer Mädchen den Tee servieren kann.« Sie tat, als würde sie einen Knicks machen, und schüttelte dann den Kopf. »Das ist doch kein richtiges Picknick!«
»Wie geht denn ein richtiges Picknick?«
»Komm, ich zeige es dir. Zieh die Schuhe aus, damit du zu der kleinen Insel da im Bach waten kannst. Das ist der perfekte Ort für ein Picknick.«
Audrey zögerte, bevor sie den Staub von einem Stein wischte und sich anschließend daraufsetzte, um ihre Schuhe und Socken auszuziehen. »Ich denke, ich kann deine Einladung genauso gut annehmen. Ich gehe nämlich von zu Hause weg, musst du wissen.«
»Wirklich?« Das Mädchen grinste spöttisch. »Wo willst du denn hin?«
»Ich bin noch nicht sicher. Aber sie haben meinen Bruder ins Internat geschickt und jetzt wollen sie mich auch noch wegschicken. Ich gehe aber nicht! Weil ich nämlich furchtbares Heimweh haben werde.«
»Bekommst du denn kein Heimweh, wenn du wegläufst?«
Daran hatte Audrey nicht gedacht. Wieder spürte sie, wie ihr die Tränen kamen. »Ich weiß nur nicht, was ich sonst tun soll, damit sie mir zuhören.«
»Während du dich entscheidest, können wir doch unser Picknick machen. Komm.« Leichtfüßig hüpfte sie über den Bach, indem sie von einem Stein zum anderen sprang. Dann drehte sie sich um und winkte Audrey von der kleinen Insel in der Mitte des Baches zu. »Komm schon!«
Audrey konnte es dem Mädchen nicht gleichtun. Die Steine sahen rutschig aus und abgesehen davon hatten einige gewackelt, als das Mädchen daraufgetreten war. Das Wasser sah nicht sehr tief aus, also beschloss sie hindurchzuwaten. Sie bekam einen Schock, als sie mit den Füßen in das eiskalte Wasser tauchte, und ihr stockte der Atem. Das Mädchen lachte nur. »Kalt, nicht wahr?«
Nach zwei Schritten wäre Audrey am liebsten umgekehrt. Die Strömung zog an ihren Knöcheln und die winzigen Steine am Grund des Gewässers stachen in ihre Fußsohlen. Aber sie ging weiter. Aus irgendeinem Grund wollte sie dieses Mädchen beeindrucken. Also ging sie noch ein paar Schritte weiter, fröstelnd in dem kalten Wasser, und dann war sie angekommen.
»Du hast es geschafft! Setz dich.« Das Mädchen zeigte auf eine Stelle mit Unkraut und Erde und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Dann schlug es eine Serviette auseinander, die es an seinem Gürtel befestigt hatte, und ein Würstchen im Schlafrock und ein Brötchen kamen zum Vorschein. Sorgfältig brach sie jeden dieser Schätze mit ihren schmutzigen Händen in zwei Teile und legte sie auf die Serviette. »Bedien dich«, sagte das Mädchen. Ihre abgekauten Fingernägel hatten dunkle Ränder.
Audrey wollte nicht unhöflich erscheinen. Und das Essen sah gut aus, ein goldenes, knusprig umhülltes Würstchen und das süße Brötchen mit dicken Johannisbeeren.
»Das sollte mein Mittagessen sein, aber ich habe heute die Schule geschwänzt.«
»Geschwänzt? Warum?«
»Weil zum ersten Mal seit Tagen die Sonne scheint und ich draußen sein musste.«
Audrey biss in die herzhafte Teighülle. Sie konnte die Gewürze nicht identifizieren, aber es schmeckte köstlich. »Bekommst du denn keinen Ärger, weil du geschwänzt hast?«
»Das ist mir egal«, sagte das Mädchen und zog die Schultern hoch. »Ich weiß sowieso schon so viel wie der Lehrer.«
»Das glaube ich nicht.«
»Es stimmt aber!« Das Mädchen lachte und beugte sich vor. »Wenn ich dir ein Geheimnis verrate, versprichst du mir dann hoch und heilig, dass du es niemandem verrätst?« Audrey zögerte und nickte dann. »Nein, nein, nein«, sagte das Mädchen lachend. »So kann man nichts hoch und heilig versprechen! Weißt du denn gar nichts über Geheimnisse?« Audrey schüttelte den Kopf. »Du musst die rechte Hand aufs Herz legen, so, und sagen: ›Ich gebe dir mein großes Pfadfinderehrenwort. Ich schwöre bei meinem Leben, dass ich es nicht verrate.‹« Das Mädchen nahm eine Handvoll Blätter und zerdrückte sie in der Faust. Dann ließ sie die Krümel zu Boden regnen.
Audrey schluckte. Ihr Herz schlug ganz schnell. Ein Schauer der Angst lief ihr über den Rücken, als sie die Hand aufs Herz legte. »Ich gebe dir mein großes Pfadfinderehrenwort«, sagte sie. »Ich schwöre bei meinem Leben, dass ich es nicht verrate.«
Das Mädchen rückte näher. »Meine Mum leiht sich Bücher aus der Bibliothek deines Vaters aus. Jedes Mal, wenn sie kommt, bringt sie mir ein anderes mit und stellt es anschließend wieder zurück. Ich passe sehr gut darauf auf. Aber deshalb weiß ich so viel wie mein Lehrer.«
»Habt ihr denn keine Bücher zu Hause?«
»Ha! Wir haben nicht mal Bücher in meiner Schule!«
»Eine Schule ohne Bücher kann ich mir gar nicht vorstellen.« Audrey schluckte den letzten Bissen Wurst hinunter und wünschte, sie hätte eine Serviette, um sich die Hände abzuwischen. Es hatte herrlich geschmeckt, war aber etwas fettig gewesen. Das Mädchen wischte sich die Finger an seinem Rock ab.
»Na, die vornehme Schule, auf die du gehen sollst, hat bestimmt jede Menge Bücher.«
Als Audrey daran erinnert wurde, trübte das ihre Freude an dem Picknick, als wäre die Sonne hinter einer Wolke verschwunden. »Ich will nicht weg von hier und Wellingford Hall verlassen. Ich vermisse mein Zuhause ja schon, wenn Alfie und ich in den Ferien am Meer sind.«
»Und warum läufst du dann weg?«
Audrey antwortete nicht. Sie wusste es nicht.
»Sie werden dich suchen.«
»Ich weiß.«
»Hier, iss dein Brötchen.« Das Mädchen reichte es ihr. Audrey biss hinein. Es war so gut wie das ihrer Köchin. Vielleicht sogar besser. Sie wünschte, sie hätte Tee dazu.
»Warum gehst du nicht in eine normale Schule, so wie ich«, fragte das Mädchen, »und gehst abends nach Hause? Ich gehe zu Fuß zur Schule, aber du könntest mit dem Automobil deines Vaters fahren.«
Audrey hörte auf zu essen. »Das ist eine sehr gute Idee.«
»Dann schau nicht so überrascht. Ich bin genauso schlau wie du. Nur nicht so reich.« Sie schüttelte die Krümel von der Serviette.
»Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich die Hälfte von deinem Mittagessen gegessen habe.«
»Wenn du das nächste Mal wegläufst, kannst du ja dein Mittagessen mitbringen und es mit mir teilen.«
»Das nächste Mal?«
Das Mädchen lachte und rollte sich auf die Seite. »Du bist wirklich schwer von Begriff! Das war ein Witz, Audrey Clarkson. Du läufst ja auch dieses Mal nicht wirklich weg, also gibt es auch kein richtiges nächstes Mal. Und mich werden sie wohl kaum zum Picknick in eurem Garten einladen, oder?«
»Das tut mir leid. Ich würde das wirklich gerne tun.«
Das Mädchen erhob sich mit einer anmutigen Bewegung und klopfte sich den Rock ab. »Komm, wir gehen wieder durchs Wasser auf die andere Seite und ich begleite dich bis zu eurem Rasen. Dann kannst du ihnen sagen, wie du dich entschieden hast, was die Schule betrifft.«
Audrey watete durch das eisige Wasser und sie musste dabei auf die starke Strömung achten. Die Seite ihres Kleides, auf der sie gesessen hatte, war ganz feucht von der Erde. Dafür würde sie Ärger mit Miss Blake bekommen, aber es war ihr egal. Als sie ihre Schuhe wieder angezogen hatten, schlug das Mädchen einen Weg ein, den Audrey gar nicht bemerkt hatte. Am Waldrand blieb das Mädchen stehen, als wollte es lieber nicht auf das dichte, gepflegte Gras treten. »Tschüss, Audrey Clarkson. Viel Glück!«
»Danke. Und vielen Dank für das Picknick.« Sie wandte sich dem Haus zu. Die Sonne ließ die Fenster im Westflügel von Wellingford Hall leuchten, als stünden sie in Flammen. Audrey machte einige Schritte und drehte sich dann um. »Warte mal! Du hast mir gar nicht gesagt, wie du heißt.« Aber da war das Mädchen schon im Wald verschwunden.
Eve folgte dem schmalen Pfad durch den Wald, während sie ihre Erregung kaum noch zügeln konnte. Wenn Granny Maud von dem Picknick mit dem Mädchen von Wellingford Hall hörte! Der Dummkopf war von zu Hause weggelaufen. Das musste man sich mal vorstellen! Wer lief denn von einem Märchenschloss wie Wellingford Hall fort, wo Dutzende Dienstboten einem jeden Wunsch von den Augen ablasen?
Granny wartete bestimmt mit einer Kanne Tee unter der Warmhaltemütze und etwas Gebäck, noch warm aus dem Ofen. Sie würde Eve in die Arme schließen, als hätte sie sie eine Ewigkeit nicht gesehen. Dabei hatten sie sich noch am Morgen voneinander verabschiedet. Sie würde über Eves zerknittertes Kleid streichen und den Kopf schütteln und mit ihren knotigen Fingern die Blätter aus ihrem Haar lesen und sie dann nach ihrem Tag fragen. Granny würde es gleichgültig sein, dass sie die Schule geschwänzt hatte, aber wenn sie erfuhr, dass Eve das reiche Mädchen von Wellingford Hall getroffen hatte, würde sie das überraschen. Granny las Eve jeden Abend vor dem Schlafengehen aus der Bibel vor, und wie es schien, hatte Jesus eine ganze Menge düstere Dinge über reiche Leute zu sagen, die das, was sie hatten, nicht mit den Armen teilten.
Von einem Baumwipfel aus schimpfte ein Blauhäher mit Eve, als sie aus dem Wald trat, um die Abkürzung über den Friedhof zu nehmen. Granny brachte Eve die Namen aller Vögel bei und auch, wie sie sangen. Mit den kleinen Zaunkönigen, die im Garten brüteten, sprach Granny, als wären sie ihre Kinder.
Die letzten Meter zu ihrem kleinen Cottage rannte sie und stürzte dann zur Tür herein und rief: »Granny Maud! Ich habe heute eine neue Freundin gefunden. Rate mal, wer das ist. Da kommst du im Leben nicht drauf. Niemals!« Ihre Großmutter schlief in einem Sessel am Herd, ihr Strickzeug auf dem Schoß. Sie rührte sich nicht, selbst als der Wind die Tür hinter Eve zuschlug. Grannys Gehör wurde immer schlechter, genau wie ihre Augen. Eve ging zum Herd und stellte das Wasser für ihren Tee auf, aber das Feuer war kaum noch warm.
»Granny!«, sagte sie, diesmal ganz laut, um sie aufzuwecken. »Du hast das Feuer ausgehen lassen.« Eve kniete sich neben den Sessel und rüttelte an ihrer Schulter, zuerst sachte, dann immer fester, während sie ihren Namen rief. »Granny Maud! Wach auf!« Ihre Stricknadeln und die halb fertige Socke rutschten ihr aus den Fingern. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Eve rappelte sich auf und rannte zum Cottage ihrer Nachbarn. Ohne zu klopfen, rief sie laut: »Mrs Ramsay! Kommen Sie schnell! Mit Granny stimmt was nicht. Sie wacht nicht auf.«
Mrs Ramsay wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, während sie Eve eilig folgte. »Warte hier draußen, Kind«, sagte sie, als sie an der Tür des kleinen Hauses angekommen waren. Eve schüttelte den Kopf und folgte der Nachbarin hinein. Mrs Ramsay hockte sich neben den Sessel und bedeckte die faltige Hand von Granny Maud mit ihrer eigenen. Als sie sanft über Grannys Wange strich, hatte sie Tränen in den Augen. »Sie ist tot, Eve. Es tut mir schrecklich leid.«
»Nein! Sie ... das kann nicht sein! Sie war doch nicht einmal krank!« Eves Herz wollte ihr schier aus der Kehle springen, sodass sie fast erstickte.
»Sie ist friedlich eingeschlafen, Liebes.«
»Aber als ich heute Morgen los bin, ging es ihr gut!« Eves Gedanken überschlugen sich wie Blätter, die der Wind aufwirbelt. Sie wollte den Tag noch einmal neu beginnen und alles anders machen. Dies war alles ihre Schuld. »Ich – ich hätte früher nach Hause kommen sollen! Ich hätte sie nicht allein lassen dürfen!«
»Ich glaube nicht, dass es etwas geändert hätte. Ihre Zeit war gekommen, Eve.« Mrs Ramsay wollte nach ihrer Hand greifen, aber Eve zog sie fort. Sie sank vor dem Sessel auf die Knie und legte den Kopf auf Grannys Schoß, wie sie es so gerne tat. Aber es fühlte sich nicht mehr weich und warm an. Eve vergrub das Gesicht in Grannys Rock und schluchzte.
Mrs Ramsay strich Eve übers Haar. »Ich schicke Charlie nach Wellingford rauf, um deine Mum zu holen. Komm mit zu mir, dann mache ich uns einen Tee.«
Eve schüttelte den Kopf. »Ich muss hier bei Granny Maud bleiben. Das Feuer ist ausgegangen. Darum muss ich mich kümmern.«
Mrs Ramsay wollte ihr widersprechen, aber dann überlegte sie es sich anders. »Ich komme so schnell wie möglich wieder.«
Alles schien unwirklich. Mum kam nach Hause und es war nicht einmal Sonntagnachmittag. Sie weinte mit Eve und wiegte sie im Arm. Solange Eve denken konnte, hatte Granny Maud für sie gesorgt, während Mum oben in Wellingford Hall arbei- tete. Granny machte den Haushalt, kochte Eve das Essen, stopfte ihre Strümpfe, flickte ihre Kleider, ging mit Eve in die Kirche und sorgte dafür, dass es im Haus den ganzen Winter über warm war. Und jeden Tag sagte Granny zu Eve, wie lieb sie sie hatte. Wie sollte Eve ohne sie leben?
Zur Beerdigung von Granny Maud kamen alle in die Dorfkirche. Sie liebten die alte Frau genauso sehr, wie Eve es tat, und sie sprachen davon, wie schnell sie immer allen Bedürftigen geholfen hatte, selbst wenn es bedeutete, selbst auf etwas zu verzichten. Die Sonne schien, als man sie auf dem Friedhof beisetzte, und es schien unfair, dass der Himmel keine Tränen vergoss. Sie wurde neben ihrem Mann beerdigt, dem Großvater, den Eve nie kennengelernt hatte. Mum nahm eine Handvoll Erde und ließ sie auf den Sarg fallen, aber Eve konnte das nicht.
Die Dorfbewohner versammelten sich anschließend in Grannys Cottage zum Essen. »Wir werden immer deine Familie sein«, sagte der Pastor. Aber niemand umarmte sie so wunderbar wie Granny Maud. Als der letzte Gast gegangen war und Eve und Mum allein zurückblieben, fühlte das Haus sich dunkel und leer an, so als wäre Granny die Quelle von Licht und Wärme gewesen.
»Glaubst du, sie ist im Himmel, Mum?«, fragte Eve.
»Natürlich ist sie im Himmel. Sie hat Jesus geliebt – das weißt du doch.«
»Dann ist sie jetzt bei Daddy?«
Mum nickte. »Ja. Und die beiden sind bestimmt froh darüber, dass sie nun ...« Tränen erstickten ihre Stimme und sie konnte nicht weitersprechen. Sie sank auf Granny Mauds Sessel, als hätte sie zum Stehen keine Kraft mehr. Eve nahm die gerahmte Fotografie ihrer Eltern von der Kommode und setzte sich damit neben Mums Sessel auf den Boden. Mum sah jung und hübsch darauf aus und Daddy sehr schick in seiner Uniform. »Die Liebe zur Natur hast du von deinem Vater«, sagte Mum. »Du bist ihm so ähnlich. Ihr beide habt dieselbe Haarfarbe und er hatte auch solche Sommersprossen wie du.« Mum strich Eve mit dem Finger übers Gesicht, als könnte sie die Sommersprossen fühlen. Granny Maud hat immer gesagt, jede Sommersprosse sei eine Stelle, an der ein Engel sie geküsst hatte. Eves Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Granny war tot. Tot! Genau wie ihr Daddy.
Eve träumte oft davon, wie ihr Leben wohl aussähe, wenn er nicht gestorben wäre. Sie würde mit ihm und Mum und Granny Maud auf der Farm leben. Daddy würde sich um seine Schafe und Kühe kümmern und Mum würde nicht in Wellingford Hall sein, sondern bei Eve zu Hause bleiben. Während sie in der Küche arbeitete, würde sie singen, so wie Granny es immer getan hatte.
»Wir müssen entscheiden, was wir jetzt machen«, sagte Mum. »Du kannst nicht allein hierbleiben, während ich in Wellingford arbeite oder mit Lady Rosamunde in London bin.«
Eve wusste, dass ihre Kindheit in diesem kleinen Cottage vorüber war. Und obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, das einzige Zuhause zu verlassen, das sie kannte, wollte Eve auch nicht allein hierbleiben, wo einfach alles sie an Granny erinnerte. »Ich möchte mit dir zusammen im Großen Haus arbeiten.«
»Oh, Eve. Nein.« Mum nahm sie in die Arme und drückte sie ganz fest. »Ich wollte nie, dass du Dienstmädchen wirst. Niemals. Seit dem Großen Krieg haben sich so viele Dinge verändert und jetzt gibt es für kluge junge Mädchen, wie du eins bist, viel bessere Möglichkeiten, als nur Dienstmädchen zu sein. Ich habe immer davon geträumt, dass du irgendwann einen Schreibmaschinenkurs machst oder vielleicht in einem Geschäft arbeitest. Aber du bist erst zwölf – also für beides noch zu jung.« Sie ließ Eve los und strich ihr übers Haar. »Ich hatte gehofft, ich könnte selbst Wellingford Hall irgendwann verlassen, aber für viel mehr als für die Miete reicht unser Geld nicht.«
»Wenn wir jetzt nicht mehr hier wohnen, haben wir doch mehr Geld. Dann können wir sparen.«
»Das ist wahr, aber …«
»Außerdem macht es mir nichts aus, Dienstmädchen zu sein. Du bist es schon seit Jahren, also kann ich es auch.«
»Vielleicht ein paar Jahre lang. Und all unser Geld sparen wir für deine Zukunft.« Eve sah die Traurigkeit in Mums Augen, obwohl sie zu lächeln versuchte.
»Dann sehe ich dich auch viel mehr«, sagte Eve. »Und ich muss mich nicht mehr mit diesem störrischen alten Ofen herumplagen.« Sie trat gegen den Herd.
»Sie werden viel von dir verlangen in Wellingford, bis du bewiesen hast, dass du fleißig bist. Und du wirst der Haushälterin Mrs Smith gehorchen müssen.«
»Ich weiß. Aber nur, bis ich sechzehn bin, richtig? Bis wir genug Geld gespart haben.«
Wieder kamen Mum die Tränen. »In all den Jahren, in denen ich in dem dunklen Dienstbotenquartier gelebt habe, konnte ich mir vorstellen, wie du draußen herumläufst, auf Bäume kletterst und im Wald spielst. Du hast einen so freiheitsliebenden Geist, Eve, und ich wollte nie, dass du in diesem kalten, dunklen Herrenhaus arbeitest. Und jetzt kannst du nicht mehr zur Schule gehen ...« Sie brachte den Satz nicht zu Ende.
»Das ist mir egal, Mum. Wirklich. Granny Maud hat immer gesagt: ›Egal, ob es regnet oder die Sonne scheint – nimm einfach den Tag, den Gott dir schenkt.‹ Weißt du noch?«
Mum nickte. Sie wischte ihre Tränen fort. »Wir fangen wohl besser an zu packen. Wir haben ja nicht gerade viel, oder?«
»Dann ist es eine leichte Aufgabe.« Eve schluckte die Tränen hinunter, die sich wieder einen Weg bahnen wollten, und nahm das gerahmte Bild, auf dem Jesus zu sehen war, von der Wand. Er trug ein Lamm auf den Schultern und darunter stand in goldenen Buchstaben »Der Herr ist mein Hirte«. Granny hatte immer gerne davon erzählt, wie Eves Daddy auf der Farm für seine Schafherde gesorgt hatte. Manchmal zwängte eines sich unter dem Zaun hindurch und lief fort. Dann suchte Daddy es und brachte es wieder nach Hause, so wie der Hirte in der Geschichte, die Jesus erzählt hatte.
»Erinnere dich an diese Worte, Eve«, hatte Granny gesagt und auf das Bild gezeigt. »Du hast vielleicht keinen Vater hier auf der Erde, aber im Himmel hast du einen. Und der Herr wird dir immer ein treuer Hirte sein.« Eve wickelte das gerahmte Bild in eine von Grannys Wolldecken. Sie würde es mit nach Wellingford Hall nehmen.
Am nächsten Morgen wachte sie zum allerletzten Mal im Cottage auf. Draußen hingen die grauen Wolken so tief, dass Eve sie beinahe berühren konnte, als wollten sie aus Mitgefühl neblige Tränen weinen. In einem stummen Abschied schloss sie die Haustür hinter sich und dann brachen Mum und sie mit all ihrem Hab und Gut auf nach Wellingford Hall.
Gerade als das große Herrenhaus vor ihnen auftauchte, wurden sie von einer Schafherde aufgehalten, die ihnen den Weg versperrte, als sie die Straße überqueren und sich durch das Tor zur Weide zwängen wollten. Der Hirte berührte seinen Hut zum Gruß.
Da wusste Eve, dass der Gute Hirte auch in ihrem neuen Zuhause auf sie achtgeben würde...
Lynn Austin
Lynn Austin ist eine weltweit bekannte Bestsellerautorin. Mit Titeln wie "Die Apfelpflückerin", "Luisas Töchter" oder "Im Sand der Erinnerung" schrieb sie sich in die Herzen ihrer Leser. Sie wurde für ihre historischen Romane achtmal mit dem Christy Award ausgezeichnet, dem bedeutendsten christlichen Romanpreis in den USA, und ist eine gefragte Rednerin bei Tagungen und Konferenzen. In Deutschland gilt sie als die beliebteste christliche Romanautorin. Lynn und ihr Mann haben drei Kinder großgezogen und leben in Holland, Michigan. Mehr erfahren Sie unter www.lynnaustin.org.
Lynn Austin hat weltweit mehr als anderthalb Millionen Exemplare ihrer Bücher verkauft. Sie wurde für ihre historischen Romane achtmal mit dem Christy Award ausgezeichnet und ist eine beliebte Referentin bei Tagungen und Konferenzen. Lynn und ihr Mann haben drei Kinder großgezogen und leben in Michigan.
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Holland, Michigan. Ihre zahlreichen Romane sind allesamt Bestseller und mit unzähligen Preisen ausgezeichnet worden. In Deutschland gilt sie als die beliebteste christliche Romanautorin.
Webseite: www.lynnaustin.org
Instagram: lynnaustinbooks
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