Timber Ridge 1877: Nach dem Tod ihres Mannes kämpft Rachel Boyd nicht nur mit ihrem Vertrauen zu Gott, sondern auch darum, die Rinderfarm aus eigener Kraft weiterzuführen – für ihre beiden Söhne. Doch als in Timber Ridge der neue Arzt Dr. Rand Brookston mit revolutionären medizinischen Methoden von sich reden macht, wird Rachel mit den Wünschen ihres Herzens konfrontiert. Denn eigentlich träumt sie von etwas ganz anderem als Ställe auszumisten und Rinder auf die Weide zu treiben ...
Die spannende Geschichte einer starken Frau mit Charakter und besonderen Gaben.
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Kapitel 1
Timber Ridge, Colorado, Rocky Mountains
12. April 1877
Rachel Boyd stand regungslos im Mittelgang des Gemischtwarenladens und wusste, dass sie eigentlich nicht lauschen sollte. Aber ihr blieb keine andere Wahl. Da sie fürchtete, dass Ben und Lyda Mullins sie hörten, falls sie versuchte, eilig zu verschwinden, blieb sie mit dem Melasseglas in der Hand stehen, konnte sich aber trotzdem ein Kichern nicht verkneifen. Sie war die einzige Kundin im Laden und war dankbar, dass im Moment ein wenig Ruhe herrschte, bevor das Nachmittagsgeschäft einsetzte.
Das Liebesgeflüster hinter dem Vorhang amüsierte, überraschte sie aber auch ein wenig.
Ein leises Kichern. „Ben Mullins, was ist in dich gefahren? Es könnte jeden Augenblick jemand kommen.“
Ein tiefes Lachen. „Wer soll schon ins Lager kommen? Ich will doch nur einen kleinen Kuss. Komm zu mir, Frau, und lass mich …“
Rachel konnte das leise Murmeln, das folgte, nicht verstehen. Das brauchte sie auch nicht. Ihre Fantasie füllte die Lücke perfekt aus. Ungebeten übersprang ihr Gedächtnis die letzten zwei Jahre und Gefühle, die sie seit Thomas’ Tod tief vergraben, wenn auch nie vergessen hatte, erwachten langsam zu neuem Leben.
Mit ihnen kamen bittersüße Erinnerungen an die Zärtlichkeit, mit der sie von ihrem Mann geliebt worden war. Eine Sehnsucht, die lange geschlummert hatte, begann, sich in ihr zu regen. Doch sie wollte diese Sehnsucht nicht. Sie würde – und könnte – nie einen anderen Mann so lieben, wie sie Thomas geliebt hatte.
Nach seinem Tod hatte es Augenblicke gegeben, in denen sie nicht wusste, wie sie überleben sollte. Sie hatte sehr lange gebraucht, um ihren Weg aus diesem Nebel heraus zu finden, aus diesem tiefen, dunklen Ort, obwohl sie doch weiterleben musste – wenn vielleicht auch nur für ihre Jungen. Im Laufe der Zeit und mit der unablässigen Ermutigung durch ihre Familie und Freunde hatte sie schließlich wieder ins Sonnenlicht zurückgefunden.
Aber jemanden so vollständig zu lieben, sich einem Mann so bedingungslos hinzugeben, gab ihm die Macht, sie tiefer zu verletzen, als es sonst jemand konnte, selbst wenn das nicht seine Absicht war.
Und sie wollte nie wieder so verletzt werden. Nie wieder!
Mehr als einmal hatte man ihr nahegelegt, wieder zu heiraten, wenn auch vielleicht nur um der Jungen willen. Aber genauso wie sie ihr Herz kein zweites Mal verschenken wollte, würde sie nicht das Risiko eingehen, dass ihre Söhne einen solchen Schmerz wie den Tod ihres Vaters noch einmal erleiden müssten. Außerdem kamen sie, Mitchell und Kurt zu dritt gut zurecht.
Ihr angeschlagenes Selbstvertrauen erhielt einen unsanften Seitenhieb. Sie fuhr mit dem Finger über das Melasseglas in ihrer Hand. Gut war vielleicht nicht unbedingt die richtige Beschreibung, aber sie kamen so gut zurecht, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war. Sie strich mit der Hand über ihren Rock und schluckte die Welle von Gefühlen, die sie überrollen wollte, hinunter. Mühsam konzentrierte sie ihre Gedanken auf andere Dinge.
Die Schule war in einer Stunde aus und sie hatte vor, mit der Lehrerin über Kurt zu sprechen. Sie hatte keinen Termin und es war auch nicht ihr erstes Gespräch mit Miss Stafford wegen ihres jüngeren Sohnes. Sie wollte nur sicherstellen, dass alles gut lief und dass Kurt nicht schon wieder etwas angestellt hatte … so wie vor zwei Wochen, als er beim Toilettenhäuschen der Schule an einem Streich beteiligt gewesen war. Er war zwar nicht der Einzige gewesen, aber sie hatte den Verdacht, dass er die ganze Sache angezettelt hatte. Sie wand sich innerlich, als sie daran dachte, und versuchte, sich in Miss Staffords Lage zu versetzen. Judith Stafford war jung und unerfahren und brachte, soweit Rachel es beurteilen konnte, viel Geduld für Kurt auf. Der Vorfall musste für sie sehr peinlich gewesen sein. Kurt hatte eine schriftliche Entschuldigung verfasst und auch sie hatte Judith Stafford einen Brief geschrieben, in dem sie ihr Bedauern zum Ausdruck gebracht und sich bei der Lehrerin für ihr Verständnis bedankt hatte. Hoffentlich würde ein kurzer Besuch heute dafür sorgen, dass alles weiterhin in geordneten Bahnen verlief.
Wenn sie das erledigt hätte, wartete viel Arbeit auf der Ranch auf sie, ganz zu schweigen von dem Gespräch wegen der überfälligen Ratenzahlung. Mr Fossey, der Bankdirektor, war sehr nachsichtig, aber sie merkte, dass er allmählich die Geduld verlor.
Sie stellte das Melasseglas ins Regal zurück. Angesichts ihrer knappen Finanzen wäre es ein zu großer Luxus. Trotz allem, womit sie zu kämpfen hatte, war sie nach wie vor fest entschlossen, Thomas’ Traum für ihre zwei Söhne am Leben zu erhalten. Dieses Ziel trieb sie jeden Morgen aus dem Bett und begleitete sie durch jeden Tag, bis sie lange nach Einbruch der Dunkelheit erschöpft auf ihre Matratze sank. Und das Versprechen, das sie sich beide gegeben hatten: Mitchell und Kurt ein Erbe zu hinterlassen, ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen, als es die Jungen gehabt hätten, wenn sie und Thomas nach dem Krieg in Tennessee geblieben wären. Sie berührte die Schwielen auf ihrer Handfläche. Sie durfte die Ranch, für die Thomas so schwer gearbeitet hatte, auf keinen Fall verlieren. Denn sonst könnte sie ihren Söhnen kein „besseres Leben“ ermöglichen. Sie hatte am Grab ihres Mannes gestanden und den feierlichen Eid abgelegt, dafür zu sorgen, dass sein Traum – ihr gemeinsamer Traum – wahr werden würde. Sie war fest entschlossen, dieses Versprechen zu halten. Falls es Mr Fossey nach wie vor für vertretbar hielt, ihr einen Kredit zu gewähren.
Immer noch hörte Rachel, wie Ben und Lyda hinter dem blaugelbkarierten Volant-Vorhang flüsterten und sich offenbar küssten. Rachel errötete und bedauerte, dass sie den Laden nicht schon früher verlassen hatte. Sie ging zur Tür und hoffte, dass sie unbemerkt verschwinden konnte, ohne dass die Türangel quietschte. Trotz ihrer Schuldgefühle musste sie schmunzeln. Es tat gut zu wissen, dass Ben und Lyda auch nach über zwanzig Ehejahren noch so zärtliche Gefühle füreinander hegten.
„Ben?“
Als sie die große Besorgnis in Lydas Tonfall bemerkte, blieb Rachel mit der Hand auf dem Türgriff stehen.
„Ben, was …?“ Ein ersticktes Keuchen war aus dem Lagerraum zu hören. „Schatz, was ist mit dir? Ben …?“
Ein dumpfer Schlag.
„Ben!“
Rachel raste zum Vorhang, der den Laden vom hinteren Teil des Gebäudes abtrennte, blieb aber unmittelbar davor stehen. „Lyda, ich bin es. Rachel. Ist alles in Ordnung?“ Sie wartete ungeduldig. „Lyda?“
„Nein, es ist etwas mit Ben … Schatz, kannst du mich hören?“ Lydas Stimme war vor Angst ganz heiser. „Rachel! Ich … ich glaube, er atmet nicht mehr!“
Rachel schob schnell den Vorhang beiseite und eilte zum Lagerraum, wo sie abrupt stehen blieb.
Ben lag regungslos auf dem Boden. Die ganze Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Lyda kniete nahe neben ihm. Panik stand in ihrem Gesicht geschrieben.
Rachel drückte sich neben die beiden in den engen Raum. „Was ist passiert?“ Sie überprüfte Bens Puls, zuerst an der Unterseite seines Handgelenks, dann an seinem Hals.
Lyda standen Tränen in den Augen. Ihre Hände zitterten. „Wir haben uns …“ Sie wandte den Blick ab und in Rachel regten sich leichte Schuldgefühle. „Wir haben uns geküsst und einen Moment später griff sich Ben an den Arm.“ Panik schwang in ihrer Stimme mit. „Es sah aus, als bekäme er keine Luft, und dann …“ Sie biss sich auf die Unterlippe und konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. „Dann sackte er einfach zusammen.“
Rachel schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, einen Puls zu finden. Wenn sie nur das alte Stethoskop ihres Vaters hätte! „Hatte Ben so etwas schon früher?“
Lyda schüttelte den Kopf und rüttelte mit zitternder Hand leicht an der Schulter ihres Mannes. „Ben“, flüsterte sie, „kannst du mich hören?“
Rachel drückte die Fingerspitzen an die Unterseite seines Handgelenks und wartete. Da! Endlich fühlte sie etwas. Einen Pulsschlag. Dünn und schwach. Viel zu schwach. „Er braucht Dr. Brookston“, flüsterte sie. Sie berührte Bens Stirn und stellte fest, dass sie kühl und feucht war. „Ich gehe ihn holen. Du bleibst hier.“
Lyda ergriff ihre Hand. „Du weißt, was er hat.“
Es war keine Frage, eher eine Feststellung. Rachel gab ihr keine Antwort. Bevor Timber Ridge einen eigenen Arzt bekommen hatte, hatte sie den Frauen der Stadt als Hebamme geholfen. Sie hatte auch Verletzungen versorgt und jede Menge Wunden genäht. Seit Dr. Brookston hier war, holte sie kaum noch jemand, höchstens vielleicht hin und wieder eine schwangere Frau, aber sie wusste trotzdem mit ziemlich großer Sicherheit, was Ben hatte. Sie würde ihre Diagnose jedoch nicht laut aussprechen. Damit würde sie Lydas Sorgen nur noch verstärken. Sie könnte mit ihrer Vermutung ja auch falschliegen. Schließlich war sie keine studierte Ärztin. Das Medizinstudium war etwas für Männer und nicht für Frauen.
„Lyda, wichtig ist im Moment nur, dass Ben atmet und ich einen Puls ertastet habe. Du darfst ihn auf keinen Fall bewegen. Falls er zu sich kommt, solange ich fort bin, musst du dafür sorgen, dass er nicht versucht aufzustehen. Das ist sehr wichtig.“ Sie holte ein Handtuch aus dem Regal, rollte es zusammen und schob es vorsichtig unter Bens Kopf. „Achte darauf, dass sein Kopf erhöht liegt, bis ich mit Dr. Brookston zurückkomme.“ Sie stand auf.
Lyda schaute mit Tränen in den Augen zu ihr hinauf. „Wird er … wieder gesund?“
Rachel kniete erneut nieder, selbst den Tränen nahe. Ben Mullins war mit seinen neunundvierzig Jahren fast zwanzig Jahre älter als sie. Lyda war zehn Jahre älter als Rachel. In den letzten Jahren waren die beiden fast wie Eltern für sie geworden. Ben behandelte sie, wie sie es sich von einem Vater wünschen würde, und war für ihre Söhne wie ein Onkel. Lyda war eine treue Freundin, der sie alles anvertrauen konnte, und behandelte ihre Jungen wie eine liebe Tante. Dazu gehörte, dass sie ihnen im Gottesdienst manchmal heimlich Bonbons zugesteckt hatte, als sie noch jünger gewesen waren, und manchmal auch jetzt noch. Rachel konnte sich jetzt nicht überwinden, Lydas Frage zu beantworten.
Sie zwang sich zu einem Lächeln, nach dem ihr ganz und gar nicht zumute war. „Hast du gehört? Ben darf sich nicht bewegen und sein Kopf muss höher liegen.“
Ein Schatten zog über Lydas Gesicht, der verriet, dass sie begriff, was Rachel nicht laut aussprach. „Ja“, flüsterte sie heiser und nickte. „Das habe ich verstanden. Es ist nur …“ Sie atmete stockend ein. „Rachel, er ist alles, was ich noch habe. Ich kann ihn nicht auch noch verlieren.“
Eine entsetzliche, erstickende Welle der Trauer überrollte Rachel. Aber dieses Mal hatte der Schmerz, der an ihrem Herzen zehrte, nichts mit ihren Erinnerungen an Thomas zu tun. Sie ergriff Lydas Hand und drückte sie fest. Ihre Gedanken wanderten zu einer bitterkalten Winternacht vor acht Jahren zurück. Über diese Nacht hatten sie und Lyda seitdem nur sehr selten gesprochen.
Sie atmete schwer ein und bemühte sich um eine beherrschte Stimme, obwohl sie vor ihrem inneren Auge wieder die Gesichter von Bens und Lydas Kindern sah, die selbst im Tod noch so friedlich und lieb ausgesehen hatten. Sie drückte die Augen zu, aber die quälenden Bilder blieben. „Ich hole Dr. Brookston. Er wird wissen, was zu tun ist. Ich verspreche dir, dass ich nicht lange fortbleibe.“
Lyda nickte und ihre Miene sprach aus, was ihre Worte nicht sagen konnten. „Danke, Rachel. Und bitte … beeil dich.“
Rachel lief die kurze Strecke zur Arztpraxis und trat ein, ohne anzuklopfen. Angelo Giordano stand mit einem Stößel und Mörser in der Hand an einem Tisch. „Angelo …“ Sie rang nach Atem und die kalte Bergluft brannte in ihrer Lunge. „Ist Dr. Brookston da?“
Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Der Doktor … Er ist …“ Er senkte den Kopf. „Er ist nicht da, Mrs Boyd.“ Obwohl sein italienischer Akzent nicht zu überhören war und er langsam sprach, war Angelo Giordanos Grammatik fehlerlos. „Aber wenn ich … Ihnen vielleicht helfen kann …“
„Ich brauche Dr. Brookston, Angelo! Ich glaube, Ben Mullins hatte einen Herzinfarkt.“
Die dunklen Augen des Jungen wurden vor Entsetzen ganz groß.
Rachel eilte zu einem Regal mit Flaschen und Metalldosen, die alle ordentlich beschriftet waren. Aber das Regal bot nicht genug Platz und zahlreiche Behälter standen eingestaubt auf dem Holzboden. Sie überflog die Etiketten, aber da das Licht sehr schwach war und die Behälter so eng nebeneinanderstanden, war es eine Herausforderung, sie zu entziffern. Sie atmete schwer aus. Konnte sich Dr. Brookston denn keinen richtigen Medikamentenschrank leisten? „Weißt du, ob Dr. Brookston Fingerhut hier hat? Das ist eine Pflanze, eine Heilpflanze. Sie wird Patienten mit Herzbeschwerden verabreicht.“
„Keine Ahnung, Ma’am“, sagte Angelo und half ihr bei der Suche.
Rachel schob eine Dose beiseite, um das Etikett auf der Dose, die dahinter stand, zu lesen. Dabei rutschte eine Flasche Laudanum aus dem Regal. Sie versuchte, sie aufzufangen, aber die Flasche landete krachend auf dem Boden und zerbrach. Laudanum und Glasscherben spritzten in alle Richtungen. Sie schluckte ein Schimpfwort hinunter. „Entschuldigung, Angelo. Ich wollte nicht …“
„Dr. Brookston wird deshalb nicht schimpfen.“ Der Junge nahm einen Lappen. „Ich wische es weg.“
Mit wachsender Panik erblickte Rachel zwei Holzkisten in der Ecke, aber darin befanden sich nur Flaschen mit Lampenöl. Genug für ein ganzes Jahr! Wozu brauchte jemand so viel Öl? Eine ungeöffnete Kiste auf dem Untersuchungstisch erregte ihre Aufmerksamkeit.
Angelo deutete darauf. „Das sind neue Medikamente. Sie sind heute eingetroffen. Deshalb bin ich hier. Vielleicht sollte ich …“
Sie nickte, bevor er seinen Satz beendete. „Ja. Geh diese Kiste durch. Bitte mach das so schnell wie möglich, Angelo. Und suche nach einem Medikament, auf dem eines dieser Wörter steht.“ Sie nahm den Füller und ein Blatt Papier von Dr. Brookstons Schreibtisch und schrieb die Wörter darauf. Nachdem sie Dr. Rand Brookston im letzten Herbst assistiert hatte, wusste sie aus eigener Erfahrung, dass er ein hervorragender Arzt war. Sie hoffte nur, dass er bei der Beschaffung seiner Medikamente genauso gewissenhaft war.
Sie drückte Angelo das Papier in die Hand. „Hast du eine Ahnung, wo Dr. Brookston sein könnte? Wen er besuchen wollte?“
Angelo blinzelte und senkte den Blick.
„Angelo, bitte! Wir haben nicht viel Zeit!“
Der junge Mann verzog das Gesicht und erwiderte nur widerstrebend ihren Blick. „Er hat gesagt, dass er zu … Miss Bailey fahren wollte.“
Rachel runzelte verwirrt die Stirn. „Miss Bailey?“
Er nickte kurz. „Diese Frau hat ein Haus drüben in …“
„Ich weiß, wo Miss Baileys Haus ist.“
Angelo schluckte hörbar. „Der Herr Doktor … besucht manchmal die … Mieterinnen, die dort wohnen.“
Die Falten auf Rachels Stirn vertieften sich. Als Mieterinnen würde sie die Frauen, die unter Miss Baileys Dach wohnten, nicht unbedingt bezeichnen. Aber sie brauchte Dr. Brookston, und wenn er dort war – aus welchem Grund auch immer –, müsste sie zu Miss Bailey laufen. „Sobald du ein Medikament findest, auf dem einer dieser Namen steht, die ich dir aufgeschrieben habe, musst du es bitte so schnell wie möglich in die Gemischtwarenhandlung bringen, in den Lagerraum hinter dem Laden. Würdest du das machen?“
Angelo nickte und blähte seinen Brustkorb leicht auf. „Ja, Mrs Boyd. Wenn das, was Sie aufgeschrieben haben, in dieser Kiste ist, finde ich es. Und bringe es Ihnen.“
Sie dankte ihm, eilte zur Tür hinaus und rannte den Gehweg entlang.
Die Aprilluft war kalt und brannte in ihrer Lunge. Es würde bald wieder schneien. Rachel zog ihr Wintertuch enger um ihre Schultern und wünschte, sie hätte ihren Mantel nicht im Laden gelassen. Ein Windstoß wirbelte den frisch gefallenen Schnee auf den Dächern auf und ließ ihn nach unten tanzen.
Der Winter würde sich frühestens in einem Monat aus den Rocky Mountains verabschieden, vielleicht auch erst in zwei Monaten, und sie betete, dass die Kälte sie nicht noch mehr Vieh kosten würde, als sie ohnehin schon verloren hatte, oder die Kälber, die jeden Tag zur Welt kommen müssten. Besonders das Kalb von Lady. Sie hatte Lady vor einem Jahr gekauft. Ihre erste größere Investition für die Ranch, die ausnahmsweise eine gute Entscheidung gewesen war.
Sie bog in die nächste Straße ein. Zum Glück waren auf dem Gehweg nicht viele Leute unterwegs.
Die Schule war noch nicht aus, aber der Unterricht würde nicht mehr lange dauern. Und sie wäre nicht da, um ihre Jungen abzuholen und mit ihrer Lehrerin zu sprechen. Sie wusste, dass Mitchell und Kurt zu James ins Sheriffbüro gehen würden, wenn sie nicht da war, und dort auf sie warteten. Die beiden liebten ihren Onkel James und beklagten sich nie darüber, dass sie zu ihm ins Büro gehen mussten, aber Rachel gefiel nicht, was sie dort sahen und hörten. Trotzdem ließ es sich an manchen Tagen einfach nicht vermeiden.
Erst seit letztem Herbst erlaubte sie Mitch und Kurt wieder, allein zur Schule zu gehen. Sie begleitete sie immer noch jeden Morgen bis zu Bens und Lydas Laden, da ihr beim Gedanken, dass sie die ganze Strecke von der Ranch in den Ort zu Fuß zurücklegten, immer noch nicht wohl war. Nach dem, was mit Thomas passiert war, und den Berichten, dass in letzter Zeit Pumas gesichtet worden waren, erschien ihr das einfach zu gefährlich.
Obwohl sie schon vollkommen außer Puste war und ihr Atem in weißen Dampfwolken aufstieg, bemühte sie sich, so schnell wie möglich weiterzulaufen. Die schneebedeckten Berggipfel thronten hoch über Timber Ridge und lenkten ihren Blick nach oben, während sie die Gedanken an Ben nicht losließen und ihr Pulsschlag laut in ihren Ohren hämmerte.
Wenn doch nur Bens Herzschlag kräftiger wäre!
Falls Ben schon früher Herzprobleme gehabt hatte, so war das zumindest nie von ihm erwähnt worden. Und auch Lyda hatte nie ein Wort darüber verloren. Rachel war sich sicher, dass sie etwas gesagt hätte, da sie sehr gute Freundinnen waren.
Sie bog an der nächsten Kreuzung links ab und betrat einen Teil der Stadt, den sie normalerweise nie besuchte. Saloons und Spielhallen säumten die Hauptstraße. Selbst jetzt am frühen Nachmittag lag der Geruch nach Alkohol beißend in der Luft. Sie erblickte Miss Baileys Etablissement am Ende der Straße und steuerte geradewegs darauf zu. Sie konnte nicht sagen, woher sie wusste, welches Gebäude es war. Es war einfach eines dieser Häuser, über die jeder in der Stadt Bescheid wusste, obwohl die meisten – wenigstens in ihrem Bekanntenkreis – nie ein Wort darüber verloren.
Zwei Frauen lehnten am Geländer der Veranda, die rund um das Haus herumführte, und unterhielten sich. Ihre Kleidung war für die Kälte äußerst unpassend und hätte Rachel wahrscheinlich schockiert, wenn sie nicht schon über ihren Beruf Bescheid gewusst hätte. Sie eilte die Verandastufen hinauf und ihr Unbehagen, weil sie einen solchen Ort betreten musste, verblasste ob ihrer Sorge um Ben. Sie wollte an den Frauen vorbeilaufen, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. „Ich suche Dr. Brookston. Es ist ein Not…“
Die Frau links von ihr, eine Blondine, stellte sich ihr rasch in den Weg und blockierte die Tür.
Rachel blieb abrupt stehen.
„Sie meinen Rand?“, sagte die Frau und musterte sie mit einem unfreundlichen Blick von Kopf bis Fuß. „So nennen wir ihn hier.“ Sie verschränkte die Arme vor ihrem allzu großzügigen Ausschnitt. „Er ist drinnen und besucht ein Mädchen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jetzt gestört werden will.“ Sie lachte rau. „Patricia wäre davon bestimmt nicht begeistert. Sie wartet schon die ganze Woche auf seinen Besuch.“ Sie zwinkerte der Frau, die neben ihr stand, vielsagend zu.
„Er besucht ein Mädchen.“ Rachel konnte Menschen ziemlich gut durchschauen und wusste, wenn man sie anlog. Es störte sie nicht, dass sich Dr. Brookston um die Gesundheit dieser Frauen kümmerte. Ihr Vater war Arzt gewesen und sie respektierte den ärztlichen Eid, Kranke ohne Ansehen der Person oder der Umstände zu versorgen. Aber dass Dr. Brookston hierherkam, an diesen Ort, und dass er mit diesen Frauen offenbar so vertraut war … Ein solches Verhalten zeugte von Arroganz. Von einer Arroganz, die ihr bei Männern seines Berufes nur allzu bekannt war.
Eine Arroganz, die einem leicht zum Verhängnis werden konnte.
„Egal, ob es ihm gefällt oder nicht …“ Rachel warf die Schultern zurück und wurde bei der Erinnerung an Lyda und Ben kühner. „Dr. Brookston muss seinen Besuch hier leider unterbrechen.“ Sie drängte sich an der Frau vorbei und riss sich los, als die Blondine sie am Arm festhalten wollte. Sobald sie im Haus war, schloss sie schnell die Tür hinter sich und schob den Riegel vor, obwohl sie wusste, dass sie damit nicht viel Zeit gewinnen würde.
Die Frauen hämmerten an die Glasscheibe der Tür und riefen Rachel Schimpfworte hinterher. Das Gebäude hatte sicher noch eine Hintertür und Rachel wusste, dass sie das Unausweichliche nur hinauszögerte, aber es verschaffte ihr zumindest einen kleinen Vorsprung, um den Doktor zu finden.
Der übelkeiterregende, süßliche Duft von Parfum schlug ihr entgegen. Und der Gestank von abgestandenem Alkohol. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten.
Aus dem ersten Stockwerk drang ein Lachen nach unten, das ihr verriet, wo sie mit ihrer Suche beginnen musste. Sie eilte die Wendeltreppe hinauf. Der grellrote Teppich dämpfte das Klappern ihrer Stiefelschritte. Überdimensionale Ölgemälde, die für die Dienste, die in diesem Haus feilgeboten wurden, warben, säumten die Wände. Rachel konnte die belastenden Erinnerungen, die dieser Ort in ihr weckte, nicht aussperren. Natürlich war sie noch nie zuvor in einem Bordell gewesen.
Aber ihr Vater. Sehr oft. Bei vielen Frauen. Viele Jahre lang.
Zum hundertsten Mal fragte sie sich, warum sich Ärzte für stärker hielten, als sie waren, warum sie sich charakterlichen Schwächen gegenüber immun glaubten und dachten, sie würden Versuchungen nicht so leicht erliegen wie andere. Rachel jedoch wusste aus schmerzlicher Erfahrung, dass das oft nicht der Fall war.
Sie erreichte den ersten Stock und hörte raue Männerstimmen aus den Zimmern schallen, die sich mit einem hohen weiblichen Lachen vermischten. Sie ließ ihren Blick durch den langen Flur wandern. So viele Türen! Und alle waren geschlossen.
Unten ertönten eilige Schritte. „Sie muss oben sein!“
Da ihr die Zeit davonlief, klopfte Rachel schnell an die erste Tür.
Tamera Alexander
Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.
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