1. Kapitel
Anna
Lake Michigan
1897
Ich durchlebe gerade meinen Albtraum. Ein heftiges Unwetter hat unser Dampfschiff eingeholt, und nachdem wir eben noch auf dem Kamm einer Welle hinaufgetragen wurden, stürzen wir nun so heftig in einen Wassergraben, dass mir schlecht wird und ich mir sicher bin, dass wir untergehen werden. Alles ist genauso wie in meinem Albtraum - dem Traum, der mich im Schlaf verfolgt, solange ich denken kann.
Mutter und ich kauern auf dem Passagierdeck, während der Wind den Regen und die Wellen gegen die Fenster schleudert. Donner grollt und dröhnt wie Fässer voller Kanonenkugeln, die bergab rollen.
Wann immer Blitzdolche den dunklen Horizont zerschneiden, schließe ich hastig die Augen. Bei dem brüllenden Wind kann ich kaum mein eigenes Wimmern hören oder Mutters Stimme, die mich zu trösten versucht.
"Schhh
nicht weinen, Anna."
Mit meinen dreiundzwanzig Jahren bin ich eine erwachsene Frau, aber sie versucht trotzdem, meine Ängste genauso zu beschwichtigen, wie sie es getan hat, als ich ein Kind war. Damals bin ich in der Nacht von dem Albtraum aufgewacht und habe vor Schrecken geschrien, während ich zitterte, als würde das eiskalte Wasser mich bei lebendigem Leibe verschlingen.
Aber diesmal träume ich nicht. Wir sind an Bord eines Schiffes, das City of Holland heißt und sich in einem schrecklichen Unwetter abmüht, den Lake Michigan zu überqueren. Die Kessel hämmern und pochen unter meinen Füßen wie ein drängender Herzschlag, der mein eigenes Herz nachzuahmen scheint. Von dem wilden Hin- und Herwerfen des Schiffes, das auf dem See wie ein Spielzeug tanzt, ist mir ganz schwindelig. Ich hätte nie einwilligen sollen, mit einem Dampfschiff zu reisen, doch ich hatte es derart eilig, Chicago zu verlassen, dass ich das Transportmittel wählte, das mir am schnellsten und direktesten erschien. Ein tragischer Fehler. Wie hatte ich nur den Albtraum vergessen können, der mich in meiner Kindheit so quälte? Ich werde sterben, aber ich will nicht.
"Schhh
nicht weinen, Anna", sagt meine Mutter besänftigend. "Ich bin ja hier."
Aber mein Vater ist zu Hause in Chicago und in dieser Hinsicht unterscheidet sich dieser echte Albtraum von dem Traum, den ich all die Jahre hatte. Deshalb weiß ich, dass Mutter und ich sterben werden. In meinem Traum verlassen Mama und ich das sinkende Schiff mit den anderen Passagieren und klettern in ein überfülltes Rettungsboot. Plötzlich schlägt eine riesige Welle über uns zusammen, wirft das Rettungsboot um und schleudert uns in das eisige Wasser. Der Schock raubt mir den Atem. Meine Haut kribbelt und brennt, als stünde sie in Flammen. Wir sinken unter die Wasseroberfläche, während wir uns aneinanderklammern, aber Mamas schwere Röcke und Unterröcke ziehen uns hinunter. Ich kann nichts sehen, kann nicht atmen. Sie strampelt und versucht mit aller Kraft, an die Oberfläche zu gelangen, und als uns das endlich gelingt, schreien und rufen überall um uns herum Menschen um Hilfe. Die Weite des Sees dämpft den Klang. Ich sehe Vater, wie er unweit von uns im Wasser auf der Stelle tritt, und sie fleht: "Bitte! Meine Tochter! Bitte retten Sie meine Tochter!" Ich will Mama nicht loslassen, aber Vater zieht mich in seine starken Arme und hält meinen Kopf über die peitschenden Wellen. Als ich mich umdrehe, ist Mama verschwunden. Über dem turbulenten Wasser ist nur noch ihre Hand zu sehen, als winkte sie zum Abschied. Vater will die Hand erfassen, aber er ist zu spät. Mama ist fort, verschlungen von dem aufgewühlten schwarzen Meer.
Ich schreie immer auf, wenn ich aus dem Traum erwache, aber aus diesem Albtraum gibt es kein Erwachen. Ich umklammere meine Mutter so fest, dass sie keucht: "Nicht so fest, Anna. Ich bekomme keine Luft!"
"Diesmal ist Vater nicht hier, um uns zu retten. Wir werden untergehen und ich will nicht sterben!"
"Wir gehen nicht unter, mein Schatz."
Ich bin nicht davon überzeugt. Ich erinnere mich an den allerletzten Gottesdienst, den ich in der Kirche in der Chicago Avenue besucht habe, und mit einem Mal erscheint mir das Thema der Predigt prophetisch. Der Pastor beschrieb ein plötzliches Unwetter wie dieses hier, nur auf dem See Genezareth, und er schilderte die Szene so lebendig wie in meinem Albtraum. Jesus schlief im Boot und seine Freunde weckten ihn, weil sie Angst hatten, mit dem Boot zu sinken. Jesus rief: "Schweig und verstumme!", und sofort ließen Wind und Wellen nach. Sie waren gerettet. "Jesus kann auch die Stürme deines Lebens beruhigen", hatte der Pastor gesagt. Dann hatte er gefragt: "Hast du Jesus als deinen Heiland angenommen? Ist er an deiner Seite, wenn du durch die stürmische See deines Lebens segelst? Wenn du morgen sterben müsstest, würdest du dann in den Himmel kommen?" Nach seiner Einladung wäre ich am liebsten zusammen mit den anderen nach vorne gegangen, aber ich hatte Angst. Jetzt bin ich wegen dieser Predigt an Bord dieses Schiffes, mitten in einem heftigen Unwetter. William hatte mir verboten, noch einmal in die Kirche in der Chicago Avenue zu gehen, und als er herausfand, dass ich mich ihm widersetzt hatte, löste er unsere Verlobung. Ich habe Chicago verlassen, um meinem gebrochenen Herzen die Chance zu geben zu heilen. Zusammen mit meiner Mutter wollte ich zu einem Ferienort auf der anderen Seite des Lake Michigan fahren. Jetzt scheint es, als würden wir nie dort ankommen.
Noch ein Donnerschlag ertönt und er klingt weiter entfernt. "Alles wird gut, Anna", sagt Mutter. Ich frage mich, ob sie von der Reise spricht oder von meinem Herzen. Vielleicht von beidem. "Mach die Augen auf und sieh selbst." Sie löst sich aus meiner Umklammerung und ich hebe den Kopf, den ich in ihrer Bluse vergraben hatte. "Siehst du, mein Schatz? Der Sturm zieht vorüber. Dort drüben ist der Himmel schon heller. Nicht mehr lange, dann sind wir da." Aber das Ufer ist noch immer nicht zu sehen und der vom Wind aufgewühlte See brodelt weiter und verheißt eine stürmische Fahrt zum Hotel Ottawa, das am Ufer des Lake Michigan steht.
"Es ähnelt meinem Albtraum so sehr, Mutter. Weißt du noch? Erinnerst du dich daran, wie ich nachts immer schreiend aufgewacht bin? Ich habe schon sehr, sehr lange nicht mehr geträumt, dass ich ertrinke, aber durch diesen Sturm kommt alles wieder hoch. Der Traum hat sich immer so echt angefühlt!"
"Du hast es im Augenblick nicht leicht. Da ist es ganz natürlich, dass du aufgewühlt bist."
Ich habe William geliebt und gedacht, er liebte mich auch, aber er hat mir das Herz gebrochen, indem er unsere Verlobung gelöst hat. Ich presse die Faust auf mein Herz und spüre, dass es schlägt wie das Herz eines verletzten Vogels. "Es tut immer noch weh", sage ich.
"Ich weiß, mein Schatz
ich weiß."
Aber meine Mutter kennt nicht den wahren Grund, warum William mich nicht mehr heiraten will. Es hat etwas mit Religion im Allgemeinen zu tun - und mit der Kirche an der Ecke Chicago Avenue und LaSalle Street im Besonderen. "Ich habe dir doch gesagt, dass ich nichts mehr von diesem Ort hören will, Anna", hatte er geschrien. Noch nie zuvor hatte ich erlebt, dass William die Stimme erhob. "Ich habe gesagt, du sollst nicht mehr dorthin gehen. Es macht dich verrückt. Ich habe dir verboten hinzugehen und du hast dich mir widersetzt!"
William glaubt, wie meine Eltern, dass Kirchen Orte sind, an denen man heiratet und begraben wird und die eine vornehme Chicagoer Familie an Weihnachten und Ostern und zu anderen besonderen Anlässen besucht. Er sagte, ein schamloses Zeigen von Gefühlen, wie es bei Mr Moodys Evangelisationen und in der Kirche in der Chicago Avenue üblich sei, sei etwas für die unwissende Einwanderermenge und nicht für gebildete Menschen wie uns. Aber irgendetwas hat mich wieder dorthin gezogen, selbst nachdem William es mir verboten hatte. Die Kirche erschien mir wunderbar vertraut und die Worte des Pastors berührten einen tiefen, leeren Ort in meiner Seele - den Teil, der sich anfühlt wie die Fotografien von Chicago nach dem Großen Brand, auf denen kilometerweit nichts als verkohlte Mauerreste und leblose, von Trümmern bedeckte Straßen zu sehen sind. Als ich versuchte, William zu erklären, wie ich mich gefühlt hatte und warum ich zurückgegangen war, löste er unsere Verlobung. "Ich kann nicht zulassen, dass meine Frau, die Mutter meiner Kinder, einem solchen Unsinn verfällt." Ich frage mich, ob er um mich trauern wird, wenn er erfährt, dass dieses Schiff untergegangen ist und ich ertrunken bin.
Das Dampfschiff wiegt sich immer weiter. Die Sicht durch die Fenster ist aufgrund des Regens verschwommen, außerdem sind die Scheiben von unserem Atem von innen beschlagen. Ich spüre immer noch, wie wir zu den Wellenkämmen aufsteigen und dann auf der anderen Seite wieder hinabgleiten. Wenn Jesus mit mir an Bord wäre, könnte er dann wirklich rufen: "Schweig und verstumme!", und damit den Sturm stillen? William glaubt nicht an Wunder.
Als mein Vater erfuhr, dass William unsere Verlobung gelöst hat, war er schockiert. Er war es ja gewesen, der mich mit William zusammengebracht hatte, und er fürchtet nun, ich würde meinen guten Ruf verlieren, wenn die anderen Mitglieder unserer gesellschaftlichen Kreise davon erfahren und Gerüchte die Runde machen. "Ich werde mit William reden", hat er versprochen. "Mal sehen, was ich tun kann, um die Wogen zu glätten." Will ich, dass William mich zurücknimmt? Ich glaube, ja. Ich glaube, ich liebe ihn immer noch.
Stunden scheinen zu verstreichen, bis ich einen der Passagiere sagen höre: "Ich sehe die Lichter des Hafens!" Mutter zieht ihr Spitzentaschentuch aus dem Ärmel und wischt über das beschlagene Fenster, aber ich sehe nichts. Und selbst wenn wir tatsächlich in der Nähe des Hafens sein sollten, könnte unser Schiff immer noch auf Grund laufen. Das geschieht in meinem Albtraum. Deshalb müssen Mama und ich in meinem Traum das Schiff verlassen und in ein Rettungsboot klettern.
"Wir können immer noch auf Grund laufen."
Mir wird erst bewusst, dass ich den Gedanken laut ausgesprochen habe, als Mutter ihre behandschuhten Finger auf meine Lippen legt und sagt: "Still, Anna."
"Das ist der Hafen", sagt derselbe Mitreisende. "Ich erkenne den Leuchtturm." Ein paar Leute stehen auf, um selbst nachzusehen, und stürzen auf dem wackeligen Deck beinahe. Es scheint Jahre zu dauern, bis wir näher herankommen. Als ich endlich die Einfahrt zum Kanal sehe, der vom Lake Michigan in den kleineren See führt, wirkt die Öffnung viel zu eng. Wie kann der Kapitän den Steinpieren auf beiden Seiten ausweichen, obwohl die Wellen über ihnen zusammenschlagen? Irgendwie gelingt es ihm. Wir fahren durch den Kanal in den Black Lake, der auch nicht ruhiger ist als der Lake Michigan, und ich sehe die ersten Lichter des Ferienortes in der Dunkelheit aufleuchten. Die dunkle Silhouette der dahinterliegenden Sanddüne wird von entfernten Blitzen erhellt. Weitere Lichter offenbaren eine Reihe Bauernhäuser und auch die Hotels am gegenüberliegenden Strand des schmalen Binnensees sind erleuchtet.
Irgendwann höre ich Männer draußen an Deck rufen; sie manövrieren das Schiff neben dem Anleger des Hotels Ottawa an seinen Platz. Gepäckträger eilen mit Regenschirmen herbei, um den Passagieren beim Von-Bord-Gehen behilflich zu sein. Ich stehe auf, weil ich das Schiff so schnell wie möglich verlassen will, obwohl ich mir ganz und gar nicht sicher bin, dass meine zitternden Knie mich tragen werden. Die Deckarbeiter müssen mich um die Taille fassen, um mich sicher vom Schiff zu befördern, das im bewegten Wasser auf und ab hüpft. Dass Fremde mich so berühren, ist mir ein Gräuel.
"So, Miss", sagt einer der Männer, als meine Füße festen Boden berühren. Meine Knie geben nach und ich drohe zu fallen, doch er fängt mich gerade noch rechtzeitig wieder auf. "Hoppla! Alles in Ordnung, Miss?"
"Ja, danke." Ich stoße seine Hände fort. Mutter und ich drängen uns gemeinsam unter einen Regenschirm. Der Boden unter unseren Füßen bewegt sich, als wir den hölzernen Steg zum Eingang hinaufgehen. In der Hotellobby sinke ich auf den erstbesten Stuhl und warte, während Mutter sich um unsere Zimmerschlüssel kümmert. Es wird mit Sicherheit sehr merkwürdig, ohne unsere Zofe hier zu sein. Mutter wollte Sophia eigentlich mitnehmen, aber ich habe darauf bestanden, dass ich ganz allein sein möchte. Wir werden Freizeitkleidung tragen, während wir hier sind, befreit von unseren Korsetts und Verpflichtungen, sodass niemand uns die Kleider herauslegen oder die Haare kunstvoll hochstecken muss. Noch habe ich keine Ahnung, was ich den ganzen Tag mit mir anfangen soll oder wie lange mein Herz zum Heilen braucht.
"Der Gepäckträger wird uns unsere Zimmer zeigen", sagt Mutter, als sie mit ihm und unseren Schlüsseln zurückkehrt. "In der nächsten Stunde wird noch Abendessen serviert."
"Mir ist zu schlecht zum Essen", erkläre ich ihr. "Ich möchte mich nur umziehen und ausruhen."
Unsere Zimmer, die nebeneinanderliegen, sind in dem ursprünglichen Hotelgebäude und nicht in dem Anbau. Sie sind klein, aber hübsch, und meines bietet eine Aussicht auf den Black Lake und die City of Holland, die noch am Dock liegt. Sie ist im Sturm nicht untergegangen; Mutter und ich sind nicht im Lake Michigan ertrunken. Aber als ich das tanzende Schiff und die weißen Gischtkronen der Wellen sehe, schwöre ich mir insgeheim, mit dem Zug nach Chicago zurückzufahren, wenn es Zeit ist abzureisen. Solange ich lebe, werde ich kein Schiff mehr besteigen.
Kundenstimmen
07.10.2019Karl Albietz Das Buch nimmt uns hinein in das tragische Schicksal von holländischen Flüchtlingen, die in Amerika eine neue Heimat suchen und dafür unglaubliche Strapazen und Enttäuschungen auf sich nehmen: Schiffskatastrophen, Malaria und Erschöpfung kosten vielen Pionieren das Leben. Ein Grossbrand vernichtet fast alle mühsam aufgebauten Häuser. Unter primitivsten Verhältnissen bauen sie in der Nähe des Lake Michigan die neue Siedlung
wieder auf und geben ihr den Namen "Holland". Heute, 200 Jahre nach der Gründung, ist diese Siedlung der kleinen Anfänge zu einer Kleinstadt mit etwas über 30000 Einwohnern geworden.
Was zunächst nach einem Geschichtsbuch klingt, entpuppt sich immer mehr zu einem spannenden Roman mit vielen Überraschungen. Hauptpersonen sind zwei Frauen: Geesje, eine der Pionierinnen der ersten Stunde und Anna, eine junge Frau, die 50 Jahre später lebt. Ihre Eltern sind früh gestorben, sie wird von einem kinderlosen reichen Ehepaar in Chicago adoptiert und gehört damit zur gehobeneren Klasse. Mit 25 Jahren macht sich auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern. "Töchter der Küste" ist ein ergreifendes Buch, das den Leser – manchmal fast ausser Atem – mit hinein nimmt in das Fragen und Ringen um den richtigen Weg.
Was mir ganz besonders gefällt, ist die schnörkellose Schilderung der Erfahrungen der Pioniergeneration. Da wird nichts beschönigt oder überdeckt. Wie das Leben so ist, auch bei bewussten Christen, mit allen Höhepunkten und Krisen, Liebe und Hass. In einer Malaria-Epidemie mitten in der Aufbauphase des Dorfes sterben viele der Pioniere, auch die Eltern von Geesje. Ein ganzes Schiff voll christlicher Pioniere auf dem Weg nach Amerika gerät in einen Sturm und geht unter. Warum lässt Gott so viel Leid zu, lässt geliebte Menschen brutal umkommen – Unschuldige, die ihm dienen wollten? Zweifel an Gottes Güte und Fürsorge kommen auf und bleiben unbeantwortet im Raum stehen. Einzelne ertragen diese Widersprüche nicht mehr. Ihr Glaube erleidet Schiffbruch, sie verlassen die verschworene Schar der Pioniere. Aber die meisten Neuansiedler gehen konsequent weiter, im Glauben an diesen "harten" Gott. Sie legen Strassen an, bauen Verkaufsläden und Häuser auf. Eine Kirche wird gebaut.
Und mitten in diese Aufbauphase hinein schildert die Verfasserin das persönlichen Schicksal der beiden Frauen Geesje und Anna. Unüberhörbar steht immer wieder die Frage im Raum: Wie erkenne ich überhaupt, was Gott von mir will, zum Beispiel bei der Partnerwahl. Und was mache ich, wenn ich von ihm keine Antwort erhalte? Gerne möchte man beim Lesen diesem rätselhaften Gott nachhelfen und Klarheit schaffen. Die Stärke dieses Buches ist aber, dass die Spannung unheimlich lange aufrechterhalten wird, bis sich am Ende manches Rätsel löst.
Eine besondere Stärke von Lynn Austin ist, dass sie das Christsein mit all seinen Licht- und Schattenseiten sehr realistisch beschreibt, nicht plakativ oder mit Patentantworten. Dabei scheut sie sich nicht, auch die Verlegenheitsfragen der Christen aufzugreifen und offen zu lassen, was zurzeit nicht beantwortet werden kann. Selten hat mich ein Buch so unmittelbar angesprochen und meinen Horizont erweitert.
Lynn Austin (*1949) ist verheiratet mit Ken, sie haben drei Kinder und leben in Holland, Illinois. Ihre große Familie, die vier Generationen umfasst, ist ebenso Aufgabe wie Inspiration für sie. Seit 1992 arbeitet sie hauptberuflich als Autorin und hat seitdem zahlreiche Bücher veröffentlicht. Sie hält den Rekord für die meisten Christy Awards (acht). Eines ihrer Bücher, Hidden Places, wurde in einen Hallmark Channel-Film umgewandelt.
Aus den Anmerkungen am Ende des Buches: Die Schiffsunglücke der Phoenix und der Ironsides haben tatsächlich stattgefunden (1847 bzw. 1873). Lynn Austin wohnte während ihres Studiums im alten Hope College (jetzt Van Vleck Hall) in Holland. Bei der Abfassung des Buches wurde sie von verschiedenen Historikern beraten.
› mehr...
12.07.2019peedee 
Intensiv, emotional, beeindruckend
Anna Nicholson, Band 1: Niederlande, 1845. Als Geesje fünfzehn Jahre alt ist, beginnen die Schikanen gegen ihre Familie aufgrund ihres Glaubens. Zwei Jahre später fällt der Entschluss, mit anderen Niederländern ihre Heimat zu verlassen und in den USA neu zu beginnen. Geesje will nicht mit, da sie die Liebe ihres Lebens zurücklassen muss. Er verspricht zwar,
nachzukommen, doch werden sie sich wirklich wiedersehen" Fünfzig Jahre später erinnert sich Geesje zurück, nicht wissend, dass ganz in der Nähe eine junge Frau vor ähnlich schwerwiegenden Entscheidungen wie Geesje einst steht"
Erster Eindruck: Ein sehr schönes Cover mit dem Leuchtturm auf dem Felsen und zwei Frauen - gefällt mir ausgesprochen gut.
Das Buch spielt auf zwei Zeitebenen, und zwar 1897 in und um Holland, Michigan, USA sowie ab 1845 beginnend in den Niederlanden. Geesje gehört zu den Siedlern, die vor fünfzig Jahren aus den Niederlanden in die USA gekommen waren und die die Stadt, die später Holland genannt wurde, gegründet haben. Im Rahmen der Fünfzig-Jahre-Feierlichkeiten wird sie gebeten, ihre Geschichte rund um ihre Ankunft in Michigan aufzuschreiben. Zuerst sträubt sie sich, doch dann lässt sie sich auf die zuweilen sehr schmerzlichen Erinnerungen ein. Derk, der Sohn des Nachbarn, nennt sie Tante Geesje, obwohl sie nicht miteinander verwandt sind. Er darf ihre Memoiren lesen. Derk ist Theologiestudent und wird einmal Pastor werden.
Anna ist dreiundzwanzig Jahre alt und in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen. Als William ihr verbietet, nochmals in die Kirche in der Chicago Avenue zu gehen, wo sie sich aufgenommen fühlte, löst sie die Verlobung. Mit ihrer Mutter reist sie an den Lake Michigan, um ein bisschen Abstand vom Geschehen zu kriegen. Anna hat viele Fragen in Bezug auf den Glauben: Warum hat William ihr den Besuch verboten" Und warum will auch ihre Mutter nicht mit ihr über den Glauben sprechen" Anna sei fanatisch, meint sie. Derk und Anna begegnen sich auf dem Hotelgelände, wo er in den Sommerferien arbeitet. Es ist zwar nicht schicklich, für eine junge, unverheiratete Dame ihres Standes mit einem Mann - und dann erst noch mit einem Angestellten! - zu sprechen, aber sie widersetzt sich diesen Gepflogenheiten. Anna und Derk haben beide ein Problem mit ihren Beziehungen und suchen Entscheidungshilfen.
Zusätzlich zu den Informationen im Buch betreffend Gründung der Stadt Holland habe ich mich noch ein wenig im Internet belesen. Federführend für die Auswanderung war der Pastor (niederländ. "Dominee") van Raalte, der die Trennung von Staat und Kirche verlangte und sodann seine Glaubensbrüder und -schwestern, Mitglieder der Separatistenkirche, aufforderte, mit ihm in die USA zu gehen. Es ist für mich kaum vorstellbar, welche Strapazen die Siedler damals auf sich genommen haben, um den Traum vom freien Glaubensleben in den USA umsetzen zu können. Nur schon die langwierige und belastende Überfahrt in die USA oder dann auch der Bau der ersten Unterkünfte mitten im Wald. Und immer wieder gibt es Rückschläge"
Fazit: Eine beeindruckende und ergreifende Geschichte über den Glauben und Entscheidungen. Dies war mein erstes Buch von Lynn Austin und ich weiss, dass nun noch viele weitere von ihr folgen werden. In Kürze kann ich mit "Ufer der Erinnerung" die Fortsetzung von diesem Buch lesen - ich freue mich sehr auf weitere intensive Lesestunden.
› mehr...