Colorado 1876: Hals über Kopf gibt Dr. Molly Whitcomb ihre Stelle als Dozentin für moderne Sprachen auf und reist in den Westen, um an einer Dorfschule in den Rocky Mountains als Lehrerin zu arbeiten. Aber warum kauft sie sich in einem Juwelierladen einen Ehering? Welches Geheimnis umgibt diese talentierte junge Frau?
James McPherson, der sympathische Sheriff von Timber Ridge, ist von den ungewöhnlichen Unterrichtsmethoden der neuen Lehrerin beeindruckt. Bald redet das ganze Dorf von ihr und Timber Ridge verändert sich. Aber wie lange wird es dauern,
bis ihr Geheimnis ans Licht kommt? Und wie wird der Sheriff dann reagieren, der in der attraktiven Lehrerin inzwischen mehr sieht als nur eine begabte Pädagogin?
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Kapitel 1
Sulfur Falls, Colorado-Territorium
26. Juli 1876
Molly Ellen Whitcomb stieg aus dem Zug und betrat den Bahnsteig von Sulfur Falls. Einen Moment lang blieb sie stehen, da sie nicht sicher war, wohin sie gehen und was sie tun sollte. Und das nicht nur in einer Hinsicht. Der Pfiff des Zuges hallte schrill von den Bahnhofswänden wider und wehte über den offenen Bahnsteig, auf dem sich viele Menschen drängten.
Die Lokomotive stieß unablässig Rauch und Ruß aus. Ein unmissverständliches Räuspern hinter ihr drängte sie, endlich weiterzugehen. Jeder Schritt kostete sie viel Kraft und machte ihr schmerzlich bewusst, warum sie überhaupt hier war. Und wie tief sie gefallen war.
Sie klemmte sich die abgegriffene Zeitschrift unter den Arm und folgte dem Strom der aussteigenden Fahrgäste. Vier Tage früher als geplant kam sie in Sulfur Falls an. Dem Bürgermeister von Timber Ridge hatte sie ein Telegramm geschickt, um ihn über ihr früheres Eintreffen zu informieren, aber auf dem Telegrafenamt hatte man ihr mitgeteilt, dass die Telegrafenleitungen aufgrund schwerer Regenfälle außer Betrieb waren.
Sie warf einen Blick zum grauen Himmel hinauf, rieb sich den schmerzenden Rücken und bezweifelte, dass sich daran etwas geändert haben könnte. Hoch über der kleinen Viehhandelsstadt thronten im Westen die majestätischen Gipfel der Rocky Mountains, die stellenweise immer noch schneebedeckt waren. Bilder von den Bergen hatte sie schon gesehen. Schon die grauen Schwarz-Weiß-Fotos waren sehr eindrucksvoll gewesen, aber diese Pracht mit eigenen Augen zu sehen, war etwas völlig anderes. Fast hatte sie das Gefühl, sie müsse aus Respekt einen Knicks machen. Doch dann kam plötzlich ein stärkerer Wind auf und sie verzog das Gesicht.
Der Gestank von Dung lag schwer in der Luft, Müll säumte den Bahnsteig und den Straßenrand. Plötzlich reagierte ihr Magen auf den unangenehmen Geruch, und sie hielt sich eine Hand vor die Nase. Als der Schaffner ihr gestern in Denver erklärt hatte, dass Sulfur Falls die Endstation sei, hatte er nicht übertrieben. Hundert Meter hinter dem Bahnhof endeten die Zuggleise und führten in einem Bogen zum Bahnhof zurück.
„Das Gepäck kann dort hinten abgeholt werden, Ma’am! Ganz hinten, links.“
Obwohl sie kaum Luft bekam, hob Molly den Blick und sah, wohin der Schaffner deutete.
Er warf einen Blick auf die Zeitschrift unter ihrem Arm. „Soll ich das für Sie entsorgen, Ma’am?“
Sie verstärkte ihren Griff um die Zeitschrift. „Nein, ich will sie noch behalten. Trotzdem vielen …“ Der Dank erstarb ihr auf den Lippen, weil sich der Mann bereits abgewandt hatte.
Sie bewegte sich in die Richtung, in die er gedeutet hatte, als ihr Blick auf ein Geschäft auf der anderen Straßenseite fiel. Das Holzschild über der Ladentür schaukelte im Wind, als wolle es Molly zu sich locken. So leise wie das Flattern eines Schmetterlingsflügels regte sich ein Gedanke in ihr.
Sie zögerte und trat zur Seite, um die anderen Fahrgäste vorbeizulassen.
Sie hatte Skrupel. Dieser Gedanke stellte ihre Integrität infrage und widersprach allem, was sie ihren Studenten am Franklin College in Athens, Georgia, nach Kräften hatte vermitteln wollen.
Skrupel. Integrität. Ehrlichkeit.
„Unrecht gepaart mit Unrecht ergibt noch kein Recht, Miss Cassidy“, hatte sie im letzten Herbst eine Studentin getadelt, die betrogen hatte und danach versucht hatte, sich durch Lügen aus der Affäre zu ziehen.
Molly starrte das Holzschild an und wusste, dass sie genau das Gleiche versuchen würde, wenn sie jetzt ihrem Impuls folgte: Sie würde versuchen, ein Unrecht durch ein zweites aufzuheben.
Plötzlich wurde ihr heiß und kalt, als sie sich daran erinnerte, wie sie erst vor drei Wochen am frühen Morgen vor Beginn der ersten Vorlesung ins Büro des Collegepräsidenten bestellt worden war. Ihre Entlassung vom Franklin College war schnell und demütigend gewesen. Was sie getan hatte, war falsch gewesen. Das wusste sie. Das hatte sie nie infrage gestellt. Aber die Strafe war viel zu hart ausgefallen, und sie hatte sich nicht damit abfinden wollen. Zumindest anfangs nicht.
Doch als Präsident Northrop ihr dargelegt hatte, was geschehen würde, falls sie sich weigerte, das College zu verlassen und ihre Stelle aufzugeben, hatte sie sich gefügt. Sofort. Er hatte ihre einzige Schwachstelle gefunden und sie erbarmungslos ausgenutzt.
Seinem „eindringlichen Rat“, diese Stelle anzunehmen und hier ein neues Leben zu beginnen, hatte er dadurch Nachdruck verliehen, dass er sich geweigert hatte, ihr für irgendeine andere Stelle ein Referenzschreiben zu geben; nicht einmal für die Schulen im Osten, die sie ihm vorgeschlagen hatte. Und ohne ein Referenzschreiben würde ihr kein angesehenes College und keine Schule je eine Chance geben.
Sie atmete vorsichtig ein und strich mit ihrem Spitzenhandschuh über ihre blaue Jacquardweste. Sie hatte hart dafür gearbeitet, sich ihren Doktortitel zu verdienen und einige Zeit später genauso wie ihr Vater den Professorentitel zu bekommen. Damit hatte sie für Frauen in akademischen Berufen eine Bresche geschlagen. Aber das alles hatte sie durch eine einzige Dummheit zunichte gemacht.
Am Ende hatte Präsident Northrop gewonnen, wie das bei Männern in einflussreichen Positionen immer der Fall war. Denn jetzt stand sie hier, weitab von der Zivilisation und der Gesellschaft, und alles, was sie sich erarbeitet hatte, zählte nicht mehr.
Molly traf ihre Entscheidung und steuerte zielstrebig auf das Geschäft zu.
Sie schaute sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand sie beobachtete, doch dann schüttelte sie leicht den Kopf und schluckte ein bitteres Lachen hinunter. In dieser Stadt kannte sie niemand. Keine einzige Menschenseele. Einen entlegeneren Ort hätte man nicht für sie finden können, außer vielleicht die Wildnis in Alaska. Wenn dort eine Stelle frei gewesen wäre, würde sie jetzt höchstwahrscheinlich in der weiten, gefrorenen Tundra aus einem Zug steigen.
Gleichzeitig hatte das Franklin College Professor Jeremy Fowler eine strenge Ermahnung erteilt und seine Professur bestätigt. Jeremy Fowler verschickte bereits Hochzeitseinladungen. Aber darauf stand nicht ihr Name. Den bitteren Geschmack in ihrem Mund schluckte sie herunter. Vielleicht hätte sie sich inzwischen an die ungleichen Maßstäbe für Männer und Frauen gewöhnen sollen, aber damit tat sie sich immer noch schwer.
Mit gesenktem Blick wartete sie, bis eine Kutsche vorbeigefahren war, bevor sie ihren Fuß auf die Straße setzte.
„Entschuldigen Sie, Ma’am, aber das Gepäck müssen Sie dort hinten abholen.“
Sie drehte sich um, um dem Schaffner zu sagen, dass sie nur eine kurze Besorgung erledigen müsse, aber dieses Mal stand nicht der Schaffner hinter ihr. Aus dem regennassen Mantel und dem triefenden, weitkrempigen Hut des Mannes schloss sie, dass er kein Angestellter der Eisenbahn war. Und sie war sich ganz sicher, dass sie ihn noch nie gesehen hatte. An diesen Mann würde sie sich erinnern.
Das Wort „attraktiv“ beschrieb ihn nicht einmal ansatzweise. Früher hätte das genügt, um ihr Interesse zu wecken. Doch das war vorbei.
Das Gesicht dieses Mannes wirkte offen und ehrlich, besonders sein Lächeln. „Mir ist aufgefallen, dass Sie gerade erst aus dem Zug gestiegen sind, und … nun ja, Ma’am, dieser Stadtteil ist nicht gerade besonders sicher. Ich wollte nur, dass Sie wissen, wohin Sie gehen. Denn falls Sie das nicht wissen, Mädchen …“ Ein verschmitztes Funkeln trat in seine Augen, als er in einen makellosen schottischen Akzent wechselte. „… könnte es leicht passieren, dass Sie an einem Ort landen, an dem Sie nicht sein wollen.“ Mit einem leisen Lachen tippte er an seinen abgetragenen Cowboyhut. „Dieser Rat meines Großvaters, Ian Fletcher McGuiggan, kostet Sie nichts. Ich kann ihn auswendig, denn diesen Satz hörte ich jedes Mal, wenn ich das Haus verließ.“
Molly erkannte einen Flirtversuch genauso schnell wie eine Kakerlake an der Wand. Als Professorin für romanische Sprachen schien sie eine Anziehungskraft auf Männer zu haben, die gern flirteten. Aber das Verhalten dieses Mannes zeigte nicht die geringsten unlauteren Absichten. Ganz im Gegenteil. Sein Tonfall klang ehrlich und offen und seine Aussprache verriet, dass er aus den Südstaaten kam.
„Das klingt, als wäre Ihr Großvater ein sehr weiser Mann gewesen, Sir.“
„Das war er. Starrköpfig wie ein Esel, aber auf der ganzen Erde findet man kaum einen freundlicheren, einfühlsameren Menschen.“
Molly brauchte eine Sekunde, bis sie merkte, dass sie jetzt lächelte. Und noch eine weitere Sekunde, um sich bewusst zu werden, dass ihr Lächeln dieses Mal echt und nicht so mühsam und gekünstelt war wie in den letzten Wochen, als sie sich dazu hatte zwingen müssen.
Aufgrund seines Akzents schätzte sie, dass der Fremde aus Tennessee stammte. Vielleicht auch aus South Carolina. Eindeutig aus der Bildungsschicht. Sein Akzent war nicht mehr sehr stark ausgeprägt, woraus sie schloss, dass er den Süden schon vor einer ganzen Weile verlassen hatte. Auch den schottischen Akzent seines Großvaters hatte er erstaunlich gut nachgeahmt.
Sein Blick wurde wehmütig. „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke.“
„Und an dem Sie sich nicht wünschten, er wäre noch bei Ihnen“, ergänzte Molly, die ahnte, was er nicht sagte.
„Ja, Ma’am.“ Er legte den Kopf schief. „Ich nehme an, Ihr Großvater war ein ähnlich guter Mensch?“
„Mein Vater. Aber er ist schon gestorben.“ Es verging kein Tag, an dem sie nicht wünschte, er wäre noch bei ihr. Aber gleichzeitig hatte sie Gott in den letzten Wochen dafür gedankt, dass er nicht mehr lebte. Ihre Bestrafung war schlimm genug, ohne dass sie auch noch ihrem Vater unter die Augen treten musste.
„Mein Beileid, Ma’am.“ Er nahm den Hut ab und seine Stimme wurde leiser. „Ist er erst vor Kurzem gestorben?“
„Vor einem Jahr. Gestern war sein Todestag. Er war krank. Ich wusste also, dass seine Tage gezählt waren. Wenigstens konnte ich mich von ihm verabschieden“, flüsterte sie und staunte über dieses sehr persönliche Gespräch mit einem völlig fremden Menschen. Und dann auch noch auf dem Bahnhof einer abgelegenen Kleinstadt in Colorado. Ihr Vater hatte gesagt, dass ihr Abschied nicht für immer wäre, sondern nur für eine Weile. Aber manchmal hatte sie das Gefühl, dass der Abschied endgültig und nicht nur vorübergehend war.
Der Mann schaute sie an, ohne etwas zu sagen. Sie erwartete, dass durch das Schweigen eine unangenehme Atmosphäre entstehen würde. Aber das geschah nicht. Eine unerklärliche Unbefangenheit erfüllte sie. Etwas sagte ihr, dass Schweigen für ihn nichts Ungewohntes war, dass er nicht jede Sekunde mit Worten füllen musste, obwohl er derjenige war, der sie angesprochen hatte.
So weit im Westen hatte sie eine solche Höflichkeit nicht erwartet, besonders nach der Begegnung mit einigen sehr ungehobelten Männern, denen sie während ihrer zweiwöchigen Fahrt begegnet war.
„Nun…“ Er setzte seinen Hut wieder auf. Bei dieser Bewegung klappte sein Mantel auf und ein Sheriffstern, der an seiner Weste steckte, kam darunter zum Vorschein. „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie aufgehalten habe, Ma’am. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und hoffe, es gefällt Ihnen in Sulfur Falls.“
Ihr lag auf der Zunge, ihn zu fragen, was er über Timber Ridge wusste, aber als sie den Sheriffstern sah, gab sie diesem Wunsch nicht nach. Mit einem Mann in einer einflussreichen Position wollte sie nichts zu tun haben, auch wenn er noch so freundlich und aufrichtig wirkte. „Guten Tag, Sir. Und noch einmal danke für Ihre Fürsorge.“
Molly wich dem Matsch und den Hinterlassenschaften der Tiere so gut sie konnte aus und setzte ihren Weg über die Straße fort. Sie widerstand dem Wunsch, sich noch einmal nach dem Sheriff umzusehen. Ein Lieferwagen polterte viel zu schnell durch die Straße. Der Fahrer, dessen Wangen und breite Koteletten sich aufblähten, sah nicht so aus, als wollte er anhalten. Molly schaute ihn finster an, blieb aber mitten auf der Straße stehen, bis er vorbeigefahren war. Ungehobelter Hinterwäldler!
Die Hauptstraße wies tiefe Fahrrillen und Schlaglöcher auf. Das Überqueren der Straße stellte eine Herausforderung dar, besonders in ihren Stiefeln mit den hohen Absätzen.
Eine ziemlich große und stinkende Hinterlassenschaft eines Rindes lag vor ihr auf dem Weg. Sie wich zur Seite, um nicht hineinzutreten. Aus der großen Menge derartiger Hinterlassenschaften schloss sie, dass eine Viehherde mitten durch die Hauptstraße getrieben worden war. Unglaublich.
Sie war dankbar, als sie unbeschadet von Menschen und Tieren den Gehweg auf der anderen Seite erreichte, stieg die Stufen hinauf und bahnte sich mit einem unguten Gefühl ihren Weg über den ungleichmäßigen hölzernen Brettersteg. Vor der Ladentür blieb sie stehen und zog die Taschenuhr ihres Vaters aus ihrer Handtasche. Die Postkutsche nach Timber Ridge würde in einer halben Stunde abfahren, und sie müsste vorher noch ihren Gepäcktransport in die Wege leiten. Ihr blieb also nicht viel Zeit.
Sie zwang ihre zitternden Nerven, sich zu beruhigen, und öffnete die Tür.
Ein Mann stand hinter der Verkaufstheke und suchte etwas in einer Schublade. Erst als Molly ihn sah, wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich gewünscht hatte, eine Frau würde sie bei diesem Kauf bedienen. Vor ihr tauchte das Bild ihres Vaters auf, begleitet von einer mahnenden Stimme und einem unguten Gefühl im Magen. „Gut gemacht, Dr. Whitcomb“, hatte ihr Vater geflüstert, als sie mit ihrer Urkunde in der Hand neben ihm gestanden hatte. „Ein Vater könnte nicht stolzer auf seine Tochter sein.“
Das war vor vier Jahren gewesen. Seine Worte und die Erinnerung daran waren für sie immer noch sehr lebendig, wenn auch im Moment aus einem völlig anderen Grund. Als sie daran dachte, was ihr Vater von den Entscheidungen halten würde, die sie in letzter Zeit getroffen hatte, stellte sie infrage, ob sie das, was sie jetzt vorhatte, wirklich tun sollte. Aber da sie wusste, wie ihre Zukunft aussehen würde, wenn sie es nicht machte, ignorierte sie die warnende Stimme.
Der Verkäufer hob den Blick. „Guten Tag, Ma’am. Was kann ich für Sie tun?“
Sie warf einen schnellen Blick auf die Uhr, die hinter ihm an der Wand hing. Sie wollte direkt zur Sache kommen. „Ich möchte …“ Sie atmete tief ein. „… einen Ring kaufen.“
„Ah!“ Die Miene des Mannes strahlte auf. „Dann sind Sie hier genau richtig, Ma’am. Brentons Juweliergeschäft hat die größte Auswahl an Ringen in ganz Sulfur Falls.“
Molly bemühte sich, beeindruckt zu wirken.
Er schaute sie an. „Lassen Sie mich raten. Ihr Geschmack geht eher in Richtung … Rubine.“
Sie schüttelte den Kopf und suchte nach den richtigen Worten. Das zu verlangen, was sie wollte, fiel ihr schwerer, als sie gedacht hatte. „Was ich möchte, ist …“
„Nein, nein!“, lächelte er. „Verraten Sie es mir nicht.“ Er rieb sich nachdenklich das Kinn. „Saphire“, sagte er mit hoffnungsvoller Miene.
Er schien ganz nett zu sein und sie wollte ihn nicht enttäuschen, aber ihr lief die Zeit davon. „Nein, Sir. Diese Steine sind sehr hübsch. Aber mir schwebt etwas anderes vor. Und ich habe nicht viel Zeit. Wenn ich Ihnen also einfach …“
„Diamanten!“, strahlte er. „Das hätte ich mir gleich denken können. Kommen Sie! Folgen Sie mir! Wir haben hier drüben einige schöne Diamantringe.“
Die abgestandene Luft in dem Laden wurde noch stickiger, als Molly ihren nächsten Satz formulierte. „Ich suche keinen Ring mit einem Stein, Sir. Ich suche etwas viel …“ Sie schluckte und hörte das Klirren seiner Schlüssel. „Einfacheres.“
Er hatte sich gebückt, um einen Schrank aufzusperren, erstarrte jetzt aber in seinen Bewegungen und richtete sich langsam auf. „Ah, ja. Ich verstehe.“ Er schmunzelte leise. „Dann sollten wir die Sache vielleicht anders angehen, Ma’am. Beschreiben Sie mir doch einfach, welche Art von Ring Sie suchen. Dann zeige ich Ihnen, was wir für Sie haben.“
Ihr Mund fühlte sich an, als wäre er mit frisch gepflückter Baumwolle ausgestopft. Sie biss sich seitlich auf die Zunge, nur ein wenig, um ihren Mund zu einer natürlichen Reaktion zu bewegen. Diesen Trick hatte ihr ein älterer Professor mit auf den Weg gegeben, bevor sie ihre erste Vorlesung am College gehalten hatte. „Was ich suche, ist ein Ehe…“ Sie brach ab. Sie brachte das Wort nicht über die Lippen. Aber sie musste es sagen.
Sie konnte sich nicht überwinden, dem Verkäufer in die Augen zu schauen. Herr, bitte vergib mir. Wieder einmal. „Ich würde mir gern Ihre Eheringe ansehen, Sir. Nichts Ausgefallenes. Ihr schlichtester Ring genügt.“
Er starrte sie an. „Verstehe“, flüsterte er, aber Zweifel traten in seine Miene. Er schaute hinter sie. „Kommt Ihr … Mann auch noch? Um den Ring mit Ihnen gemeinsam auszusuchen?“ Er sagte das fast hoffnungsvoll, als wollte er sie nicht vorschnell verurteilen.
„Nein“, antwortete sie leise.
Der Verkäufer schaute sie prüfend an, bevor er zu einem Schrank im hinteren Teil des Ladens ging. „Wir haben normalerweise verschiedene Silber- und Goldringe, aber die einzigen Silberringe, die wir im Moment haben, sind mit Edelsteinen besetzt. Wenn ich Ihnen also die billigsten Ringe, die wir haben, zeigen soll …“
Bildete sie sich nur ein, dass er dieses Wort betonte?
„… haben Sie zwei Möglichkeiten.“ Er legte ihr zwei Ringe hin, benahm sich dabei aber deutlich barscher als am Anfang.
Sie konnte es nicht erwarten, das alles hinter sich zu bringen, und nahm den einen in die Hand. Er sah hübsch aus. Glänzendes Gold mit zarten Gravierungen, die dem Ring ein gebürstetes Aussehen verliehen. „Wie viel kostet dieser Ring bitte?“
Er nannte ihr den Preis, und sie versuchte, den Ring nicht zu schnell zurückzulegen. Dafür müsste sie als Lehrerin drei Monate arbeiten! Sie griff nach dem anderen Ring. Auch er glänzte, aber ihm fehlten die Kunstfertigkeit und die Farbtiefe. „Wie viel kostet dieser Ring?“
Er antwortete ihr nicht sofort. „Der hier kostet … vier Dollar.“
Das entsprach ihrem finanziellen Rahmen eindeutig besser. Sie hielt ihn in verschiedenen Winkeln ins Licht. „Warum ist dieser Ring so viel billiger?“
„Weil er nicht aus reinem Gold ist. Er ist nur aus Messing mit einer dünnen Goldbeschichtung.“
Sie betrachtete den Ring genauer, dann zog sie ihre Handschuhe aus und steckte ihn sich an den Ringfinger ihrer linken Hand. Er passte perfekt, als wäre er eigens für sie angefertigt worden. Vor ihrem inneren Auge ging sie ihre Optionen ein letztes Mal durch und kam zum gleichen Schluss wie vorher. Sie wusste, dass ihr keine andere Wahl blieb. „Ich nehme ihn. Danke.“ Schnell zählte sie ihre Scheine ab, legte sie auf die Theke und wandte sich zum Gehen.
„Ich möchte Sie nur noch einmal darauf hinweisen, Ma’am: Ihnen ist klar, dass der Ring, den Sie gekauft haben, nicht echt ist?“
Molly blieb an der Tür stehen und hatte schon die Hand auf dem Türgriff liegen, als seine Worte in der Stille nachschwangen und ihr ihre tiefere Bedeutung bewusst wurde. Ohne sich noch einmal umzudrehen, öffnete sie die Tür. „Ja, Sir. Das ist mir sehr wohl bewusst.“
Tamera Alexander
Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.
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