Tandi Reese wagt mit ihren Kindern einen Neuanfang – auf einer wunderschönen Insel im Atlantik. Die junge Mutter, die eine schwierige Vergangenheit hat, möchte endlich wieder auf die Beine kommen. Doch es ist gar nicht so einfach, alte Gewohnheiten abzulegen. Da macht ihr der Himmel überraschend ein Geschenk. Während sie das uralte Haus ihrer verstorbenen Nachbarin Jola entrümpelt, stößt Tandi auf geheimnisvolle Kästchen voller Briefe, die sie in ihren Bann ziehen. Sie nehmen sie mit in eine längst vergessene Welt, die auf seltsame Weise mit ihrer eigenen verbunden zu sein scheint, und werden zum Auslöser umwälzender Veränderungen ...
Eine bezaubernde Erzählung von der Macht des Gebets.
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Kapitel 1
Wenn dunkle Wolken aufziehen, flüchte ich in Gedanken immer zu einem besonderen, perfekten Tag in Rodanthe. Die Erinnerungen legen sich wie eine tröstende Decke um mich, eine viel benutzte Quiltdecke aus Sand und Himmel, die im Laufe der Zeit weich gewaschen wurde. Ich kuschle mich in diese Decke und sehe im Geiste das Haus am Ufer. Das Gebälk ist dem Wind und der Sonne ausgesetzt, die Holzschindeln haben sich gelockert und gleiten hier und da zu Boden wie die Schuppen eines mythischen Seewesens, die ans Ufer geschwemmt wurden. Die Tür einer Sturmluke hängt nur noch an einem einzigen Nagel.
Sie schaukelt im Wind und schützt ein unbeschädigtes Fenster im zweiten Stock. Möwen ziehen ihre Kreise und landen auf den mit Salz besprühten Dachbalken – wie Plünderer, die kommen, um an dem Gerippe, das der Sturm übrig gelassen hat, zu picken.
Jahre später, als das Haus renoviert worden war, wurde hier ein Spielfilm gedreht. Eine Liebesgeschichte.
Aber ich verbinde die Geschichte dieses Hauses in Rodanthe mit der Erinnerung an einen Tag mit meinem Großvater. An einen behüteten Tag.
Wenn ich lange genug die Augen zusammenkneife und in die Sonne blicke, die sich auf dem Wasser spiegelt, kann ich ihn sehen. Nur seinen Schatten, gebeugt und knorrig, in seinem Arbeitsanzug und dem alten karierten Hemd mit den Perlmuttdruckknöpfen. Die Absätze seiner abgetragenen Arbeitsstiefel hängen in der Luft, während er auf den Balken im zweiten Stock balanciert und den Sturmschaden begutachtet. Er rechnet aus, was es die Eigentümer kosten wird, das Haus wieder instand zu setzen.
Er sucht etwas an seinem Gürtel. Jeden Augenblick wird er meinen Namen rufen und mich bitten, ihm zu bringen, was er nicht finden kann. Tandi, bring mir das blaue Maßband, oder Tandi Jo, ich brauche die grüne Wasserwaage aus dem Wagen … Dann krame ich in der Werkzeugkiste nach diesen Sachen und hüpfe die Treppe hi-
nauf – ein kleines, braunhaariges Mädchen, das es allen rechtmachen will und das hofft, dass er mir eine Geschichte erzählt, wenn ich bei ihm oben bin. Hier, an dem Ort, an dem er aufgewachsen ist, sind alle Geschichten lebendig. Er will, dass ich die Outer Banks, diese Inselkette im Atlantik, kennenlerne, und ich sehne mich danach, sie zu erkunden. Jeden Zentimeter. Jede Geschichte. Jedes Detail über die Familie, auf die sich meine Mutter immer verlassen konnte und mit der sie trotzdem ständig auf Kriegsfuß stand.
Trotz der Verwüstungen, die der Sturm angerichtet hat, ist dieser Ort himmlisch. Hier spricht mein Vater, meine Mutter singt, und alles ist ausnahmsweise friedlich. Tag für Tag, wochenlang. Hier leben wir alle in einer abbruchreifen, altmodischen Wohncontainersiedlung aus den Sechzigerjahren zusammen. Mein Vater arbeitet auf Baustellen, die ihm mein Großvater vermittelt hat. Niemand knallt mit Türen oder verschwindet einfach. Dieser Ort hat etwas Magisches – das weiß ich.
Nachdem wir an jenem Tag das Haus an der Küste begutachtet hatten, gingen wir in Rodanthe spazieren. Ich spüre Opas raue Hand in meiner und seine Finger, die knorrig sind wie Treibholz, versprechen, dass alles, was kaputt ist, repariert werden kann. Wir schlendern an Häusern vorbei, an denen die Leute damit beschäftigt sind, die Sturmschäden zu beheben, an Bergen von durchnässten Möbeln und Schutt, an der alten Seerettungsstation Chicamacomico, wo die Heilsarmee auf dem Parkplatz warmes Essen verteilt.
Vor einem mit Brettern vernagelten Geschäft im Ort zwinkert mir ein Gitarrenspieler mit nacktem Oberkörper und langen, blonden Dreadlocks lächelnd zu. Mit meinen zwölf Jahren wende ich unsicher den Blick ab und erröte. Dann wage ich einen zweiten Blick, und ein sonderbares, unbekanntes Gefühl erfasst meinen Körper wie ein Stromstoß. Er zupft an seiner Gitarre, tippt im Takt mit seinem alten Turnschuh auf ein Surfbrett und spricht den Text mehr, als dass er ihn singt.
Läutet die Glocke, dass es an alle Ohren dringt,
Ihr Kaputten, hört das Lied und singt:
In der perfekten Muschel ist alles dunkel und kalt;
doch warmes Licht scheint durch jeden Riss und Spalt …
Diesen Text des Gitarrenspielers hatte ich längst vergessen. Bis jetzt.
Die Erinnerung an das Lied und an die starke Hand meines Großvaters umhüllte mich, als ich auf Jola Anne Pooles Veranda stand. Das war der erste Hinweis, ein untrügliches Gefühl, dass etwas in diesem Haus ganz und gar nicht so war, wie es sein sollte.
Ich schob die Tür vorsichtig einen Spaltbreit auf und ließ die frühe Morgensonne und die Brise von der Lagune zwischen dem Festland und den Inseln, dem Pamlico Sound, ins Haus. Die Eingangshalle war alt, groß, die Wände waren weiß und die rechteckigen Paneele waren mit einer schweren Goldblattverzierung umrandet. Ein frischer Windhauch umwehte wie auf zarten Mäusepfötchen die Schatten, aber er war zu schwach, um den abgestandenen, staubigen Geruch aus dem Haus zu vertreiben. Den Geruch eines vergessenen Ortes. Ich wusste instinktiv, was ich im Inneren vorfinden würde. Das Gefühl, wenn man durch eine Tür tritt und, auch wenn man es nicht erklären kann, irgendwie weiß, dass der Tod vor einem hier gewesen ist, vergisst man nie wieder.
Auf der Türschwelle zögerte ich. Die verschiedenen Möglichkeiten schossen mir durch den Kopf und wichen dann einer spürbaren Panik. Mach die Tür wieder zu! Ruf die Polizei oder … irgendjemand anderen! Soll sich doch jemand anders darum kümmern!
Du hättest den Türgriff nicht anfassen sollen – jetzt sind deine Fingerabdrücke darauf. Und wenn die Polizei glaubt, du hättest ihr etwas angetan? Es kommt immer wieder vor, dass Unschuldige eines Verbrechens angeklagt werden. Besonders Leute, die fremd in der Stadt sind. Fremde wie du, die aus dem Nichts auftauchen und sich bemühen, nicht aufzufallen …
Und wenn man mich verdächtigen würde, ich hätte es auf das Geld der alten Frau abgesehen und versucht, ihre Wertsachen zu stehlen oder ihre versteckten Ersparnisse zu finden? Und wenn tatsächlich jemand in das Haus eingebrochen war und es ausgeraubt hatte? So etwas kam vor. Auch an idyllischen Orten wie auf der Insel Hatteras. Große Ferienhäuser standen leer und stellten eine Versuchung dar, schnell und mühelos zu Geld zu kommen. Vielleicht war ein Dieb in das Haus eingebrochen, weil er gedacht hatte, es stünde leer, und hatte zu spät bemerkt, dass dem nicht so war? Womöglich zerstörte ich gerade Spuren und Beweismaterial.
Tandi Jo, manchmal könnte ich schwören, dass du geistig minderbemittelt bist! Die Stimme in meinem Kopf klang nach meiner Tante Marney – hart, gereizt, mit dem unverkennbaren Texas-Akzent der Familie meines Vaters und ohne das geringste Verständnis für Fantasiegespinste. Schon gar nicht für meine Fantasiegespinste.
„Mrs Poole?“ Ich beugte mich in den Raum, um besser sehen zu können, ohne jedoch etwas zu berühren. „Jola Anne Poole? Sind Sie im Haus? Ich bin Tandi Reese. Aus dem kleinen Cottage vorne auf dem Grundstück … Hören Sie mich?“
Wieder nur Stille.
Ein Windstoß fegte über die Veranda und wirbelte die Kiefernnadeln und vertrockneten Eichenblätter aus dem letzten Jahr auf. Lose Haarsträhnen flatterten vor meinen Augen, und meine Gedanken verhedderten sich mit ihnen. Mein Spiegelbild verschmolz mit den Wellen aus Bleiglas – wehende, braune Haare, nervöse, blaue Augen, Lippen, die leicht offen standen, unsicher.
Was nun? Wie sollte ich den Leuten erklären, dass es mehrere Tage gedauert hatte, bis mir aufgefallen war, dass in Jola Pooles großem viktorianischem Haus keine Lichter ein- und ausgeschaltet wurden und nachts, wenn die Frühlingsluft fröstelnd war, die elektrischen Fensterklimageräte nicht betätigt wurden? Ich wohnte keine vierzig Meter entfernt. Wie hatte mir das entgehen können?
Vielleicht hatte sie sich nur ein wenig schlafen gelegt und ich erschreckte sie zu Tode, wenn ich jetzt ins Haus ging. Soweit ich es beurteilen konnte, lebte meine neue Vermieterin sehr zurückgezogen. Bis auf die Lebensmittel, die ihr geliefert wurden, und den UPS- und den FedEx-Wagen, die mit Paketen kamen, waren die einzigen Lebenszeichen von Jola Poole die Lichter und die Fensterklimageräte, die zu den verschiedenen Tageszeiten ein- und ausgeschaltet wurden, wenn sie sich im Haus bewegte. Ich hatte die Frau erst ein- oder zweimal gesehen, seit die Kinder und ich mit dem letzten Tropfen Benzin und ohne Aussicht auf ein Dach über dem Kopf hier im Ort gelandet waren. Wir hatten den letzten Landstreifen erreicht, bevor man in den Atlantik eintauchen würde – weiter weg konnten wir von Dallas, Texas und Trammel Clarke nicht kommen. Mir war nicht einmal bewusst gewesen, wohin ich fuhr und warum. Das wurde mir erst klar, als wir die Grenze nach North Carolina passierten. Ich war auf der Suche nach einem Versteck.
Spätestens an unserem vierten Tag auf Hatteras wusste ich, dass wir nicht länger im Auto auf dem Campingplatz schlafen konnten. Auf einer Insel bleibt so etwas auf Dauer nicht unbemerkt. Als eine Immobilienmaklerin ein Cottage zu einem günstigen Nebensaisonpreis anbot, war das unsere Chance. Wir brauchten dringend eine vernünftige Unterkunft.
Da es inzwischen schon Mitte April war, wir vor sechs Wochen in das Cottage eingezogen waren und ich mich auch noch zwei Wochen mit der Miete im Rückstand befand, wollte ich wegen Jola Poole nicht ausgerechnet die Immobilienmaklerin, Alice Faye Tucker, die uns hier untergebracht hatte, anrufen.
Ich berührte die Tür und rief wieder in die Eingangshalle des Hauses hinein: „Jola Poole? Mrs Poole? Sind Sie da?“ Ein erneuter Windstoß wirbelte über die Veranda und bewegte die Königinblumenzweige über die Zierleisten, die offenbar mehr durch die Jasminranken und die ausgetrocknete Farbe als durch Nägel festgehalten wurden. Die Tür öffnete sich wie von selbst ein Stück weiter. Angst kroch über meinen Rücken und ich erschauerte.
„Ich komme ins Haus, ja?“ Vielleicht bildete ich mir das Gefühl des Todes nur ein. Vielleicht war die arme Frau nur gestürzt, saß irgendwo hilflos fest und konnte sich nicht selbst befreien. Ich könnte ihr wieder auf die Beine helfen und ihr Wasser oder etwas zu essen bringen und es bestünde nicht der geringste Anlass, die Polizei zu holen. Es würde sowieso eine Weile dauern, bis Hilfe käme. Hier im Ort gab es keine Polizeiwache. Fairhope bestand aus nicht viel mehr als einem Fischmarkt, einem kleinen Hafen, einem Dorfladen, ein paar Dutzend Häusern und einer Kirche. Es lag verschlafen zwischen den Eichen am Mosey Creek und schien mit sich selbst und der Welt zufrieden zu sein. Ein unscheinbares Dorf, in dem Fischer mit ihren vom Sturm gebeutelten Booten anlegten und mit ihren Familien in vom Meer und Salz gezeichneten Häusern lebten. Ein Krankenwagen oder die Polizei müssten aus einer größeren Stadt kommen, vielleicht aus Buxton oder Hatteras Village.
Ich konnte für Jola Anne Poole und auch für mich nichts Besseres tun, als ins Haus zu gehen, herauszufinden, was passiert war, und zu versuchen, kein Aufsehen zu erregen.
Die Tür stand inzwischen so weit offen, dass ich ins Haus huschen konnte. Ohne etwas zu berühren, schlüpfte ich hinein und ließ die Tür hinter mir offen. Falls ich das Haus eilig verlassen müsste, wollte ich zwischen mir und der Veranda keine Hindernisse haben.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sich etwas bewegte, als ich mich auf dem Flur vorsichtig weiter vorwagte. Ich zuckte zusammen, merkte dann aber, dass ich nur an einer Ansammlung vergilbter Fotos vorbeiging und mein Spiegelbild gespenstisch mit dem trüben Glas verschmolz. Die alten Schwarz-Weiß-Bilder schauten mich an: ein Soldat in Uniform mit der Inschrift Avery 1917 auf einem Messingschild. Ein kleines Mädchen mit Korkenzieherlocken auf einem weißen Pony. Eine Gruppe von Leuten, die sich unter einer Eiche für den Fotografen postiert hatten – die Frauen trugen große Sonnenhüte wie Kate Winslet in Titanic. Ein Hochzeitsfoto aus den Dreißiger- oder Vierzigerjahren; das glückliche Brautpaar stand in der Mitte und wurde von mehreren Dutzend Erwachsenen und zwei Reihen von Kindern, die im Schneidersitz auf dem Boden saßen, umrahmt. War Jola die Braut auf dem Bild? Hatte früher einmal eine große Familie in diesem Haus gewohnt? Was war aus ihnen geworden? Soweit ich wusste, hatte Jola Poole keine Familie mehr, wenigstens kam niemand zu Besuch.
„Hallo? Hallo?! Sind Sie da oben?“ Mein Blick wanderte zu dem elegant geschwungenen Geländer der langen Treppe. Schatten verschmolzen mit dem dunklen Holz und verliehen der Treppe ein Unheil verkündendes Aussehen. Deshalb bog ich lieber nach rechts ab und betrat durch einen breiten, bogenförmigen Wanddurchbruch ein großes, offenes Zimmer. Ohne die schweren Brokatvorhänge wäre es ein sonniges Zimmer gewesen. Mit dem großen Klavier und den antiken Sesseln und Sofas sah es wie ein Foto in einem Touristenprospekt oder einem Geschichtsbuch aus. Über dem Kamin hing in einem kunstvollen, ovalen Rahmen ein Ölporträt von einer jungen Frau in einem pfirsichfarbenen Satinkleid. Sie saß in einer unbequemen Haltung am Klavier. Vielleicht war sie das Mädchen auf dem Pony, das ich auf dem Foto im Flur gesehen hatte, aber das konnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen.
Die Schatten schienen mir zu folgen, als ich das Zimmer eilig wieder verließ. Je tiefer ich in das Haus vordrang, umso weniger ähnelte es dem offenen Raum bei der Treppe. Hier, im inneren Bereich, hatten sich die Sachen aus einem ganzen Leben angesammelt – fast könnte man meinen, aus mehreren Menschenleben. Das meiste sah so aus, als stünde es seit Jahren an derselben Stelle, als hätte jemand unzählige Male mit dem Frühjahrsputz begonnen, aber bald wieder aufgehört. In der Küche war das Geschirr gespült und stand ordentlich in einem Abtropfgitter, aber an den Wänden häuften sich Lebensmittel, von denen viele in großen Plastikbehältern verstaut waren. Ich stand staunend da und betrachtete eine Ansammlung von Einmachgläsern mit Gemüse aller Art, die wie ein bunter Wasserfall aus einer offenen Speisekammertür hervorquollen.
Eine Gänsehaut lief mir über die Arme, als ich den Rest des Erdgeschosses absuchte. Vielleicht war Jola doch nicht im Haus. Das Schlafzimmer mit dem Fensterklimagerät war leer, das Bett war ordentlich gemacht. Vielleicht war sie schon vor Tagen weggefahren oder in ein Pflegeheim gebracht worden und ich brach gerade unbefugt in ein leer stehendes Haus ein. Alice Faye Tucker hatte erwähnt, dass Jola einundneunzig war. Sie konnte die Treppe in den ersten Stock wahrscheinlich überhaupt nicht mehr hinaufsteigen.
Ich wollte dort nicht hinaufgehen. Aber ich setzte widerstrebend einen Fuß vor den anderen und blieb auf dem Treppenabsatz stehen, um noch einmal ihren Namen zu rufen, und dann noch einmal. Die alten Geländerpfosten und Bodendielen knarrten und ächzten und machten genug Lärm, um Tote zu wecken, aber niemand rührte sich.
Oben roch es nach trocknender Tapete, Moder, altem Stoff, Feuchtigkeit und einer Stille, die verriet, dass seit Jahren niemand mehr in diesen Räumen wohnte. Die Tische und Lampen auf dem mit Holzpaneelen verkleideten Flur waren mit einer grauen Staubschicht bedeckt. Ebenso wie die Möbel in den fünf Schlafzimmern, zwei Badezimmern, einem Nähzimmer mit einem großen alten Quiltrahmen in der Mitte und einem Kinderzimmer mit weißen Möbeln und einer eisernen Wiege. Sonderbar geformte Wasserflecken überzogen die Decken. Der Wasserschaden konnte noch nicht alt sein, da der Putz zwar gesprungen, aber noch nicht abgebröckelt war. Eine Ansammlung von Eimern stand in einem Kinderzimmer, in denen die Reste von schmutzigem Wasser und Putz langsam vertrockneten. Der Orkan im letzten Herbst hatte zweifellos mehrere Dachschindeln fortgerissen. Es war eine Schande, ein so schönes, altes Haus so verkommen zu lassen. Dieser Anblick hätte meinem Großvater im Herzen wehgetan. Als er für die Versicherung Gutachten von historischen Häusern erstellt hatte, war es immer sein Ziel gewesen, die Häuser zu retten.
Eine dünne Wasserspur zeichnete eine Linie entlang der Decke im Flur und führte zu einer kleinen Sitzecke zwischen mehreren Bücherregalen. Die Tür an der gegenüberliegenden Seite, die letzte am Ende des Flurs, war geschlossen. Ein schmaler Lichtschein spiegelte sich auf dem Holzboden unter der Tür. Jemand war erst vor Kurzem durch diese Tür gegangen und hatte auf der dicken Staubschicht auf dem Boden eine Spur hinterlassen.
„Mrs Poole? Jola? Ich will Sie nicht erschrecken …“
Ein Rascheln zwischen den ausgebleichten Samtvorhängen neben den Regalen ließ mich zusammenzucken. Mit stockendem Atem trat ich langsam näher.
Etwas Schwarzes tauchte hinter dem Vorhang auf und stürmte davon. Eine Katze. Mrs Poole hatte eine Katze. Wahrscheinlich den wilden, einohrigen Kater, den J. T. mit Milch auf unsere Veranda locken wollte. Ich hatte ihm gesagt, dass er damit aufhören solle – wir konnten uns die Milch nicht leisten –, aber ein Neunjähriger kann einem streunenden Kater nicht widerstehen. Ross hatte angeboten, eine Lebendfalle mitzubringen und den Kater zu fangen. Nur gut, dass ich ihm gesagt hatte, dass das nicht nötig sei! Wenn mein neuer Freund das Haustier meiner Vermieterin weggebracht hätte, wäre das der sicherste Weg gewesen, um aus unserem behaglichen, kleinen Haus geworfen zu werden. Besonders, da ich mit der Miete im Rückstand war.
Der gläserne Türknopf fühlte sich kalt an und der facettierte Schliff war überraschend scharf. „Ich komme jetzt hinein. Ja?“ Jeder Muskel meines Körpers spannte sich an und bereitete sich auf Kampf oder Flucht vor. „Ich bin es nur. Tandi Reese … aus dem Cottage. Ich hoffe, ich erschrecke Sie nicht, aber ich habe mir Sor–“ Der Rest des Wortes Sorgen blieb mir im Halse stecken. Ich drehte den Türgriff. Das Schloss klickte und die schwere Holztür ging so schwungvoll auf, als hätte jemand auf der anderen Seite daran gezogen. Der Türgriff schlug gegen die Wand und der Boden unter meinen Füßen vibrierte. Hinter mir zischte der Kater und raste dann die Treppe hinab.
Die Bilderrahmen an den hellblauen Wänden zitterten leicht und warfen Lichtkegel auf die Möbel. Hinter dem Mauervorsprung, den die Nische im Flur bildete, fiel mein Blick auf das Fußende eines kunstvoll gebauten Bettes. Die bebenden Bilderrahmen beruhigten sich wieder und das Licht hörte auf zu tanzen. Neben einem Bettpfosten berührte eine sauber gefaltete, blaue Quiltdecke den Boden und ein Paar Schuhe – feste Schuhe mit Gummisohlen, die Zoey mit dem Modesinn einer Vierzehnjährigen als Omaschuhe bezeichnen würde – standen am Rand eines ausgebleichten Perserteppichs, die Spitzen und Absätze ordentlich nebeneinander.
Die Füße, die zu diesen Schuhen gehörten, waren nicht weit weg. In dünnen, schwarzen Strümpfen lagen sie auf dem Bett, die gekrümmten Zehen leicht nach außen gebogen, in einer Haltung wie bei einem Mittagsschlaf.
Aber die Füße bewegten sich nicht, obwohl die Tür mit einem ohrenbetäubenden Schlag gegen die Wand gekracht war. Ich schmeckte die Galle von meinem letzten Essen. Dieser Lärm hätte jeden aus dem Schlaf gerissen.
Das Schlafzimmer lag still und schweigend da, als ich eintrat. Meine Schritte klangen laut und wirkten völlig fehl am Platz. Ich sagte nichts mehr und rief auch nicht mehr ihren Namen, um sie vorzuwarnen, dass ich eintreten würde. Obwohl ich ihr Gesicht nicht sah, wusste ich, dass das nicht nötig war.
Grausame Szenen aus Zoeys Horrorfilmen schossen mir durch den Kopf. Aber als ich widerstrebend um die Ecke schlich und mich zwang, mich ihr zuzuwenden, sah Jola Anne Poole friedlich aus – so, als hätte sie sich nur kurz zu einem Nickerchen aufs Bett gelegt und vergessen, wieder aufzustehen. Sie lag flach mit dem Rücken auf dem Bett, ein gebügeltes Baumwollkleid – weiß mit winzigen, blauen Blumenkörben – fiel über ihre langen, dünnen Beine und schien unter einer Quiltdecke, deren traditionelles Ringmuster in allen Farben des Himmels und des Meeres leuchtete, zu verschwinden. Ihre ledrigen, faltigen Arme lagen friedlich auf ihrem Bauch, die knorrigen Finger waren in einer Geste, die sowohl zufrieden als auch zuversichtlich wirkte, gefaltet. Sie war bereit gewesen. Die kalkig graue Farbe ihrer Haut verriet, dass sie kalt wäre, wenn ich sie berühren würde.
Ich berührte sie nicht. Stattdessen wandte ich mich ab und drückte eine Hand auf meinen Mund und meine Nase. Auch wenn die Tote aussah, als wäre sie sorgfältig aufgebahrt worden, um dieses friedliche Aussehen zu erreichen, gab es keine Anzeichen dafür, dass sonst jemand in diesem Zimmer gewesen wäre. Die einzigen Fußspuren auf dem staubigen Boden führten von der Tür zum Bett, vom Bett zu einem begehbaren Schrank hinter der Flurnische und am Fußende des Bettes vorbei zu einem kleinen Schreibtisch am Fenster. Sie war offenbar nicht sehr oft hier oben gewesen. Was hatte sie hier gemacht? Was war der Reiz dieses Erkerzimmers am Ende des Flurs mit seinen goldverzierten Wänden, die in einem vergilbten Cremeweiß und milchigem Blau gestrichen waren? Hatte sie gewusst, dass ihre letzte Stunde geschlagen hatte? Hatte sie in diesem Zimmer sterben wollen? Hatte sie hier gefunden werden wollen?
Hätte ich ihr helfen können, wenn ich früher nach ihr gesehen hätte?
Diese Fragen trieben mich aus dem Zimmer. Ich floh auf den Flur hinaus und rang keuchend nach Luft. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie lange sie schon hier lag oder ob sie gewusst hatte, dass der Tod nahte, ob sie Angst gehabt hatte oder in einem tiefen Frieden gestorben war.
Eigentlich wollte ich mit der ganzen Situation überhaupt nichts zu tun haben.
Aber eine Stunde später war ich wieder in dem Haus und schaute zu, wie zwei Polizisten in das blaue Zimmer marschierten. Der zweite Mann schien sich mehr für das Innere des Hauses zu interessieren als dafür, dass hier eine Frau gestorben war. Irgendwie erschien es mir falsch, die beiden mit der Toten allein zu lassen. Ich fühlte mich dafür verantwortlich, darauf zu achten, dass sie ihren sterblichen Überresten den nötigen Respekt zollten.
Ich wartete im Türrahmen des blauen Zimmers, wo die Wand bis auf die Füße in den schwarzen Strümpfen alles andere von der Toten verbarg, während die Männer vor dem Bett standen. Sie hatten mir schon viele Fragen gestellt, die ich nicht hatte beantworten können: Wie lange, glaubte ich, war sie schon tot? Wann hatte ich das letzte Mal mit ihr gesprochen? War sie krank gewesen?
Ich konnte ihnen nichts anderes sagen, als dass ich in dem kleinen Cottage vorne auf dem Grundstück wohnte. Ich sagte, dass ich es gemietet hätte, weil das besser klang. Der leitende Polizist war ein dünner, nüchterner Mann mit vielen Falten um den Mund. Offenbar runzelte er ständig die Stirn. Ihn schien das alles ziemlich kalt zu lassen. Er schaute mehrmals auf seine Uhr, als müsse er dringend weg.
„Na ja“, sagte er schließlich. Der Boden knarrte unter seinem Gewicht, was mir verriet, dass er sich über ihr Gesicht beugte. „Das sieht nach einer natürlichen Todesursache aus.“
Sein jüngerer Kollege lachte abfällig. „Was glaubst du denn, Jim? Sie muss um die Hundert gewesen sein. Ich weiß noch, dass meine Mutter die Altarblumen für die Kirche kaufen wollte, als mein Opa in Rente ging, damit sein Name im Kirchenblatt abgedruckt würde. Das ging aber nicht. Der Pastor hatte die Altarblumen schon bestellt. Zu Ehren von Jola Pooles Geburtstag. Sie war achtzig geworden. Ich ging damals noch zur Schule. Mama war deshalb ziemlich sauer, das kannst du mir glauben. Opa war vierzig Jahre lang Diakon in der Kirche von Fairhope gewesen und Mama wollte auf keinen Fall, dass er die Altarblumen mit so einer wie Jola Anne Poole teilen müsste. Unsere Familie hat geholfen, anstelle der alten Kapelle hier eine Kirche zu bauen. Jola hat nur Orgel gespielt, und dafür ließ sie sich bezahlen. Sie war nicht einmal Kirchenmitglied. Mama schimpfte, dass Jola ja unten in New Orleans, von wo ihre Leute gekommen waren, Altarblumen hätte zahlen können, wenn sie unbedingt welche zu ihrem Geburtstag haben wollte.“
Deputy Jim seufzte. „Frauen.“
Sein Kollege lachte wieder. „Du bist noch nicht lange auf Hatteras Island und weißt nicht, wie es hier läuft. Oben in Boston spielt so etwas vielleicht keine Rolle, aber in Fairhope spielt es eine sehr große Rolle. Glaub mir, wenn sie jemand anderen gefunden hätten, der die alte Orgel drüben in der Kirche hätte spielen können, hätten sie ihn sofort genommen. Egal, wen. Das ist einer der Gründe, warum sich meine Mutter vor ein paar Jahren so sehr für den neuen Musiklehrer an der Highschool in Buxton eingesetzt hat – er hat gesagt, dass er Orgel spielen kann. Die Frauen aus der Kirche waren überglücklich, als der Musiklehrer die Sonntagsgottesdienste übernahm und sie Jola Poole in die Wüste schicken konnten.“
„Wir sollten das Bestattungsunternehmen anrufen, Selmer. Sie können den Rest erledigen“, beendete Deputy Jim dieses Thema. „Der Fall sieht glasklar aus. Hat sie irgendwelche Angehörigen, die wir benachrichtigen müssen?“
„Keine, die wir ausfindig machen könnten. Das ist eine Büchse der Pandora, die du lieber nicht öffnen solltest, Jim.“
„Keine Angehörigen.“ Der ältere Mann zog die Worte in die Länge, woraus ich schloss, dass er sie offenbar notierte.
Eine große Traurigkeit legte sich wie eine schwere Wolldecke über mich. Die Luft wurde stickig und schwer. Mein Blick wanderte durch das blaue Zimmer zu den großen Fenstern des Erkerzimmers. Auf dem Verandagelände saß eine Felsentaube. Was hatte Jola Poole getan, dass sie so hatte sterben müssen? Allein in diesem großen Haus, in ihrem geblümten Kleid ordentlich auf ihrem Bett, schon eine ganze Weile tot, und niemanden schien das zu berühren? War ihr bewusst gewesen, dass ihr Leben so enden würde? Hatte sie sich diese Szene so vorgestellt, als sie sich auf das Bett gelegt und die Augen geschlossen hatte und das Leben aus ihrem Körper gewichen war?
Die Taube flatterte auf das Fenstersims und hüpfte darauf hin und her. Ihr Schatten bewegte sich über die graue Marmorfläche des Schreibtisches. Ein vergilbter Schuhkarton stand auf der Kante, der Deckel war nur halb geschlossen und etwas Goldenes hing über die Kante. Auf dem Fensterbrett waren mehrere Schleifen ausgebreitet. Als sich der Schatten der Taube erneut bewegte, fiel mir noch etwas anderes auf: Kleine Goldfunken glänzten im Staub auf dem Fensterbrett. Ich wollte das Zimmer betreten und einen genaueren Blick darauf werfen, aber dafür war keine Zeit. Die Polizisten kamen zur Tür.
Ich legte die Arme eng um mich und folgte den Männern die Treppe hinab und auf die Veranda hinaus. Erst als wir in der Einfahrt ankamen, warf ich einen Blick auf unser Cottage. Plötzlich zog sich mein Magen aus einem ganz anderen Grund zusammen. Jetzt, da Jola Poole tot war, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis Alice Faye Tucker käme und uns aus dem Haus werfen würde. Ich hatte nicht einmal mehr fünfzig Dollar. Und dieses Geld hatte ich auch nur, weil ich den letzten wertvollen Gegenstand, den ich besaß, verpfändet hatte: eine silberne Uhr, die mir Trammel geschenkt hatte. Die Uhr war nur versehentlich in meinem Koffer gewesen – ich hatte sie offenbar nach einer Fahrt zu einem Reitturnier darin vergessen. Damals waren die Zeiten besser gewesen. Wenn Trammel gewusst hätte, dass ich die Uhr noch hatte, hätte er sie mir zweifellos abgenommen, genauso wie alles andere, was von Wert war. Er hatte dafür gesorgt, dass ich nie so viel Geld hätte, dass ich ihn verlassen könnte.
Was sollten die Kinder und ich jetzt machen?
Je mehr der Nachmittag verging, umso drückender wurde diese Frage. Der Leichenwagen war erst wenige Minuten fort, als Zoey und J. T. aus der Schule nach Hause kamen. Ich sagte ihnen nicht, dass unsere neue Vermieterin gestorben war. Das würden sie noch früh genug erfahren. Mit seinen neun Jahren würde J. T. noch keinen Zusammenhang herstellen, aber Zoey mit ihren vierzehn Jahren und dem Verantwortungsgefühl einer Erwachsenen wüsste sofort, dass es eine Katastrophe bedeutete, wenn wir ausziehen müssten. Sobald wir auf dem Radar auftauchten – Kreditkartenzahlung in einem Motel, Bewerbung für eine Arbeitsstelle, für die Referenzen verlangt wurden, Bargeldabhebung bei einer Bank –, würde Trammel Clarke uns finden.
Um halb eins schlüpfte ich ratlos und erschöpft ins Bett. Ich hatte Schuldgefühle, weil ich zu den Kindern nicht ehrlich gewesen war, auch wenn das immer wieder vorkam. Draußen umspülte das Wasser das mit Riedgras bewachsene Ufer und der langsam aufgehende Hatteras-Mond tauchte über dem Dach von Jolas Haus auf. Wie eine Kugel Vanilleeis hing er über dem Erkerzimmer.
Wie konnte eine Frau, die ein solches Haus und Grundstück besaß, ganz allein in ihrem Zimmer sterben? Sie war aus der Welt geschieden, ohne dass eine Menschenseele um sie weinte.
Plötzlich sah ich Jola als junge Frau vor mir. Ich malte sie mir aus, wie sie in einem strahlend weißen Kleid über die Veranda schlenderte. Die Schatten des Mondes tanzten zwischen den Lebenseichen und den Weihrauchkiefern und ich hatte plötzlich das Gefühl, das alte Haus rufe mich und flüstere mir die Geheimnisse von Jola Anne Pooles langem, unbekanntem Leben zu.
Lisa Wingate
Lisa Wingate arbeitet als Journalistin, Kolumnistin, Rednerin und Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Texas.
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