Nashville, 1871: Die junge Musikerin Rebekka kehrt nach ihrer Ausbildung in Wien in ihre alte Heimat zurück. Doch sie weiß, dass ihr ihr früheres Zuhause in Nashville keine Zuflucht mehr bietet. Dort herrscht mittlerweile ihr Stiefvater. Und so macht Rebekka sich auf die Suche nach einer Anstellung. Ihr größter Herzenswunsch ist es, im Sinfonieorchester ihrer Heimatstadt Violine spielen zu dürfen. Aber Nathaniel Whitcomb, der Dirigent, lehnt Rebekka ab. In seinem Orchester ist kein Platz für Frauen.
Nach und nach jedoch erkennt er, dass Rebekka nicht nur äußerst reizend ist, sondern auch eine außergewöhnliche Gabe besitzt ...
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Kapitel 1
Nashville, Tennessee
12. Januar 1871
Rebekka Carrington stand zitternd auf der Straßenseite, die ihrem Elternhaus gegenüberlag. Die Reisetasche lastete schwer in ihrer Hand und ihr Mantel war mit Schneeflocken bedeckt. Sie zählte die Schritte, die nötig wären, um zur Haustür zu gelangen. Wie konnte ein so kurzer Abstand so unüberwindlich erscheinen, viel weiter als der Ozean, den sie gerade überquert hatte? Sie wünschte, sie bräuchte nur zu blinzeln und wäre wieder in Wien.
Nach zehn Jahren in der österreichischen Hauptstadt fühlte sie sich dort mehr zu Hause als in der Stadt, in der sie geboren worden war und die erste Hälfte ihres Lebens verbracht hatte.
Aber der Brief, der ihr vor fast vier Wochen, nur wenige Tage vor Weihnachten, zugestellt worden war, hatte alles verändert.
In diesem Moment ging die Haustür auf.
Rebekka drückte sich in den Schatten eines Baumes, dessen duftende Nadeln in der Kälte hart und spitz geworden waren. Sie drehte den Kopf, um durch die vereisten Zweige spähen zu können. Ihr Atem bildete eine Wolke vor ihrem Mund und hing gespenstisch in der Luft. Ihr Magen verkrampfte sich, aber das lag nicht nur an ihrem Hunger.
Es war er.
Wie oft hatte sie diesen Mann vor ihrem geistigen Auge gesehen, seit sie Nashville verlassen hatte?
Aber als sie ihn jetzt, zehn Jahre später, mit den Augen einer erwachsenen Frau sah, wirkte er ganz anders als damals, da sie als dreizehnjähriges Mädchen zu ihm aufgeblickt hatte. Er war zwar dicker geworden, aber er war immer noch groß, über einen Meter achtzig, und strahlte wie früher etwas Beherrschendes aus.
Aber er war bei Weitem nicht mehr die übergroße Gestalt, als die er ihr im Gedächtnis geblieben war.
Jahrelang hatten sie Erinnerungen an die Begegnungen mit ihm – und besonders an jene eine Nacht – geplagt. Die Zeit und der räumliche Abstand hatten geholfen, das zu überwinden. Sie war nicht mehr das junge, naive Mädchen von damals und sie hatte keine Angst mehr vor ihm.
Warum hämmerte dann ihr Herz so wild? Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und nahm ihren ganzen Mut zusammen.
Ihr Stiefvater stieg in eine Kutsche, die deutlich eleganter war als die Kutsche, die er und ihre Mutter besessen hatten, als Rebekka das letzte Mal hier gewesen war. Vielleicht hatte er sich die Kutsche mit dem Geld gekauft, das er vor Kurzem „geerbt“ hatte. Diese Möglichkeit verstärkte ihre Abneigung ihm gegenüber noch mehr und sie fragte sich zum wiederholten Mal, woran ihre Großmutter so plötzlich gestorben war.
Großmutter Carrington hatte mit keinem Wort erwähnt, dass sie sich unwohl gefühlt hätte, doch dann war die schockierende Nachricht von ihrem „plötzlichen und tragischen Tod“ gekommen. Das ergab einfach keinen Sinn und Rebekkas Schmerz und ihre Trauer waren unbeschreiblich groß.
Rebekka betrachtete die Kutsche und die Silhouette des Mannes, der darin saß.
Barton Ledbetter war kein ehrbarer Mann, das wusste sie nur zu gut. Aber er war doch sicher nicht so unmoralisch, dass er es gewagt hatte …
„Vor wem verstecken Sie sich?“
Rebekka zuckte zusammen und fuhr herum. Die Stimme hatte sie unsanft aus ihren Gedanken gerissen.
Ein kleiner Junge spähte unter dem Schild einer zerrissenen roten Mütze zu ihr hinauf und schaute sie angriffslustig an.
Sie runzelte die Stirn. „Ich verstecke mich vor niemandem.“
Er legte vielsagend den Kopf schief und gab ihr damit deutlich zu verstehen, dass er das anders sah.
„Ich habe nur … über meine Pläne nachgedacht.“ Das traf die Wahrheit nicht ganz, aber ihre Gewissensbisse verstummten schnell. Was sie tat oder nicht tat, das ging diesen Jungen wirklich nichts an.
Ein halb leerer Beutel mit Zeitungen hing von seiner schmalen Schulter. Als sehe er seine Chance, zog er eine heraus, rollte sie blitzschnell zusammen und hielt sie ihr hin, als präsentiere er ihr die Kronjuwelen der Habsburger.
„Fünf Cent für eine Zeitung, Miss. Sagen wir zehn.“ Er verzog schelmisch einen Mundwinkel. „Dafür verrate ich niemandem, was ich gesehen habe.“
Rebekka schaute ihn herausfordernd an. „Was genau glaubst du denn gesehen zu haben?“
„Ich habe Sie dabei erwischt, wie Sie die Familie, die dort drüben wohnt, ausspioniert haben.“ Er deutete zum Haus hinüber.
Sie warf einen Blick auf die Kutsche. Im nächsten Moment würde sie direkt an ihr vorbeifahren! Ihr Stiefvater hob den Blick und richtete ihn scheinbar genau auf sie. Sie erstarrte. Er und ihre Mutter erwarteten sie erst morgen. Sie war aufgrund des günstigen Wetters bei der Überfahrt über den Atlantik einen Tag früher angekommen, aber …
Sie drückte sich in das würzig duftende Versteck der Pinyon-Kiefer zurück und erkannte, dass sie trotz allem noch nicht bereit war, ihm gegenüberzutreten. Sie brauchte Zeit, um ihre nächsten Schritte zu planen. Schritte, die sie von ihm wegbringen würden. Und leider auch von ihrer Mutter. Es sei denn, sie könnte ihre Mutter überreden, ihn zu verlassen.
Die Kutsche fuhr weiter. Erst als sie um die Ecke gebogen war, konnte Rebekka wieder richtig atmen.
„Also? Was ist jetzt?“
Sie drehte sich um. Der Junge stand immer noch da und blickte sie mit triumphierender Miene an. Sie erkannte einen Opportunisten auf den ersten Blick und schaute ihn drohend an. „Du weißt nicht einmal, wer dort wohnt, junger Mann.“
„Doch!“ Sein Tonfall und sein vorgeschobenes Kinn waren fast überzeugend. „Dieser Mann dort.“ Er deutete in die Richtung, in der die Kutsche verschwunden war. „Er und seine Frau. Das ist ihr Haus. Ich sehe sie oft kommen und gehen.“
Aufgrund seiner dürren Gestalt und Größe schätzte Rebekka den Jungen auf höchstens sieben oder acht. Er war so dünn, dass er wahrscheinlich keine regelmäßigen Mahlzeiten bekam. Sein abgetragener Mantel war am Kragen zerrissen und hatte keine Knöpfe mehr. Aber der Junge strahlte eine Gerissenheit aus, die Rebekka an die Jungen erinnerte, die auf den Straßen von Wien aufwuchsen. Diese Schlauheit bewunderte sie, aber gleichzeitig hatte sie mit diesen Kindern Mitleid.
Kein Kind sollte ohne Zuhause, ohne einen Ort, an dem es vor der Welt sicher und geschützt war, aufwachsen. Aber ein Zuhause war auch nicht unbedingt eine Garantie, dass ein Kind geschützt war, wie sie aus eigener Erfahrung wusste.
Ihr kam eine Idee und sie stellte ihre Tasche ab. Sie war nicht auf der Straße aufgewachsen, aber sie war auch nicht naiv. Sie griff in ihre Handtasche. Die Entscheidung, wie ihre Rückkehr aufgenommen werden würde, lag nicht in ihrer Hand und das musste sie akzeptieren.
„Ich kaufe eine Zeitung für mich.“ Sie erwiderte seine finstere Miene mit einem festen Blick. „Und noch eine zweite. Und ich gebe dir fünf Cent extra, wenn du etwas für mich erledigst.“
Er kniff argwöhnisch die Augen zusammen. „Was soll ich für Sie machen?“
„Bring die zweite Zeitung zu dem Haus auf der anderen Straßenseite. Klopf an die Tür, und wenn die Haushälterin aufmacht …“ – was ganz bestimmt passieren würde –, „dann bittest du sie, die Zeitung Mrs Ledbetter zu bringen. Falls Mrs Ledbetter zu Hause ist.“
Ein Grinsen zog über sein Gesicht. „Hab ich doch gleich gesagt! Sie spionieren!“
Sie schaute ihn finster an. „Willst du dir jetzt die fünf Cent verdienen oder nicht?“
Er rückte seine Mütze zurecht. „Und wenn sie nicht daheim ist? Versuchen Sie dann, mich um mein Geld zu bringen?“
„Bestimmt nicht. Du bekommst auf jeden Fall fünfzehn Cent. Abgemacht?“
Er schaute sie nachdenklich an und nickte dann kurz und langsam, als denke er über eine andere Alternative nach. „Ich mache es. So, wie Sie gesagt haben.“
Rebekka nahm eine Zeitung und drückte ihm drei Münzen in seine schmutzige Hand. Seine braunen Augen strahlten auf. Sie packte den Saum seines Mantelärmels, da sie gesehen hatte, wie flink diese Jungen laufen konnten. „Ich warne dich, junger Mann! Ich kann schnell laufen. Wenn du dein Wort nicht hältst, riskierst du, dass du von einem Mädchen durch die Straße gejagt wirst.“
Er lachte abfällig. „Sie sind kein Mädchen. Sie sind eine Dame. Damen laufen nicht.“
Sie kniff die Augen zusammen. „Diese Dame hier schon.“
Seine Miene wurde ernst, als er sich abwandte, aber Rebekka war sicher, dass sie einen Anflug von Belustigung – und Bewunderung – in seinen Augen gesehen hatte.
Von ihrem Platz hinter dem Baum aus schaute sie zu, wie er am Straßenrand stehen blieb und wartete, bis einige Fahrzeuge vorbeigefahren waren. Sie zog den Mantelkragen enger um ihren Hals, während sich ihr Magen wieder nervös zusammenzog, wie jedes Mal, wenn sie daran dachte, ihre Mutter nach so vielen Jahren wiederzusehen.
Ihre Großmutter hatte es geschafft, alle zwei Jahre zu Besuch nach Österreich zu kommen, und war jedes Mal mehrere Monate geblieben. Aber ihre Mutter? Sie hatte ihre Tochter kein einziges Mal besucht, obwohl Großmutter Carrington angeboten hatte, die Reise zu bezahlen. Das hatte Rebekka mehr verletzt, als sie in ihren Briefen verraten hatte. In ihrer Kindheit hatte sie ihrem Vater immer sehr nahegestanden und seine herzliche, geduldige Art genossen. Ihre Mutter hatte ihr in jenen frühen Jahren zwar auch viel Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen, doch war diese durch Mutters kühle und kritische Art gekennzeichnet gewesen. Rebekka hatte es ihr nie recht machen können.
Trotzdem konnte sich Rebekka nicht erinnern, wann sich ihre Beziehung zu ihrer Mutter so verschlechtert hatte. Es musste wohl irgendwann nach dem Tod ihres Vaters geschehen sein. Doch nein – das stimmte nicht, obwohl dieser Verlust unbestritten ihrer beider Leben verändert hatte.
Es war erst passiert, nachdem ihre Mutter Barton Ledbetter geheiratet hatte. Seitdem war sie ernster und distanzierter geworden. Und viel strenger.
Sie hatten sich im Laufe der Jahre natürlich Briefe geschrieben. Diese Briefe waren mit der Zeit aber weniger geworden. Doch Rebekka liebte sie immer noch und wusste, dass diese Zuneigung auf Gegenseitigkeit beruhte und dass ihre Mutter sie auf ihre Art liebte. Aber der Gedanke, sie nach so vielen Jahren wiederzusehen, machte sie nervös.
Von der langen Reise und der Ungewissheit erschöpft, rieb sie die steifen Muskeln in ihrem Nacken. Sie war erst seit knapp zwei Stunden in der Stadt, wusste aber bereits, dass Nashville und ihr Elternhaus ihr nie wieder das Gefühl vermitteln würden, hier zu Hause zu sein.
Blitzschnell sprintete der Junge über die Straße, wich geschickt einem beladenen Lieferwagen aus und wirkte von den hitzigen Flüchen, die der Fahrer ihm nachrief, äußerlich völlig unbeeindruckt. Der Junge marschierte in Richtung des Hauses, blieb dann aber abrupt stehen.
Jeder Muskel in Rebekkas Körper spannte sich an.
Sie hob ihren Rock und rang mit sich, ob sie ihm wegen zehn Cent wirklich nachlaufen sollte, auch wenn sie ihm das angedroht hatte. Aber der Junge schaute sie über die Schulter hinweg an und grinste – er grinste, dieser kleine Gauner! –, bevor er zur Haustür weiterging.
Rebekka atmete tief aus und spürte einen Anflug von Belustigung, obwohl sie ihm am liebsten seinen dürren, kleinen Hals umgedreht hätte.
Sie schaute ihm nach, dann wanderte ihr Blick über das Haus, das in ihrer Abwesenheit sichtlich gealtert war. Obwohl ihre Familie nie wirklich zu den Landeigentümern gehört hatte, waren ihrem Vater mehrere Grundstücke um das Haus herum zugefallen, die es ihm erlaubt hatten, Tiere zu halten und einen großen Garten anzulegen. So nahe bei der Stadt war das sehr praktisch.
Aber nachdem ihre Mutter wieder geheiratet hatte, war der größte Teil der Grundstücke von ihrem neuen Mann verkauft worden. Rebekka hatte keine Ahnung, wo das ganze Geld abgeblieben war. Jetzt war die Straße, die früher an eine ländliche Durchgangsstraße erinnert hatte, an deren Rand jahrzehntealte Eichen mit tief hängenden Ästen den Sommern ihrer Kindheit so viel Freude und schöne Abenteuer beschert hatten, von Schindelhäusern gesäumt.
Rebekka malte sich die Zimmer des Hauses aus, wie sie gewesen waren, als sie hier gewohnt hatte, und konnte es immer noch nicht glauben, dass Großmutter Carrington nicht mehr da war. Oh, Nana!
Trauer war etwas Sonderbares. Man konnte versuchen, sie nicht zuzulassen, sie nicht an sich herankommen zu lassen, ja, man konnte sie sogar eine Weile verdrängen. Aber die Trauer war geduldig und schlau. Sie kam immer wieder zurück. Mit großer Wucht.
Sie atmete stockend ein.
Der Brief von ihrer Mutter war kurz und knapp gewesen, sie hatte keine Einzelheiten geschrieben, nur: „Deine Großmutter ist unerwartet, aber friedlich in ihrem Bett gestorben.“ Dann hatte sie unmissverständlich klargestellt, dass es für Rebekka Zeit sei, nach Hause zu kommen, und ihr den Geldhahn zugedreht.
Rebekka wischte sich über die Wange. Der plötzliche Verlust ihrer Großmutter und Wohltäterin – in Bezug auf viel mehr als nur auf Geld – war schwer genug. Aber dass sie gezwungen worden war, nach Nashville zurückzukehren, und dass von ihr erwartet wurde, wieder mit ihm unter einem Dach zu wohnen, das war unglaublich.
Das konnte sie nicht. Das würde sie ganz gewiss nicht tun.
Aber ihre Großmutter väterlicherseits, die ihr immer zur Seite gestanden hatte, war nicht mehr da. Sie hatte darauf beharrt, wie wichtig eine Ausbildung im Ausland sei. Als wäre das der Grund gewesen, warum Rebekka um einige Jahre früher, als ihr verstorbener Vater es ursprünglich geplant hatte, nach Wien gegangen war! Ihre Großmutter hatte ihr geglaubt, als sie ihr erzählt hatte, was in jener schrecklichen Nacht passiert war. Aber ihre Mutter? „Du bist bestimmt nur durcheinander, Rebekka. Er käme unmöglich auf die Idee, so etwas zu tun. Du bist jetzt seine Tochter. Er versucht nur, ein liebevoller Vater zu sein. Dafür solltest du dankbar sein, statt ihm böse Absichten zu unterstellen.“
Ihre Großmutter hatte Rebekka geraten, ihn nicht zur Rede zu stellen. Sie hatten alle so getan, als wäre nichts gewesen. Manchmal fragte sie sich, ob das wirklich so klug gewesen war oder ob es sich einfach nur um den Weg des geringsten Widerstandes gehandelt hatte.
Der Junge klopfte dreimal kräftig an die Haustür und wartete. Als sich die Tür schließlich öffnete, zog sich Rebekkas Herz zusammen.
Delphia.
Die Frau war immer noch genauso rund und kräftig, wie Rebekka sie in Erinnerung hatte, fast genauso breit wie groß. Selbst aus dieser Entfernung sah die Schürze der Köchin perfekt gestärkt und strahlend weiß aus, genauso wie Rebekka sie aus ihrer Kindheit in Erinnerung hatte.
Wie von selbst wanderten ihre Gedanken zu Demetrius. Sie fragte sich, ob Delphias Bruder sich auch im Haus aufhielt oder ob er gerade unterwegs war und Besorgungen erledigte. Vielleicht war er aber auch hinten im Garten, den er so sehr liebte. In fast jedem Brief, den ihre Großmutter geschrieben hatte, hatte sie herzliche Grüße von Demetrius ausgerichtet, oft zusammen mit etwas Humorvollem, das er gesagt hatte.
Seit sie den Brief ihrer Mutter bekommen hatte, waren ihre Gedanken vor allem um ihn gekreist. Demetrius war im Hinblick auf ihre Rückkehr ihr einziger Lichtblick gewesen. Sie konnte es kaum erwarten, ihm zu zeigen, was sie dank seiner Geduld und Liebe, mit der er sie unterrichtet hatte, inzwischen beherrschte.
Sie griff in ihre Manteltasche und zog das geschnitzte Holzstück heraus, das sie seit fast fünfzehn Jahren immer bei sich trug. Die Schnitzerei stellte den Hund dar, den sie als Kind gehabt hatte. Die tatsächliche Ähnlichkeit mit dem süßen kleinen Mops, Button, war erstaunlich, wie alles, was Demetrius schnitzte. Er hatte ihr erklärt, dass er einfach Dinge in Holzstücken sehe und dann so lange schnitze, bis er sie freigelegt habe.
Rebekka verfolgte, wie Delphia auf den Jungen hinabschaute und die Hände in die Hüften stemmte. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie den Jungen gar nicht nach seinem Namen gefragt hatte, bevor sie ihn mit seinem Auftrag losgeschickt hatte. Delphia nahm ihm die Zeitung ab. Der Junge redete ununterbrochen auf sie ein, auch wenn Rebekka nicht hören konnte, was er sagte. Doch die Köchin schüttelte langsam den Kopf.
Rebekka seufzte. Ihre Mutter war also nicht zu Hause.
Sie war einerseits enttäuscht, andererseits aber auch spürbar erleichtert. Die Entscheidung war damit gefallen. Sie hatte sich soeben noch einen ganzen Tag erkauft, an dem sie versuchen konnte, den Mut für ihre offizielle Heimkehr aufzubringen und anderswo ein Zimmer zu finden. Allerdings würden die zwei Dollar und vierundzwanzig Cent in ihrer Handtasche nicht lange reichen.
Großmutter Carrington hatte bei ihrem letzten Besuch in Wien vor fast zwei Jahren gesagt, dass sie für den Fall ihres Todes etwas Geld für Rebekka beiseitegelegt hatte. Rebekka wusste nicht, wie viel es war, aber sie war ihr dafür sehr dankbar. Selbst eine kleine Summe würde ihr helfen, bis sie eine Möglichkeit fände, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.
Delphia sprach wieder mit dem Jungen – dieses Mal wanderte ihr Blick über ihn hinweg zur Straße. Rebekka wartete mit angehaltenem Atem, ob er sich umdrehen und sie verraten würde.
Aber er zuckte nur mit seinen schmalen Schultern und tippte an seine rote Mütze, was der älteren Frau ein Lächeln entlockte – das schaffte nicht jeder.
Der kleine Kerl war nicht nur schlau, sondern auch charmant.
Als sich die Haustür wieder schloss, stapfte der Junge zurück zur Straße. Er warf einen kurzen Blick in Rebekkas Richtung, tippte an seine Mütze und lächelte sie triumphierend an. Dann lief er blitzschnell auf der Straße davon.
Rebekka schaute ihm nach. Als er um die Ecke bog und aus ihrem Blick verschwand, regte sich eine sonderbare Traurigkeit in ihr. Das war natürlich albern. Sie kannte den Jungen nicht einmal.
Aber irgendwie fühlte sie sich mit ihm verbunden.
Das Knurren ihres Magens lenkte ihre Gedanken in eine andere Richtung und bestimmte ihren nächsten Schritt. Sie steuerte auf die Stadtmitte zu, um irgendwo essen zu gehen.
Aber das Nashville, das sie noch von früher in Erinnerung hatte, gab es nicht mehr. Überall, wohin sie schaute, sah sie Spuren des Leides, von dem ihr ihre Großmutter in diesen schrecklichen Bürgerkriegsjahren geschrieben hatte. Die wenigen Gebäude, an die sie sich erinnerte, schienen in den letzten zehn Jahren um mehrere Jahrzehnte gealtert zu sein. Die Ziegelfassaden waren von Kugeln durchlöchert, die mit einem Schmutzfilm überzogenen Fenster waren gesprungen, zerbrochen oder fehlten ganz. Was für ein Gegensatz zu dem prunkvollen Reichtum und der faszinierenden Schönheit Wiens!
Aber am meisten überraschten sie die vielen Soldaten der Unionsarmee, die an ihr vorbeigingen oder in Gruppen an Straßenecken standen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass noch so viele in der Stadt stationiert waren. Ihre Anwesenheit half bestimmt nicht, die Einstellung der Menschen aus den Südstaaten gegenüber den Siegern des Bürgerkrieges zu verbessern.
Fast eine halbe Stunde später entdeckte sie schließlich ein kleines Restaurant, fand einen freien Tisch am Fenster und war dankbar, für eine Weile vor der Kälte geschützt zu sein. Da sie seit dem vorigen Nachmittag nur eine Packung Kräcker gegessen hatte, freute sie sich auf ein Frühstück aus heißen Waffeln, Rühreiern und Speck.
Als ihr Essen kam, hatte sie bereits die Liste der Stellenangebote im Nashville Banner überflogen und festgestellt, dass sie sehr entmutigend war. Während sie aß, ließ sie ihren Blick noch einmal über die erste Spalte wandern.
Die meisten offenen Stellen gab es in Fabriken, die erfahrene Näherinnen suchten. Rebekka konnte nähen – falls ihr Leben davon abhinge und falls es die Kunden nicht störte, wenn ihre Kleidung nicht richtig passte. Aber eine erfahrene Näherin? Als solche konnte sie sich wirklich nicht bezeichnen. Und die Bezahlung – zwischen dreißig und fünfundsiebzig Cent pro Woche, je nach der Berufserfahrung, die man mitbrachte – reichte kaum für das tägliche Essen, geschweige denn für eine Wohnung und die nötigsten Dinge, die man sonst noch brauchte.
Der Gepäckträger, der am Bahnhof ihre Truhen verwahrte, hatte sie gewarnt, dass das Leben in Nashville mit dem von früher nicht mehr zu vergleichen war. Er hatte nicht übertrieben.
Am 2. Dezember 1860 hatte sie Nashville verlassen und war nach Europa abgereist, nur wenige Monate, bevor der Krieg ausgebrochen war. Auf den Tag genau ein Jahr nach dem unerwarteten Tod ihres geliebten Vaters.
Die Kellnerin trat wieder an ihren Tisch und füllte wortlos Rebekkas Wasserglas und leere Tasse auf. Der Kaffee war stark und bitter und sie sog tief den belebenden Geruch in sich auf, während sie daran nippte und die restlichen Stellenangebote genauer unter die Lupe nahm.
Gesucht: Erfahrener Koch für neues Hotelunternehmen.
Sie überflog die lange Liste an Anforderungen für diese Stelle und war insgeheim von jedem beeindruckt, der diese hohen Erwartungen erfüllen konnte. Sie seufzte. Sie konnte nicht nähen. Sie konnte nicht kochen.
Warum schien das, was sie gut konnte, so wertlos zu sein? Wenn sie ein Mann wäre, würde es sich anders verhalten.
Wie um genau diesen Gedanken zu verhöhnen, fiel ihr Blick auf eine Karikatur. Sie runzelte die Stirn. Es war eine satirische Darstellung von einem Orchester, das nur aus Frauen bestand. Die Frau im Vordergrund, die am deutlichsten abstach, hatte ihre Posaune verkehrt herum in den Händen. Genauso hielten auch die anderen Musikerinnen ihre Instrumente verkehrt herum.
Rebekka las die Bildunterschrift und kniff die Augen zusammen. Damen im Konzert. Sie schnaubte. Diese Zeichnung stammte natürlich von einem Mann. Was erlaubte er sich!
Direkt unter der Karikatur stand ein Artikel über die New Yorker Philharmoniker, ein kurz gefasster Artikel – nur wenige Sätze lang –, der ursprünglich im Washington Daily Chronicle erschienen war, wie der erste Satz verriet. Darin wurde mitgeteilt, dass das Sinfonieorchester in New York vor Kurzem die erste Frau aufgenommen hatte – eine unglaubliche Entscheidung, wie Rebekka sehr wohl bewusst war. Aber mehr verriet der Artikel nicht. Weder der Name der Musikerin, noch das Instrument, das sie spielte, wurden erwähnt. Nichts. Und der Artikel selbst wurde durch die Karikatur stark in den Hintergrund gedrängt. Rebekka schüttelte den Kopf. Aber sie war der Zeitung dankbar, dass sie wenigstens diese wenigen Sätze abgedruckt hatte. Sie suchte den Namen des Journalisten und fand ihn in winzigen Druckbuchstaben am Ende des Artikels. Geschrieben von Miss Elizabeth Garrett Westbrook.
Getragen von einem Gefühl weiblicher Solidarität mit Miss Westbrook vom Washington Daily Chronicle konzentrierte Rebekka ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Liste mit den Stellenangeboten.
Kellnerinnen gesucht: Nur junge, attraktive Frauen. Diesem Stellenangebot folgte keine Beschreibung, sondern nur eine Postadresse. Sie brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorstellen zu können, was bei dieser Stelle möglicherweise verlangt wurde.
Genauso, wie sie die Jungen gesehen hatte, die in Wien auf der Straße lebten, hatte sie Frauen gesehen, sogar ganz junge Mädchen, die nach Einbruch der Dunkelheit an Straßenecken standen und in Gassen herumlungerten. Als sie in New York nach ihrer Überfahrt vom Schiff gegangen war, hatte sie im Hafen ebenfalls solche bedauernswerten Frauen gesehen. Egal, in welcher Kultur oder auf welchem Kontinent man lebte, manche Dinge schienen sich nie zu ändern.
Sie las in der nächsten Spalte weiter und wurde von einer gewissen Melancholie erfasst, als sie das letzte Stellenangebot las. Eine Gouvernante wurde gesucht. Dafür war sie qualifiziert. Sie beherrschte diese Aufgabe sogar sehr gut, wie ihr die Familie Heilig bestätigen würde, wenn sie könnte. Sie hatte über zwei Jahre für diese Familie gearbeitet. Aber es war gewiss nicht ihr Herzenswunsch, als Gouvernante zu arbeiten.
Besonders, wenn sie sich vorstellte – ihre Augen weiteten sich, als sie weiterlas –, dass sie für sechs Kinder verantwortlich wäre. Sechs! Sie atmete seufzend aus. Aber das Gehalt lag bei fast einem Dollar pro Woche, plus Kost und Logis, und da sie nicht einmal mehr drei Dollar besaß, konnte sie es sich nicht leisten, wählerisch zu sein.
Der Gedanke an die einzige Alternative, die ihr bliebe, wenn sie nicht schnell eine Stelle fände, erfüllte sie mit zusätzlicher Motivation. Sie würde also wieder als Gouvernante arbeiten. Falls man sie einstellte.
Sie trank ihren Kaffee leer, legte genug Geld auf den Tisch, um das Essen und ein wenig Trinkgeld abzudecken, und stand auf. Die junge Kellnerin, die ungefähr in ihrem Alter war, räumte gerade schmutziges Geschirr von den Nachbartischen. Ihre Schürze war mit Flecken übersät. Ihre Bewegungen waren effizient und erfahren, aber ihre hängenden schmalen Schultern und der freudlose Blick in ihren Augen erzählten eine traurige Geschichte.
Plötzlich war es gar keine so schlechte Aussicht mehr, die Kinder einer Familie zu erziehen.
Rebekka nahm ihre Handtasche, die Zeitung und ihre Reisetasche und ging zur Tür. Doch dann fiel ihr ein, dass sie etwas vergessen hatte, und sie ging zurück, um ihren Mantel zu holen. Während sie die Arme in die Ärmel schob, wurde ihr erneut bewusst, dass sie in Wien hätte bleiben müssen. Sie hätte sich mehr anstrengen sollen, um eine Möglichkeit zu finden, dortbleiben zu können. Sie legte den Wollmantel eng um sich und schob die Knöpfe durch die Knopflöcher. Ihre Frustration wuchs.
Aber sie hatte keine Möglichkeit gesehen. Sie hatte es wirklich versucht, auch wenn sie dafür nicht viel Zeit gehabt hatte. Deshalb stand sie jetzt wieder in Nashville.
Sie war schon fast bei der Tür, als ein Herr, der an einem Tisch neben ihr saß, seine Zeitung aufschlug, sie kräftig schüttelte und dann umblätterte. Das Geräusch war in der Stille so laut, dass Rebekka unwillkürlich in seine Richtung sah.
Sie blieb stehen und ihr Blick fiel auf eine groß gedruckte Überschrift.
Sie las sie. Dann las sie diese noch einmal, obwohl sie sich bereits sagte, dass es dumm sei, sich Hoffnungen zu machen. Aber die Hoffnung, die in ihr aufkeimte, ließ sich davon nicht beirren. Zielstrebig kehrte sie zu ihrem Tisch zurück, holte die kleine Glasflasche aus ihrer Tasche, goss das übrige Wasser aus ihrem Glas hinein und schraubte den Deckel fest zu.
Sobald sie wieder auf dem Gehweg stand, blätterte sie in ihrer Zeitung, bis sie den Artikel fand. Da ein kalter Wind auf ihren Wangen brannte und gegen die Seiten der Zeitung schlug, überflog sie die betreffenden Zeilen schnell.
Ihre Lippen bewegten sich stumm, während sie den Text fast verschlang.
Sie zog die Taschenuhr ihres Vaters aus ihrem Mantel und sah nach, wie spät es war. Schon halb eins. Sie verzog das Gesicht. Das würde sie nie schaffen. Aber sie musste es versuchen.
Schließlich hatte sie nichts zu verlieren.
Schwer atmend trat sie auf den schwach beleuchteten Flur und schloss die massive Eichentür hinter sich. Sie war dankbar, dass sie jetzt vor der Kälte und dem Wind geschützt war. Ihre Beine schmerzten, da sie zu Fuß quer durch die ganze Stadt gelaufen war, und ihr Selbstvertrauen geriet ins Wanken. Wenn sie den Artikel im Nashville Banner früher gesehen hätte, wären ihre Chancen, an diesem Ort ein Ja zu erhalten, vielleicht größer gewesen.
Die in der Zeitung angegebene Uhrzeit für das Vorspielen war vor über einer Stunde zu Ende gegangen und sie konnte sich gut vorstellen, was ein Mann wie Mr Nathaniel T. Whitcomb von einem Menschen denken würde, der unpünktlich war.
Nathaniel T. Whitcomb. Selbst der Name dieses Mannes klang adelig.
Laut dem Zeitungsartikel kam Mr Whitcomb aus höchsten gesellschaftlichen Kreisen. Das war nicht überraschend, da er am angesehenen Peabody-Musikkonservatorium in Baltimore und später am Oberlin-Musikkonservatorium studiert hatte. Whitcombs lange Liste mit Auszeichnungen war beeindruckend. Als Rebekka las, wie alt er war, stieg ihre Hochachtung vor seinen Leistungen noch mehr.
Er war erst zweiunddreißig. Nur neun Jahre älter als sie.
Eine großartige Leistung, musste sie, wenn auch widerstrebend, zugeben. Aber aufgrund ihrer früheren Erfahrungen musste sie davon ausgehen, dass der Mann bestimmt auch ein entsprechendes Ego hatte. Das war bei männlichen Musikern anscheinend immer der Fall.
Besonders bei Dirigenten.
Aber viel wichtiger als die Frage, wie viel Wert dieser Mann auf Pünktlichkeit legte, war seine Einstellung gegenüber Frauen in einem Orchester. Hoffentlich dachte er so fortschrittlich, wie sie aus dem Artikel geschlossen hatte! Darin hatte sie gelesen, dass sich die Nashviller Philharmonie immer noch im Aufbaustadium befand. Dieser Umstand könnte ihr zugutekommen. Es sprach auch bestimmt für sie, dass die Philharmonien in New York und Philadelphia vor Kurzem die ersten Frauen in ihren Reihen aufgenommen hatten.
Andererseits war der Süden schon immer langsamer damit gewesen, Veränderungen zu akzeptieren, besonders wenn besagte Veränderungen aus dem Norden kamen. Seit dem Krieg waren zwar einige Jahre vergangen, aber die Narben, die er zurückgelassen hatte, waren immer noch deutlich zu sehen und zu spüren.
„Kann ich Ihnen helfen?“, sprach eine Frau sie mit scharfem Ton an.
Überrascht drehte sich Rebekka um und sah eine Frau, die rechts von ihr hinter einem Schreibtisch saß. Die säuerliche Miene der älteren Frau passte gut zu der verstaubten Atmosphäre dieses Gebäudes.
Rebekkas Handflächen wurden trotz der Kälte feucht, als sie auf die Frau zuging. Mit dieser Hürde hatte sie nicht gerechnet, wofür sie sich im Stillen tadelte. Dank ihrer Erfahrungen in Wien hatte sie zwar keine Probleme im Umgang mit Dirigenten, aber deren Torhüter …
Vor ihnen graute ihr. Und die Vertreterin dieser Zunft, die jetzt vor ihr saß, sah besonders abschreckend aus.
Sie müsste ihr Anliegen sehr vorsichtig formulieren, wenn sie nicht umgehend wieder auf der Straße stehen wollte. Da ihr Arm unter dem Gewicht schmerzte, verlagerte sie die große Reisetasche in ihre andere Hand. „Ja, Madam. Sie können mir ganz bestimmt helfen. Danke.“ Rebekka bedachte die Frau mit einem Lächeln, das nicht erwidert wurde. „Ich bin hier, um mich für …“
„Die neue Stelle zu bewerben“, beendete die Frau ihren Satz und schaute sie abschätzend an. „Lassen Sie mich raten. Sie vergöttern das Sinfonieorchester und es war schon immer Ihr tiefster Herzenswunsch, irgendwie daran mitzuwirken.“
Der unüberhörbare Sarkasmus der Frau bestätigte Rebekka, dass sie nicht zu unterschätzen war. Als sie dann noch ein eiskaltes Lächeln aufsetzte, hatte Rebekka plötzlich das Gefühl, die winterlichen Temperaturen von draußen wären direkt in den Raum gezogen.
Aus einem unerklärlichen Grund hatte diese Frau offensichtlich beschlossen, sie nicht zu mögen. Oder ihr gefiel es einfach nicht, dass sich Rebekka für die „neue Stelle“ bewarb. Sprachen sie überhaupt von derselben Stelle? Ihr Instinkt sagte Rebekka, dass dem nicht so war, aber das verriet sie lieber nicht.
„Noch einmal danke, dass Sie mir Ihre Hilfe angeboten haben …“ Rebekka warf einen Blick auf das Namensschild auf dem Schreibtisch. „… Mrs Murphey. Das ist sehr nett von Ihnen. Sie haben recht. Ich bewundere das Sinfonieorchester schon lange und würde gerne hier arbeiten. Ehrlich gesagt, habe ich …“
„Wie haben Sie davon erfahren?“
Rebekka zögerte. „Erfahren?“
„Von der Assistentenstelle für den Dirigenten“, sagte die Frau langsam, als habe sie es mit einem begriffsstutzigen Kind zu tun.
Rebekka zwang sich zu einer freundlichen Miene. Sie hatte schon in jungen Jahren gelernt, dass es falsch war zu lügen, aber man musste die Wahrheit auch nicht immer gleich herausposaunen. Das hatte sie auf die harte Tour lernen müssen.
„Ehrlich gesagt, Mrs Murphey, habe ich heute Morgen mit jemandem über Nashville gesprochen. Dabei ging es darum, wie sehr sich die Stadt in den letzten Jahren verändert hat. Dann habe ich in der Zeitung den Artikel über den neuen Dirigenten gelesen und beschlossen …“
„Dass Sie versuchen könnten, den anderen zuvorzukommen.“ Mrs Murphey lachte kurz. „Sie kommen zu spät, Miss …“
„Carrington, Madam.“ Rebekka verzichtete auf einen Knicks, da sie wusste, dass er bei dieser Frau nicht gut ankommen würde. „Rebekka Carrington.“
Die Frau musterte sie von Kopf bis Fuß. Ihr Blick blieb ein wenig zu lange an Rebekkas Jacke und Rock hängen, die unter dem Mantel zum Vorschein kamen. Rebekka strich mit der Hand über ihre Kleidung. Da sie in Trauer war, trug sie ihre dunkelgraue Pannesamtjacke und einen dazu passenden Faltenrock mit Turnüre. Das war nicht ihre eleganteste Kleidung, aber sie war unter den gegebenen Umständen angemessen. Außerdem war die Mode in Nash-
ville – wenigstens soweit sie es bis jetzt gesehen hatte – deutlich weniger elegant als in Europa und besonders in Wien.
„Miss Carrington … Ich muss Ihnen mitteilen, dass sich schon unzählige junge Frauen nach dieser Stelle erkundigt haben. Frauen aus Nashvilles besten Familien, ganz zu schweigen von den Töchtern der großzügigsten Sponsoren unserer Philharmonie. Darf ich, nachdem ich das klargestellt habe, vorschlagen, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit auf aussichtsreichere Stellenangebote richten? Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.“
Mrs Murphey wandte sich wieder den Papieren auf ihrem Schreibtisch zu. Aber Rebekka rührte sich nicht von der Stelle.
Ob es an der abweisenden, unfreundlichen Art der Frau lag oder an der lähmenden Erkenntnis, in welcher misslichen Lage sie sich befand, konnte sie nicht sagen. Aber sie wusste, dass sie nicht von hier fortgehen konnte, ohne diese Gelegenheit zu nutzen, auch wenn sie noch so klein war. Sie hatte nicht das geringste Interesse an der Assistentenstelle. Sie war mit einem viel größeren Ziel hierhergekommen. Die bereits ergrauenden Haare der lieben Mrs Murphey würden wahrscheinlich schlohweiß werden, wenn sie das wüsste. Diese Vorstellung belustigte sie.
„Entschuldigen Sie, Mrs Murphey.“
Die Frau hob langsam den Kopf.
„Ich danke Ihnen für Ihren Rat, aber ich möchte Sie trotzdem bitten, den Dirigenten zu fragen, ob er Zeit hat, um mit mir zu sprechen. Es dauert nur ein paar Minuten.“
Mrs Murphey stand langsam auf. „Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, Miss Carrington. Sie haben keinen Grund, damit zu rechnen, dass …“
„Sie haben sich sehr klar ausgedrückt, Madam. Aber ich bin fest entschlossen, Mr Whitcomb zu sprechen. Das kann ich heute machen. Jetzt.“ Rebekka hob das Kinn. „Oder ich kann morgen wiederkommen. Und an jedem weiteren Tag.“
Die Lippen der Frau wurden dünner. „Er ist ein viel beschäftigter Mann und er hat einen sehr vollen Terminkalender.“
Rebekka stellte ihre Tasche ab. „Aus diesem Grund möchte ich seine Zeit nicht unnötig beanspruchen. Und Ihre Zeit auch nicht.“
Die saure Miene wurde noch säuerlicher. „Wie Sie wollen. Warten Sie hier, bis ich zurückkomme!“
Mrs Murpheys Absätze erzeugten ein scharfes Stakkato, als sie mürrisch durch den langen Korridor schritt.
Rebekka atmete aus. Sie war erleichtert … und auch wieder nicht. Sie stand einen Moment da und ließ die Stille auf sich wirken, während der muffige Geruch des Opernhauses angenehme Erinnerungen in ihr weckte.
Das Bild von ihrem Vater in seiner besten Sonntagskleidung tauchte vor ihr auf. Sie selbst hatte auch ihr schönstes Kleid getragen. Sie erinnerte sich noch so gut an jenen Abend, an dem sie das Gebäude durch die eleganten Türen des Haupteingangs betreten hatten. Diesen Abend würde sie nie vergessen. Ihre erste Sinfonie. Ein Orchester aus New York gebe in Nashville ein Konzert, hatte ihr Vater erklärt. Es war ein so außergewöhnliches Erlebnis gewesen, dass sich von da an alles für sie verändert hatte. Das hatte ihr Vater gewusst.
Sie fragte sich jedoch, auch wenn sie wahrscheinlich nie mit Bestimmtheit eine Antwort auf diese Frage bekäme, ob es von Anfang an seine Absicht gewesen war, dass dieses Erlebnis alles für sie verändern würde. Ihre Mutter hatte diese Absicht ganz gewiss nicht gehabt.
Rebekka knöpfte ihren Mantel auf, ließ ihn aber an, da ihr immer noch kalt war. Ihr Blick wanderte durch den Flur.
Wände, von denen die Farbe abblätterte, und der verzogene Holzboden kündeten von der Eleganz vergangener Tage. Aber irgendwie strahlte dieser Korridor des Opernhauses immer noch eine majestätische Atmosphäre aus. Es schien Rebekka, als wäre die zeitlose Schönheit Mozarts, Beethovens und Schuberts in die Steine und den Mörtel eingedrungen und erfülle die Korridore und Seitenflure mit einer Gegenwart, die sie fast fühlen und in der Stille gewiss hören könnte, wenn sie ihre Ohren nur genug anstrengte.
Es war wirklich schade, dass dieses Gebäude abgerissen werden sollte. In der Zeitung hatte sie von den Plänen der Stadt gelesen, das alte Opernhaus bald abzureißen. Dann war eine Beschreibung des neuen Nashviller Opernhauses gefolgt, dessen Fertigstellung im Sommer geplant war. Aus den Details schloss sie, dass dieses Gebäude spektakulär werden würde. Aber offenbar verzögerten zahlreiche Pannen die Fertigstellung dieses Projekts.
Die aufsehenerregendste Panne war es gewesen, als ein Balkon während der Bauarbeiten eingestürzt war. Mehrere Arbeiter waren verletzt worden, aber es waren Gott sei Dank keine Todesopfer zu beklagen gewesen. Die Zeitungskolumne hatte angedeutet, dass diesem Zwischenfall ein Skandal gefolgt war, in den der damalige Bürgermeister der Stadt und sein Sohn, ein Architekt, verwickelt gewesen waren. Dem Sohn des Bürgermeisters war dieses Projekt zuerst übertragen worden, doch schließlich hatten sowohl er als auch sein Vater ihre Posten räumen müssen. Danach war ein neuer Architekt – aus Wien – mit dem Auftrag betraut worden, das Projekt zu übernehmen.
Ein Gebäude in Nashville, an dem ein Architekt aus Wien arbeitete, wollte sie unbedingt sehen.
Als junges Mädchen hatte sie sich nichts dabei gedacht, dass Nash-
ville ein Opernhaus hatte, auch wenn das Gebäude im Vergleich zu europäischen Verhältnissen sehr bescheiden war. Doch für eine Stadt von so bescheidener Größe war es ziemlich eindrucksvoll. Nashville war schließlich nicht New York oder Philadelphia. Aber das Theater, die Oper und die Philharmonie waren trotzdem sehr beliebt. Besonders nach der dunklen Zeit des Bürgerkrieges.
Der Journalist hatte von der „erstaunlichen Großzügigkeit eines anonymen Nashviller Sponsors“ beim Bau des neuen Opernhauses gesprochen, was erklärte, wie das Projekt finanziert werden konnte, obwohl die Wirtschaft am Boden lag.
Rebekkas Blick wanderte durch den Flur, wo sie von Mrs Murphey keine Spur entdeckte. Deshalb setzte sie sich auf einen Stuhl an der Wand und wartete. Sie zog ihre Zeitung heraus und überflog noch einmal den Artikel nach Informationen, die bei ihrem Gespräch mit Nathaniel T. Whitcomb hilfreich sein könnten.
Der Reporter betonte den Hang des Dirigenten zu Originalpartituren und seine Vorliebe für neuere Techniken, was sie ermutigend fand. Aber dass es so mühsam war, überhaupt eine Audienz bei diesem Mann zu bekommen, verhieß nichts Gutes, was ihre Chancen anging. Sie hoffte nur …
Die plötzlichen Stakkatotöne auf dem Korridor rissen sie aus ihren Gedanken. Als sie den fassungslosen Blick auf dem Gesicht der älteren Dame bemerkte, keimte neue Hoffnung in ihr auf.
Rebekka machte Anstalten aufzustehen.
„Bleiben Sie sitzen“, befahl Mrs Murphey mit scharfem Ton. „Der Maestro ist gerade in einem Gespräch. Sie müssen also warten.“
Ihre Hoffnung wuchs. Aber … der Maestro?
Rebekka schaute die Frau fragend an. Trotz all der Verdienste, die er sich so früh in seiner Karriere erworben hatte, musste sich dieser Mann doch bestimmt einen solchen Ehrentitel erst noch verdienen. Aber Mrs Murpheys Miene verriet, dass sie diesen Titel in keiner Weise sarkastisch meinte.
Eine Viertelstunde verging, dann eine halbe.
Rebekka wartete unter den wachsamen Augen der älteren Dame.
Als Mrs Murphey von ihrem Schreibtisch wegtrat, griff Rebekka schnell in ihre Tasche, öffnete die Wasserflasche und steckte das Rohrblatt hinein, um es anzufeuchten. Sie wollte für den Fall der Fälle bereit sein. Ihre geliebte Oboe, die sich in ihrer Tasche befand, war zwar nicht ihr Lieblingsinstrument, aber sie war wie eine alte Freundin, und angesichts der öffentlichen Meinung über Frauen, die Violine spielten, war die Oboe für dieses Vorspielen eine weitaus ungefährlichere Wahl.
Sie rieb die Hände an ihrem Mantel ab, da sich ihre Nerven deutlich bemerkbar machten. Warum war sie so nervös? Sie hatte schon tausendmal für ein Sinfonieorchester vorgespielt – in ihren Träumen.
Aber konnte sie das schaffen, wenn es wirklich darauf ankam?
Fast zwei Jahrzehnte, in denen sie Musik gespielt oder studiert hatte, zehn davon in Wien, sollten sie auf die Anspannung, die sich jetzt in ihrem Bauch breitmachte, eigentlich ausreichend vorbereitet haben, besonders nach ihrer Erfahrung als Assistentin eines berühmten österreichischen Dirigenten. Aber einem Dirigenten bei der Vorbereitung einer Partitur zu assistieren und bei ihm zu Hause Partituren abzuschreiben – nach dem Abendessen und der Erledigung ihrer Pflichten als Gouvernante seiner Kinder –, war etwas ganz anderes, als von ihm dirigiert zu werden.
Seine liebe Frau, Sophie, hatte ihr einmal anvertraut, dass Herr Heilig sie für sehr talentiert hielt … für eine Frau. Aber er vertrat auch den Standpunkt, dass „Frauen für die anstrengende Arbeit in einem Orchester viel zu zart besaitet“ wären. Rebekka hatte also gut aufgepasst, so viel wie möglich gelernt und auf den Tag gewartet, an dem sie ihm beweisen könnte, dass sie nicht zu schwach war.
Aber dieser Tag war nie gekommen.
„Miss Carrington?“
Rebekka blickte auf.
Mrs Murphey deutete mit dem Kopf den Gang hinab. „Der Maestro ist jetzt zu sprechen. Lassen Sie ihn nicht warten.“
Rebekka vernahm Schritte auf dem Flur und warf einen Blick in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Dort sah sie einen älteren Herrn mit einem Hut in der Hand. Er blieb einen Moment stehen und schaute mit ernster Miene in ihre Richtung. Dann verschwand er eiligen Schrittes in der anderen Richtung. Sie schloss daraus, dass sein Gespräch mit dem Maestro nicht so verlaufen war, wie er es sich gewünscht hatte.
Sie hoffte nur, dass ihres besser laufen würde.
Tamera Alexander
Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.
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