In ihrer Kindheit leidet Angela O. unter der lieblosen Behandlung ihrer Mutter. Spät erst befreit sie sich aus der Unterdrückung in ihrem Elternhaus, lernt ihren Mann Horst kennen und gründet die Familie, nach der sie sich gesehnt hat. In einer Krabbelgruppe begegnet sie Christen, die ihr die Liebe Gottes vermitteln. Angela und Horst übergeben ihr Leben Jesus und auch ihr Sohn Björn ist trotz seines jungen Alters offen für den Glauben. Sein kindliches Vertrauen gibt ihm Halt und neuen Lebensmut, als er schließlich an Krebs erkrankt. Obwohl er nur noch wenig Zeit zu leben hat, strahlt er vor Freude und wird ein Zeugnis für sein Umfeld. Es
ist spürbar: Gott begleitet die Familie durch ihren Schmerz und verwandelt ihre Leidenszeit in eine Segenszeit. Immer wieder bricht sein Licht durch die Wolken und macht die Dunkelheit hell.
€ 4,00
Preise inkl. MwSt., keine Versandkosten innerhalb Deutschlands ab € 10,00.
€ 8,99 inkl. MwSt.
1. Ankunft im Leben
„Willkommen, lieber schöner Mai, dir tönt der Engel Lobgeschrei …“ – Hebamme und Säuglingsschwester Benedikta betrat beschwingten Schrittes, dabei fröhlich lächelnd und leise singend das Wöchnerinnenzimmer des St.-Anna-Stifts in dem südwestfälischen Städtchen Dohlbrück. In den Armen hielt sie ein kleines gebündeltes Menschlein, erst wenige Stunden alt, von dem nur ein winziges rotes, noch ein wenig schrumpeliges Gesichtchen zu sehen war, das kleine Mündchen zugekniffen, die Augen fest geschlossen. „Das war ein etwas veränderter Text auf eine Schubert-Melodie, liebe Frau Sperling“, erklärte sie beinahe flüsternd – wohl um das Kind nicht zu wecken. „Darf ich Ihnen Ihren kleinen Engel in den Arm legen?“
„Geben Sie das Bündel schon her, Schwester“, gab die junge Mutter aus ihrem Kissen zurück, wobei sie keine besondere Rücksicht auf den schlafenden Säugling nahm.
„Das muss ja jetzt wohl sein.“ Dabei klang ihre Stimme spröde und ihr Gesicht spiegelte keine besonders beglückte Gemütsregung. Marie Sperling machte nicht den Eindruck wie die meisten Frauen, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hatten: glücklich, erfreut, erleichtert, dankbar. Freute sie sich etwa nicht über ihr Erstgeborenes? Oder war sie von den Strapazen der Geburt noch zu erschöpft, um große Gefühle zu zeigen? Die Geburt war doch eigentlich sehr normal und leicht verlaufen.
Marie Sperling, vierundzwanzig Jahre alt und seit einem guten Jahr mit Henner verheiratet, nahm der fröhlichen Schwester den Säugling ab und interessierte sich allerdings zunächst nur für den Text, den Sr. Benedikta gesungen hatte: „Und wie heißt das Lied richtig, wenn Sie es verfälscht haben?“
Komisch, hat die Mutter nichts anderes zu fragen als nach meinem veränderten Liedtext, ging es der Ordensfrau im weißen Kleid mit Schürze und Tuchhaube durch den Kopf. Natürlich gab sie zunächst einmal die gewünschte Auskunft: „Im Original von Ludwig Hölty heißt es: ‚Willkommen, lieber schöner Mai, dir tönt der Vögel Lobgesang.‘ Der ist allerdings hier im Zimmer kaum zu hören. Die beiden Melodiestücke gehören zu einem Kanon von Franz Schubert.“
„Die kenne ich beide nicht“, kam es wieder spröde aus dem Kissen. Dann fragte sie weiter: „Ist an dem Kind alles dran?“
Also doch auch Interesse an dem Kind, registrierte die Schwester erfreut und antwortete: „Liebe Frau Sperling, an Ihrem kleinen Spatz ist alles dran, auch da, wo Sie es jetzt in der Verpackung nicht sehen können. Gott, der Herr und Schöpfer allen Lebens, hat seine Sache wieder einmal sehr gut gemacht! Er hat einen gesunden kleinen vollständigen Menschen werden lassen und Mutter und Kind bei der Geburt bewahrt. Ihm gebührt großes Lob!“
„Amen!“, kam es trocken aus dem Bett zurück, wobei die junge Mutter ihrem Kind mit dem rechten Zeigefinger vorsichtig über seine kleine Nase strich. „Wann muss ich das Kind anlegen?“
Sr. Benedikta holte einmal tief Luft. Auch diese Frage klang sehr förmlich und verriet wenig Empfindung. „Ihr Töchterchen ist noch nicht so weit und Sie selbst auch nicht. Wir werden schon den rechten Moment finden. Sie beide brauchen zunächst noch ein wenig Ruhe.“
„Dann nehmen Sie die Kleine auch wieder mit“, gab Marie Sperling zurück und reichte Sr. Benedikta das Bündel schon wieder entgegen. „Ich brauche tatsächlich noch meine Ruhe. Die nächste Zeit wird noch unruhig genug.“
„Schade“, gab Sr. Benedikta ein wenig traurig zurück. „Ich hatte angenommen, Sie würden die Kleine …“
„Nehmen Sie sie mit und lassen Sie mich einfach allein“, unterbrach die Wöchnerin deutlich bestimmt, als hätte sie hier etwas zu sagen. „Bringen Sie das Kind wieder, wenn es nötig ist.“
Die Säuglingsschwester nahm das Neugeborene wieder auf ihre Arme und verließ kopfschüttelnd den Raum. Dabei gingen ihr merkwürdige Fragen durch den Kopf: Was war das für eine Frau und Mutter, der die eigene Ruhe jetzt wichtiger war als die Nähe zu ihrem Kind? Würde diese Frau jemals eine gute und liebevolle Mutter sein? War sie den kommenden unruhigen Zeiten gewachsen?
Sr. Benedikta legte das Neugeborene im schlichten Säuglingszimmer in sein Bettchen zurück – hier gab es zurzeit nur dies eine Mädchen, das noch nicht einmal einen Namen hatte: „Gott behüte dich, kleines Wesen, und er schenke deiner Mutter die Liebe, die ihr mal noch zu fehlen scheint. Und hoffentlich hast du auch einen liebevollen Vater, der dich bald begrüßen kommt.“ Dann streichelte sie der Kleinen sanft die Wangen und wiegte sie mit einem Lied in den Schlaf. Schließlich übergab sie den schlafenden Säugling der Obhut ihrer Schwesternschülerin Gisela und wandte sich Arbeiten zu, die es in anderen Bereichen der Klinik für sie noch zu tun gab. Wenn der Säugling sich bemerkbar machte, würde sie wieder zur Stelle sein. Später musste sie sich dann nach dem Namen des Kindes erkundigen. Auch deswegen, um die Klinik-Unterlagen vervollständigen zu können. Und die Frage nach dem Vater musste sie noch stellen. Die irgendwie merkwürdige Szene vorhin im Wöchnerinnenzimmer hatte sie diese Notwendigkeiten völlig vergessen lassen.
Etwa zwei Stunden später betrat Sr. Benedikta wieder das Wöchnerinnenzimmer. Diesmal in Begleitung ihrer Schülerin, die das Neugeborene auf dem Arm hielt. Die Kleine war inzwischen einen guten halben Tag alt und gerade frisch gewickelt. Die Fältchen in dem kleinen Gesicht hatten sich inzwischen geglättet, wobei die rosige Farbe geblieben war. Dafür standen die winzigen Augen offen und die schmalen Lippen bewegten sich, als suchten sie den Ort, wo es etwas Gutes zu finden gab. Die kleinen Ärmchen ruderten aufgeregt herum, wohl um die Suche nach der Brust der Mutter zu unterstützen. Marie Sperling, die junge Mutter, schlief derweil offenbar einen tiefen Schlaf. Sie wachte nicht auf, als die beiden Schwestern mit dem kleinen Menschlein hereinkamen.
Und so traten die beiden Frauen in ihren unterschiedlichen Schwesterntrachten zunächst einmal ans Fenster, um in den späten Nachmittag des 8. Mai 1953 hinauszuschauen. Der machte seinem Platz im Kalender nicht gerade Ehre. Es war grau draußen und es regnete leicht. Ein heftiger Wind zauste an den zart begrünten Zweigen der Sträucher und Bäume im Park, in den das St.-Anna-Stift eigentlich recht idyllisch eingebettet lag, einer großen Villa ähnlich. Den Narzissen und den vereinzelt noch blühenden Krokussen im Rasen zwischen den Parkwegen mochte das Wetter ebenso wenig gefallen wie den Menschen, die den Park nach ihren jeweiligen Möglichkeiten häufig als Therapiehilfe benutzten. Wie sonst um diese Tageszeit war von denen heute niemand draußen an der guten Luft. Dagegen schien den Staren, Meisen und Finken und auch den gefiederten Sperlingen, die das weitläufige Gelände bevölkerten, das trübe Wetter nichts auszumachen. Sie schwirrten eifrig auf dem Gelände herum und ließen dabei ihre Stimmen hören. Vielleicht zwang sie ja ihre Brut in den Nestern, die in den Zweigen und Astgabeln zu sehen waren, und in den zahlreichen Nistkästen dazu, hin und her unterwegs zu sein und nach Futter zu suchen, um hungrige Schnäbel zu stopfen und kleine Mägen zu füllen …
„Schade, dass du kleiner Spatz noch nicht wahrnehmen kannst, wie der Schöpfergott am Werk ist bei Tier und Mensch“, sagte die Ordensschwester zu der Kleinen in ihrem Kissen und streichelte ihr dabei über die Wange.
„Aber in einem Jahr kann sie es, zumindest schon ein bisschen“, tröstete Gisela und fragte, ob sie die Mutter wohl wecken solle.
„Warte mal noch einen Moment“, gab Sr. Benedikta zurück. „Wir wecken sie mit einer Bitte an den Mai. Du kennst das Lied und kannst es gerne mit mir singen.“ Gisela nickte bestätigend mit dem Kopf und sogleich gaben die beiden Frauen dem großen Salzburger Tonmeister Wolfgang Amadeus Mozart die Ehre und sangen aus voller Kehle „Komm, lieber Mai, und mache die Bäume wieder grün“. Stimmlich hielten sich die beiden Sängerinnen nicht zurück, damit diese besondere Bitte an den Mai den Raum so recht füllen konnte. Der Säugling mochte das Lied schon mit mehreren Sinnen aufnehmen, denn Gisela wiegte es sanft zu der walzerähnlichen Melodie.
Die Wöchnerin wurde tatsächlich von dem Gesangsduo geweckt. Als die erste Strophe verklungen war, in der der Mai dazu ermuntert wird, die Veilchen erblühen zu lassen, um spazieren gehen zu können, tönte es vom anderen Zimmer-
ende: „Das möchte ich auch! Geht aber in den nächsten Tagen wohl noch nicht.“
„Da haben Sie recht, Frau Sperling“, griff Sr. Benedikta die Bemerkung auf. „Schön, dass Sie von unserer Mai-Bitte aufgewacht sind und sich jetzt Ihrem Mädelchen widmen können. Die Kleine braucht Ihre Nähe.“
„Und Sie brauchen die Nähe der Kleinen“, ergänzte Gisela und fügte an: „Ich gratuliere Ihnen zu der Geburt dieses kleinen Mädchens und freue mich mit Ihnen beiden, dass alles gut verlaufen ist.“
„Danke“, kam es von der Mutter trocken zurück. Die junge Frau reckte und streckte sich in ihrem Bett, um wohl vollends wach zu werden. „Dann reichen Sie das Kind doch endlich her, Schwester.“
„Gemach, gemach, Frau Sperling“, bremste Sr. Benedikta den mütterlichen Eifer. „Gisela muss das Püppchen erst ausziehen. Es braucht Hautkontakt und sollte sich vielleicht schon einmal auf die Suche nach der Mutterbrust machen.“
„Soll ich etwa schon stillen, Schwester?“ Marie Sperling schien erschrocken. „Ich denke, die Muttermilch bildet sich erst übermorgen oder sogar noch später.“
Sr. Benedikta und Gisela mussten über diese Bemerkung lächeln. „Sag du ihr, wie das ist“, forderte die Hebamme ihre Schülerin auf. „Schließlich müsstest du das doch schon gelernt haben.“
„Ja, das ist so, Frau Sperling“, begann Gisela und hielt einen kleinen Vortrag über das Stillen nach der Geburt und im weiteren Wochenbett. Sie endete dann unter zustimmendem Kopfnicken ihrer Lehrerin mit dem wiederholten Hinweis: „Also richtig schöne weiße Muttermilch kommt sicher nicht vor übermorgen. Bis dahin gibt es die wertvolle Kolostralmilch, oder auch Vormilch genannt, die die Brust jetzt schon bildet und die der kleine Mensch nach seiner Geburt unbedingt braucht.“
„Gut gesagt, Gisela“, lobte Sr. Benedikta ihre Schülerin. „Frau Sperling sollte das verstanden haben. Und jetzt wird die Kleine ausgezogen und der Mutter auf den Leib und an die Brust gelegt.“
Als die junge Mutter zum ersten Mal bewussten Körperkontakt mit ihrer Tochter hatte, war nicht klar, ob ihr das gefiel. Marie Sperling tat sich erkennbar schwer damit. Es schien sie offenbar Überwindung zu kosten, den kleinen nackten warmen Körper auf der eigenen Haut zu spüren, und zu erleben, wie die Händchen sich an die Mutterbrust klammerten und der kleine Mund die Brustwarze tatsächlich fand.
„Ist das nicht herrlich vom Schöpfer so eingerichtet, Frau Sperling“, schwärmte Gisela und strahlte über ihr jugendliches Gesicht.
„Genau so ist es“, ergänzte Sr. Benedikta und fuhr fort: „Ja, Kinder sind eine Gabe des Herrn, und Leibesfrucht ist ein Geschenk. So singt es schon König Salomo im 127. Psalm.“ Damit verabschiedete sich die Hebamme für diesmal, wiederholte aber noch einmal mit deutlichem Nachdruck: „Sein Geschenk, Frau Sperling. Freuen Sie sich! Und seien Sie dankbar! Ihr Kind ist ein Geschenk unseres großen Gottes!“
„Hab ich schon mal gehört“, gab die Wöchnerin ohne besondere Regung zurück, um bald danach zu fragen: „Wie lange muss ich …?“
„Noch ein paar Minuten, Frau Sperling“, antwortete Gisela, die jetzt mit der Wöchnerin allein war. „Ich wickle die Kleine dann wieder in ihre Windeln und stecke sie in ihr Kissen. Und Sie haben wieder Zeit und Gelegenheit, sich auszuruhen. Aber vorher muss das kleine Wesen noch ein wenig die Hautwärme seiner Mutter fühlen und ihre liebevolle Zuwendung empfinden und zärtliche Berührung spüren.“
„Hautwärme der Mutter? Zuwendung und Berührung? Was soll das? Ich habe das Kind neun Monate bei mir gehabt und gewärmt. Jetzt brauche ich Zeit, mich davon zu erholen“, kam es in merkwürdigem Ton von der Mutter, die den Winzling auch schon wieder der Schülerin entgegenhielt. „Nehmen Sie das Kind und wickeln Sie es wieder ein. Es friert sonst noch.“
Merkwürdiges Muttergebaren. „Es friert sonst noch“, ging es der angehenden Säuglingsschwester durch den Sinn, „aber wohl nicht, weil es hier zu kalt wäre.“ Ob dieses Verhalten ein Vorzeichen auf die sogenannten Heultage war oder auch die eines zuweilen vorkommenden Stimmungstiefs junger Mütter im Wochenbett? Postpartale Depression nannte man so etwas. Oder hatte die Frau eine innere Abneigung gegen ihr Kind, die sie nicht verbergen konnte und es vielleicht auch nicht wollte? Warum hatte die Kleine eigentlich immer noch keinen Namen? Und von seinem Vater war bisher auch noch nicht die Rede gewesen. Diese und andere Gedanken gingen Gisela durch den Kopf. Wenigstens nach dem Namen des Kindes wollte sie jetzt einmal fragen. „Wie soll Ihr Mädchen denn eigentlich heißen, Frau Sperling?“
Die schaute ein wenig erstaunt drein und gab ihre Antwort wieder ohne besondere innere Bewegung: „Ich weiß es noch nicht. Vielleicht Regina oder Angela oder Susanna oder Magdalena oder irgendwie mit a hinten. Ich muss das erst noch mit meinem Mann besprechen, wenn er mich besuchen kommt. Der hat diese Woche Mittagsschicht. Da kann er nicht kommen. Aber wenn er Frühschicht hat und ihn jemand herbringen kann, dann wird er vorbeischauen. Außerhalb der Besuchszeiten darf hier ja keiner rein.“
Auf diese Bemerkung reagierte Gisela nicht, dafür aber auf die genannten Mädchennamen: „Ihre Namensvorschläge sind alle schön“, freute sie sich. „Regina – die Königliche, Angela – der Engel, natürlich der weibliche Engel, Susanna – die Lilie … Ich finde Angela am schönsten.“
„Mal sehen, welcher Name es wird“, wollte die Wöchnerin wohl das Gespräch beenden. „Legen Sie die Namenlose einfach schlafen, bis Sie sie wiederbringen müssen.“
Schülerin Gisela hatte den Säugling inzwischen wieder eingepackt und hielt der Mutter das fertige Paketchen noch einmal hin. Sie sollte das Kind noch einmal streicheln. Aber danach stand ihr nicht der Sinn. Dafür fragte sie: „Wann gibt es denn für mich etwas zu essen?“
„Das Essen kommt, Frau Sperling, keine Bange, nur ein bisschen Geduld“, antwortete Gisela ein wenig schroff. In ihrer Stimme klang deutlich ihre Missbilligung darüber, wie diese Mutter sich gegenüber ihrem Neugeborenen verhielt. Dann verließ sie mit dem Säugling das Wöchnerinnen-Zimmer. Dabei schüttelte sie innerlich den Kopf. Das Verhalten der jungen Mutter konnte sie einfach nicht deuten und schon gar nicht nachvollziehen. Ob sich das in den kommenden Tagen änderte? Vielleicht hatte der Vater ja helfenden Einfluss auf die junge Mutter, wenn er denn dann mal kam …
Die folgenden Tage auf der bescheidenen Säuglings- und Wöchnerinnen-Station des St.-Anna-Stifts verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Die Zahl der Geburten in dieser kleinen katholisch geführten Klinik im überwiegend evangelisch geprägten Umland, deren Träger die Ordensgemeinschaft der Franziskanerinnen war, hielt sich ja auch in Grenzen. Folglich konnten sich die Mitarbeiterinnen auf der Wöchnerinnen-Station in guter Weise und ohne Hektik um ihre kleinen und großen Schützlinge kümmern, sodass alle immer gut versorgt waren. Die Frauen in ihren Ordensgewändern und auch die „freien“ Kräfte arbeiteten deutlich spürbar nach dem Leitspruch „Die Liebe ist die Seele des Ordenslebens“, der auf die Gründerin der Kommunität zurückgeht, Mutter Theresia Bonzel. Sie hatte ihn in den Sechzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts so formuliert. Ein anderer ihrer Leitsprüche war: „Alles wird leicht, wenn wir es mit und für Gott tun.“ Deshalb also die gute Atmosphäre auf der Station und in der gesamten Klinik, deshalb die Geduld, Freundlichkeit und liebevolle Zuwendung jedem Menschen gegenüber, der die Hilfe dieses Hauses in Anspruch nahm. Deshalb auch die Freude am Singen, nicht nur bei Sr. Benedikta.
Freilich machten es die Neugeborenen und ihre Mütter der Hebamme und Chefschwester und ihrer Schülerin Gisela und den anderen Mitarbeiterinnen nicht immer leicht. Mitunter gab es auch mal laute Töne und Ärger. Manche auftretenden Schwierigkeiten waren naturgegeben und relativ normale Begleiterscheinungen des Lebens und Arbeitens auf einer Station wie dieser, manche waren allerdings auch von Menschen gemacht, die aus den unterschiedlichsten Gründen mit ihrer derzeitigen Situation nicht zurechtkamen.
Der Aufstand, den Marie Sperling gegen Ende der ersten Woche ihres Aufenthaltes in diesem Haus machte, war dann auch schon besonders und forderte einen ganz speziellen Einsatz von Sr. Benedikta und einigen anderen aus der Klinik. Was war nur los mit dieser Frau, die aus dem bäuerlichen Ort Eckertshofen kam. Irgendetwas Merkwürdiges und Unerklärliches trieb diese Ehefrau und Mutter um. Mit ihrem Säugling kam sie auch nach mehreren Tagen kaum zurecht, obwohl die Schwestern sie im Umgang mit dem kleinen Wurm geduldig anleiteten. Liebevolle Hinweise kamen bei ihr kaum an, Ratschläge, Mahnungen und Belehrungen schon gar nicht. Marie Sperling sperrte sich einfach in vielen Dingen gegen ihre neue Rolle als Mutter. Dann forderte sie plötzlich wie aus heiterem Himmel sehr bestimmend, ihr Kind müsse so schnell wie möglich getauft werden. Dafür gab es aber keinen erkennbaren Grund.
„Das kann doch warten, bis Sie mit der Kleinen zu Hause sind, Frau Sperling“, versuchte Sr. Benedikta die Mutter umzustimmen. „Auf die eine Woche kommt es sicher nicht an. Das Mädelchen ist doch nicht krank, dass wir hier Hals über Kopf eine Nottaufe organisieren müssten.“
„Aber ich bin krank, und wer weiß, was nach der entsetzlichen Brustentzündung noch kommt. Deshalb will ich, dass das Kind umgehend getauft wird!“, bestand Marie Sperling auf ihrer Forderung. „Weiß ich denn heute, was in den nächsten Tagen mit mir und mit dem Kind noch alles passieren kann? Es trinkt ja jetzt schon nicht richtig und hat immer Durchfall und entwickelt sich zunehmend zum Schreihals. Und ich werde von Brustschmerzen gequält.“ Die Wöchnerin redete sich – wieder einmal – in Rage. „Leiten Sie das in die Wege, Schwester Benedikta! Ich will das so – und mein Mann auch!“
„Frau Sperling …!“, versuchte die Schwester die Mutter zu unterbrechen. Aber es gelang ihr nicht, denn die Frau in ihrem Bett setzte sofort neu an: „Irgendjemand hat vorhin lauthals vom plötzlichen Kindstod geredet, den es immer wieder gibt, und ich will nicht, dass das Kind ungetauft ...“
Bei diesen Worten platzte Sr. Benedikta dann doch der Kragen und sie wurde so laut, wie sie es normalerweise nie wurde: „Jetzt hören Sie aber auf mit Ihrem dummen Gerede, Frau Sperling. Das ist ja nicht zum Aushalten! Haben Sie denn überhaupt kein Gottvertrauen? Ihr eigenes Problem ist nicht dramatisch und Ihr Kind ist gesund! Ihm fehlt nichts! Was Sie als Mängel aufzählen, sind ganz normale Erscheinungen bei einem Säugling, der noch nicht einmal eine Woche alt ist.“
„Das sehe ich anders“, beharrte die Mutter und wiederholte sehr bestimmt: „Wenn ich will, dass das Kind getauft wird, dann wird es getauft! Punkt! Und Sie leiten das bitte in die Wege.“ Marie Sperling sprach’s, legte den Kopf auf die Seite und signalisierte damit, dass das Gespräch für sie beendet war.
Sr. Benedikta seufzte einmal deutlich auf: „Wenn Sie denn meinen, Nottaufe sei geboten, dann muss ich wohl mit unserem Pater reden.“
„Warum das denn, Schwester!“, fragte die Wöchnerin scharf nach. „Bis der kommt, vergeht viel zu viel Zeit. Eine Nottaufe können Sie auch machen.“
„Kann ich, Frau Sperling“, bestätigte Sr. Benedikta. „Und ich würde das auch machen, wenn wirklich eine Notlage vorläge. Dem ist aber nicht so, daher mache ich das auch nicht! Ich frage unseren zuständigen Pater Ludgerus.“
„Dann sagen Sie ihm, dass er heute noch …“, beharrte die Mutter mit deutlichem Nachdruck.
„Aber Ihr Mann hat doch Mittagschicht, wenn ich das richtig in Erinnerung habe“, wandte die Schwester ein.
„Ja, das ist richtig“, bestätigte Marie Sperling. „Er muss ja nicht dabei sein. Hauptsache, das Kind wird getauft. Punkt!“ Nach einem Moment des Zögerns fügte die Frau an und wechselte dabei plötzlich ihren Ton: „Sie singen doch so gerne, Schwester. Und da möchte ich ein Lied gesungen haben.“
„Uns hier unter Druck setzen und dann noch Wünsche haben“, gab die Hebamme deutlich ungehalten zurück, fragte dann aber doch auch wieder in freundlicherem Ton: „Welches Lied soll es denn sein?“
„Der Muttersegen von Cordula Wöhler ‚Segne du, Maria‘. Das geht doch wohl?“
„Wir werden sehen. Ich habe den Wunsch jedenfalls registriert, wobei es mich wundert, dass Sie das Lied überhaupt kennen.“ Die Schwester seufzte noch einmal laut vernehmlich und verließ dann kopfschüttelnd das Zimmer. Dabei ging ihr durch den Kopf, ob die Mutter wohl eine Tauffeier zu Hause vermeiden wollte, um keine Arbeit damit zu haben. Oder gab es irgendwelche anderen Gründe, die sie nicht nennen wollte? Auf dem Dorf wurde eine Taufe nämlich zuweilen zu einer größeren und recht aufwendigen Veranstaltung, die Zeit und Kraft und Mittel kostete. Wie auch immer. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich und hier hatte ein Mensch seinen Willen deutlich kundgetan. Um des Stationsfriedens und der gebotenen Liebe willen sollte es dann so sein. Hoffentlich war Pater Ludgerus zu erreichen und für den Dienst frei.
Der Geistliche signalisierte seine Bereitschaft, die Taufe des Säuglings Sperling noch am selben Tag zu vollziehen. Und so kam der Ordensbruder gegen Abend mit seinem Utensilien-Koffer auf die Wöchnerinnen-Station, um seines Amtes zu walten. Der kleine Tisch im Zimmer, das inzwischen drei Wöchnerinnen beherbergte, wurde zum Altar erklärt und mit einem Kruzifix bestückt, das von zwei weißen Kerzen eingerahmt war. Dazu standen auf dem Tisch ein Silberkrug mit geweihtem Wasser, eine Silberschale, die das Taufwasser aufnehmen sollte, und eine schlanke Taufkerze, die mit einem schlichten Christusmonogramm versehen war, den beiden ineinandergefügten griechischen Buchstaben Chi und Rho. Eine kleine Taufgemeinde gab es schon dadurch, dass die anderen Wöchnerinnen im Zimmer blieben und auch Sr. Benedikta und Schülerin Gisela an der geistlichen Handlung teilnahmen.
Pater Ludgerus gestaltete die Taufe sehr feierlich. Dabei hielt er sich allerdings nur in den Hauptschritten an den üblicherweise vorgegebenen liturgischen Rahmen. Es ging hier ja auch nur um eine Nottaufe, bei der der Vater des Täuflings noch nicht einmal anwesend war. Schon merkwürdig! So musste also die Mutter die Frage allein beantworten, ob das Kind wirklich getauft werden sollte. Blöde Frage, mochte Marie Sperling im Kopf haben, als sie mit einem kurzen „Ja, ich will, dass das Kind getauft wird“ antwortete. „Es soll damit in die katholische Kirche aufgenommen werden.“ Das Glaubensbekenntnis sprach die Mutter dann aber nicht mit. Dafür beantwortete sie die Frage nach dem Namen des Kindes laut und deutlich: „Das Mädchen soll Angela heißen.“
Daraufhin konnte Pater Ludgerus den eigentlichen Tauf-akt vollziehen. Er zündete die Taufkerze an und bat Lernschwester Gisela, die sich als Taufpatin angeboten hatte, den Säugling über die Silberschüssel zu halten. Der Geistliche goss dem Kind, dem er zuvor anstelle des fehlenden Taufkleides ein weißes Tuch aufgelegt hatte, dreimal ein wenig von dem geweihten Wasser über das Köpfchen und sprach dabei die Taufformel: „Angela Sperling, ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen!“
Nach dem gemeinsam gesprochenen Vaterunser, das auch Marie Sperling mitsprach, griff Sr. Benedikta zu ihrer Gitarre, die sie für diesen besonderen Moment mitgebracht hatte. Sie erfüllte der Kindesmutter ihren Wunsch und sang mit ihrer schönen Sopranstimme das erbetene Lied von Cordula Wöhler, das diese Frau am 31. Mai 1870 gedichtet hatte, just an dem Tag, als sie ihr Elternhaus verlassen musste, weil sie vom evangelischen zum katholischen Glauben konvertiert war:
Segne du, Maria, segne mich, dein Kind,
Dass ich hier den Frieden, dort den Himmel find!
Segne all mein Denken, segne all mein Tun,
Lass in deinem Segen Tag und Nacht mich ruhn!
Segne du, Maria, alle die mir lieb,
Deinen Muttersegen ihnen täglich gib!
Deine Mutterhände breit auf alle aus,
Segne alle Herzen, segne jedes Haus!
Segne du, Maria, alle die voll Schmerz,
Gieße Trost und Frieden in ihr wundes Herz.
Sei mit deiner Hilfe nimmer ihnen fern;
Sei durch Nacht und Dunkel stets ein lichter Stern!
Segne du, Maria, unsre letzte Stund!
Süße Trostesworte flüstre dann dein Mund.
Deine Hand, die linde, drück das Aug uns zu.
Bleib im Tod und Leben unser Segen du!“
Danach sprach Pater Ludgerus den aaronitischen Segen über der kleinen Angela, ihrer Mutter und der Taufgemeinde. Schließlich packte er seine Utensilien ein, verabschiedete sich mit einer Verbeugung in die Runde der Anwesenden und verließ den Raum wieder. Die Taufgemeinde löste sich auf, wobei auch die beiden anderen Wöchnerinnen nach draußen gingen. Zurück blieben Sr. Benedikta und Lernschwester Gisela, die immer noch den Täufling auf ihren Armen hielt. Sie legte ihr Patenkind dann aber doch der Mutter ins Bett: „Herzliche Segenswünsche für die ganze Familie und besonders für den kleinen Engel. Möge sein Taufspruch aus Psalm 139,5 ihm wichtig werden: Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ Dann verließ auch sie den Raum, um an ihre eigentliche Arbeit zu gehen.
Sr. Benedikta blieb noch für einen kurzen Moment am Bett stehen und reichte der Kindsmutter noch einmal die Hand: „Der himmlische Vater möge Sie und Angela, Ihren kleinen Engel, segnen, und Maria, die ewig gebenedeite Mutter Gottes, möge Sie und die Kleine und auch Ihren Mann allezeit begleiten und umgeben, wie ich es Ihnen gesungen habe. Vergessen Sie später nicht, die Taufkerze mit nach Hause zu nehmen. Sie ist ein Erinnerungsstück an Angelas Taufe. Später zu ihrer Erstkommunion wird sie sie gebrauchen. So, nun bleibt das Kind noch eine Weile bei Ihnen. Schwester Gisela wird es später wieder abholen. Übrigens, Frau Sperling, halten Sie auch künftig Kontakt zu Gisela. Sie ist die Taufpatin Ihres Kindes und sollte ihrer Verantwortung nachkommen können. Und noch eins: Demnächst darf Ihr Mann Sie und Angela nach Hause abholen. Sie sind dann mehr als drei Wochen hier und Ihre Brustentzündung ist sehr gut abgeklungen. Mutter und Kind sind jetzt in der Lage, das Leben im eigenen Zuhause zu meistern. Wir benachrichtigen Ihren Mann rechtzeitig.“
„Jetzt ist es so weit, Frau Sperling, es geht nach Hause!“ Mit schwungvollen Schritten kam Sr. Benedikta ins Zimmer und zog die Gardinen auf, um die Morgensonne des drittletzten Maitages hereinzulassen. Dabei stimmte sie wieder ein fröhliches Lied an, mit dem sie der jungen Mutter den Segen Gottes zusang.
„Mai, Mai, Sommergrün,
die Engel singen im Himmel schön,
sie singen über die Maßen,
Gott wird euch nicht verlassen!“
Als ihr Lied verklungen war, wandte sie sich an Frau Sperling und wurde noch einmal ernst: „Leben Sie wohl, junge Frau, empfangen Sie immer wieder den Muttersegen, den ich Ihnen gesungen habe, und schenken Sie Ihrem kleinen Engel die Liebe, die er braucht, um ein guter, zufriedener und dankbarer Mensch zu werden. Denken Sie daran: Gott wird Sie nicht verlassen. Übrigens, Ihr Mann wartet schon unten an der Pforte auf Sie.“
Wenig später verließen die Eltern Sperling mit Angela, ihrem neugeborenen Töchterchen, das St.-Anna-Stift, um die Heimfahrt nach Eckertshofen anzutreten. Nach kurzer Überlandfahrt kamen sie dort an und bezogen als nunmehr richtige Familie ihre Wohnung in der Straße „Vorm Wald“, die am oberen Ortsrand lag. Nun begann ein völlig veränderter Abschnitt ihres gemeinsamen Lebens.
Lothar von Seltmann
Lothar von Seltmann war Direktor einer Hauptschule. Nach seiner Pensionierung begann er mit dem Schreiben von Gedichten und
Romanbiografien. Er ist Vater von drei erwachsenen Kindern und lebt mit seiner Frau in Hilchenbach.
Eine Echtheits-Überprüfung der Bewertungen hat vor deren Veröffentlichung nicht stattgefunden. Die Bewertungen könnten von Verbrauchern stammen, die die Ware oder Dienstleistung gar nicht erworben oder genutzt haben.