Sie packte ein Vorderbein und schob eine geknotete Schlinge darüber. Dann band sie mit geübten Griffen das Vorderbein an die zwei Hinterbeine und wickelte das Seil so fest darum, dass sich das Tier nicht befreien konnte.
Sie sprang hoch und reckte beide Arme in die Luft, um zu signalisieren, dass sie fertig war.
Die Zuschauer außerhalb des Koppelzauns jubelten lautstark über ihre Rekordzeit.
Ihr Herz überschlug sich fast. Es gab nichts Besseres als die Jubelrufe für den Sieger. Natürlich wäre es besser, wenn sie diese Siegesrufe in Frauenkleidung statt in Männerkleidung entgegennehmen könnte. Aber trotzdem war es besser als nichts.
Sie bemühte sich, nicht zu grinsen, um ihre Tarnung zu wahren. Stattdessen tat sie das Lob mit einem Schulterzucken ab und schlenderte lässig einige Schritte von dem Stier weg, als wären die Jubelrufe völlig bedeutungslos. So würde sich ein Mann verhalten. Und so tat sie es jetzt auch – denn offiziell war sie Buster Bliss, der Meister im Kälberfangen.
Sie musste diese Scharade so lange wie möglich aufrechterhalten – mindestens so lange, bis sie das Geld für die Anzahlung für das Land zusammenhatte, das Landry Steele südlich von Fairplay verkaufen wollte. Mit den Preisgeldern von heute wäre sie der Summe, die sie benötigte, einen Schritt näher. Aber nur einen kleinen Schritt ...
Ihr Gesicht juckte unter der Kruste aus geriebener Holzkohle, die sie sich auf die Haut geschmiert hatte, um einen Stoppelbart vorzutäuschen. Ihr langes, dunkelbraunes Haar hatte sie unter ihrem verbeulten Hut festgesteckt. Und um ihren Brustkorb hatte sie Stoffstreifen gewickelt, um ihre weibliche Figur zu verbergen. Zwar konnte nichts ihre Kurven vollständig verstecken, aber das weite Flanellhemd und die Weste, die sie darüber trug, leisteten ihr gute Dienste. Ebenso wie die Hose und die Männerstiefel. Bis jetzt gelang es ihr, allen vorzumachen, sie wäre ein dünner, schmächtiger Mann.
Die große, runde Brille auf ihrer Nase verlieh ihr ein gelehrtes Aussehen und fachte die gutgemeinten Neckereien der andern Cowboys dem etwas seltsamen Buster Bliss gegenüber noch an.
Als sich das Jubeln und Pfeifen legte, tippte sie zum Dank an die Krempe ihres Männerhuts, bevor sie sich wieder zu dem jungen Stier umdrehte. Erst jetzt gestattete sie sich ein Lächeln. Sie hatte es wieder geschafft! Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie jede einzelne Sekunde des Kälberfangens liebte und auch ohne Preisgeld an dem Wettkampf teilgenommen hätte.
Sie kniete nieder und befreite den Kopf des Tieres vom Lasso, bevor sie auch seine Beine losknotete. Sofort schob sich das Tier mit einem lauten Brüllen auf die Beine. Bevor es davonstürmte, klopfte sie ihm noch schnell liebevoll auf die Flanke.
»Bliss!« Als Mack Custer, der Vorarbeiter der Elkhorn Ranch und Organisator des Wettkampfs an diesem Sonntagnachmittag, ihren Namen rief, drehte sie sich so lässig wie möglich um und wickelte ihr Lasso auf.
Statt in ihre Richtung zu schauen, begrüßte der Vorarbeiter jedoch einen anderen Mann mit Handschlag – einen Mann mit einer muskulösen, schlanken Figur und entschlossen zurückgeworfenen Schultern. Mehrere Herzschläge lang konnte Ivy den Mann nur anstarren und hatte Mühe, die bekannte Gestalt einzuordnen.
Das konnte doch nicht sein!
Der Mann drehte sich so weit, dass sie sein Profil sehen konnte – ein markantes Kinn, das mit Bartstoppeln überzogen war, ein entschlossener Zug um den Mund und hellbraunes Haar, das unter seinem Hut hervorspähte.
Ihr Puls begann, sich zu überschlagen. Sie musste ihn nicht von vorne sehen, um zu wissen, dass es Jericho Bliss war, der Mann, für den sie als Mädchen geschwärmt hatte.
Als spüre er ihre Aufmerksamkeit, blickte er zu ihr herüber.
Sie wandte sich schnell ab und schaute in die andere Richtung. Ach du heiliger Strohsack! Was machte Jericho Bliss hier oben in South Park?
Seit der Nacht, in der er vor fast zwei Jahren mit Dylan weggeritten war, hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Damals hatte Jericho ihr und ihren Brüdern einen großen Gefallen getan und Dylan dabei geholfen, einer Bande zu entkommen, bei der er hohe Spielschulden hatte. Genauso wie ihre ganze Familie war sie Jericho dankbar, dass er Dylan das Leben gerettet hatte.
Nach längerer Zeit hatte Dylan dann irgendwann geschrieben und ihnen mitgeteilt, dass es ihm gut gehe und er eine feste Arbeit habe. Er hatte ihnen jedoch nicht verraten, wo er war oder was er machte. Auch über Jericho hatte er kein Wort verlauten lassen.
Ivy hatte ungeduldig auf einen weiteren Brief, auf mehr Nachrichten, auf irgendetwas von Dylan gewartet. Sie hatte sich eingeredet, dass sie sich nur Sorgen um ihren Bruder machte und die Gewissheit haben wollte, dass es ihm gut ging. Aber tief in ihrem Herzen konnte sie nicht leugnen, dass sie auch Informationen über Jericho haben wollte.
Sie hatte sich sehr lange nicht damit abfinden können, dass er einfach so aus ihrem Leben verschwunden war und ihre Liebe nicht erwidert hatte. Und sie hatte sich an die Hoffnung geklammert, dass er mit der Zeit erkennen würde, wie sehr er sie vermisste, und zu ihr zurückkäme.
Aber als aus den Wochen Monate und aus den Monaten Jahre geworden waren, hatte sie die harte Wahrheit akzeptieren und jede Hoffnung, die ihr noch geblieben war, aufgeben müssen: Jericho hatte sich nie etwas aus ihr gemacht und würde nicht zurückkommen.
Jericho beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Buster Bliss sein Preisgeld in Empfang nahm, in seine Tasche steckte und auf sein Pferd zuging, das an einem Pfosten angebunden war. Bei jedem Schritt gratulierten ihm die Zuschauer, aber Busters Bewegungen und Reaktionen wirkten steif und gezwungen.
Hier stimmte etwas nicht. Das spürte Jericho tief in seinem Inneren, auch wenn er den Grund nicht genau benennen konnte.
Als fühlte der Mann, dass er beobachtet wurde, hob er den Kopf, während er den Führstrick seines Pferdes vom Pfosten löste, und warf einen kurzen Blick auf Jericho. Die letzten Sonnenstrahlen beleuchteten die Augen hinter seiner Brille. Große, braune Augen. Schöne, große, braune Augen, die Jericho überall wiedererkennen würde. Sie gehörten niemand anderem als Ivy McQuaid!
Sein Puls raste los wie eine Eisenbahnlokomotive. Aber er zwang sich, desinteressiert den Blick abzuwenden, als wäre sie nur irgendein langweiliger Cowboy.
Kein Wunder, dass ihm ihre Art, vom Pferd abzusteigen, bekannt vorgekommen war. Kein Wunder, dass sie so weiblich wirkte. Kein Wunder, dass sie in dieser Kleidung fehl am Platz wirkte.
Zum Kuckuck! Was hatte sie als Mann verkleidet bei einem Cowboywettkampf zu suchen?
Sein Verstand war wie gelähmt, doch bevor er wusste, was hier geschah, war Ivy auf ihr Pferd gestiegen und ritt in nördlicher Richtung nach Fairplay davon. Warum ritt sie nicht nach Osten, zur Healing Springs Ranch? Wohnte sie nicht mehr dort?
Wie üblich wusste bestimmt keiner ihrer Brüder, was sie alles anstellte. Ivy hatte noch nie auf ihre Brüder gehört und schon immer ihren eigenen Willen durchgesetzt. Daran hatte sich offensichtlich nichts geändert.
Jericho wurde so wütend, dass er ihr am liebsten sofort nachgeritten wäre, um sie zur Rede zu stellen. Sie sollte zumindest wissen, dass sie ihm mit ihrer Verkleidung nichts vormachen konnte und dass er sie bei ihrem Bruder Flynn anschwärzen würde, wenn sie nicht sofort mit diesen wagemutigen Spielchen aufhörte.
Als er endlich einen Vorwand fand, sich von der Elkhorn Ranch zu verabschieden, hatte Ivy mindestens eine halbe Stunde Vorsprung. Da sich die Dunkelheit über dem Land ausbreitete, war es nicht ganz leicht, ihre Spur aufzunehmen. Er folgte ihr weit genug, um zu wissen, dass sie einen Bogen geschlagen hatte – sie hatte so getan, als würde sie zum Kenosha-Pass reiten, aber später hatte sie ihre Richtung geändert und war auf die Healing Springs Ranch zugesteuert.
Als er sich dem Abschnitt des Middle Fork Rivers näherte, der durch Wyatts Land verlief, stieg er ab und führte sein Pferd am Flussufer entlang, an dem er in jener Septembernacht vor fast zwei Jahren gewesen war. Da erstarrte er bei dem Anblick, der sich ihm bot. Ivy! Mitten im Fluss und bis zu den Schultern unter Wasser.
Der Himmel war nicht völlig schwarz. Der Vollmond schien und die Sterne funkelten in großer Zahl. Er konnte mühelos das Ufer sehen, das ihm alles verriet, was er wissen musste: Sie hatte ihre Männerkleidung abgelegt und sie neben ihrem Pferd auf einen Haufen geworfen. Jetzt wusch sie den Ruß aus ihrem Gesicht, bevor sie ihre gewohnte Kleidung anziehen würde, da sie nicht in Männerkleidung auf der Ranch auftauchen konnte.
Sie spritzte mehr Wasser in ihr Gesicht und schrubbte mit beiden Händen ihre Wangen. Während sie mit dem Rücken zu ihm stand, wanderten seine Gedanken erneut zu der Nacht zurück, in der er aus Colorado weggegangen war und sie im Bach entdeckt hatte, wo sie genauso wie jetzt gebadet hatte.
Damals war er sehr wütend geworden, dass sie sich mutterseelenallein so in Gefahr brachte. Anscheinend hatte sie inzwischen nichts dazugelernt. Vielleicht sollte er versuchen, ihr einen gehörigen Schreck einzujagen. Denn nach ihren viel zu wagemutigen Einlagen beim Wettkampf und dieser Aktion mitten in der Nacht im Fluss war es sonnenklar, dass man besser auf sie aufpassen musste.
Er schlang den Führstrick seines Pferdes über einen Zweig in der Nähe und schlüpfte aus seinen Stiefeln und Socken, bevor er ins Wasser watete. Obwohl es schon Juni war, war das Wasser aufgrund der Schneeschmelze in den höheren Lagen immer noch eiskalt. Während er auf Zehenspitzen über die glitschigen Steine des Bachbodens watete, wurden seine Zehen in dem kalten Wasser taub und seine Hose bis zu den Knien nass.
Er näherte sich ihr, bis er nur noch zwei Schritte Abstand zu ihr hatte, als sie sich plötzlich zu ihm umdrehte. Als sie ihn erblickte, stieß sie einen Schreckensschrei aus und tauchte tiefer ins Wasser.
Sie konnte ihn nicht gehört haben. Hatte sie seine Nähe gespürt?
Ihre weit aufgerissenen Augen stachen leuchtend von ihrem blassen Gesicht ab. Ihr Haar hatte sich aus einem Knoten gelöst und nasse Strähnen klebten an ihren Wangen und an ihrem Hals. An ihrem Kinn war immer noch ein schwarzer Fleck von der Kohle zu sehen.
Grundgütiger! Wie hübsch sie war.
Er ohrfeigte sich im Geiste – wie er es immer tat –, weil er seinen Gedanken erlaubte, um Ivy zu kreisen. Aber er hatte Dylan schon am Anfang ihrer Freundschaft versprechen müssen, dass er Ivy immer wie eine Schwester behandeln und niemals mehr in ihr sehen würde.
»Jericho.« Ihr Tonfall war leise, enthielt aber eine gewisse Schärfe. Sie war nicht überrascht, ihn zu sehen. Offenbar hatte sie ihn beim Wettkampf erkannt.
»Buster Bliss.« Sie sollte ruhig wissen, dass er sie durchschaut hatte.
»Was machst du hier, Jericho?«, fragte sie ihn, ohne mit der Wimper zu zucken. » Hast du dir angewöhnt, dich an badende Frauen heranzuschleichen?«