Der Krieg ist vorbei und Deutschland liegt in Trümmern, als die kleine Eva-Maria Mönnig in Berlin das Licht der Welt erblickt. Leidenschaftlich diskutiert die einflussreiche Verwandtschaft die Frage, ob dieses Kind das Talent der Großmutter geerbt hat und eine berühmte Opernsängerin wird oder ob es eher nach der Großtante kommt, die einen Verlag für Modepublikationen besitzt.
Doch es kommt ganz anders: Nach einer Ausbildung zur Grafikerin vernimmt Eva-Maria während einer Autofahrt die Stimme Gottes. Er beruft sie in seinen Dienst und mit einem Mal sind alle Pläne hinfällig. Voller Eifer stellt sie sich der Herausforderung – auch wenn sie noch gar keinen persönlichen Bezug zu diesem Gott hat ...
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Vorbemerkung des Autors
Eine Romanbiografie über einen lebenden Menschen zu schreiben ist ein gleichermaßen gewagtes wie schwieriges Unterfangen. Die Hauptperson der Erzählung und ihr Leben sind „überprüfbar“. Das erfordert einen sensiblen Umgang mit der Person und ihrer Zeit. Das erzwingt die Rücksichtnahme auf ebenfalls noch lebende Menschen an der Seite und im näheren und weiteren Umfeld des Protagonisten, das drängt zu einer Auswahl der Beziehungen und Ereignisse und ihren jeweiligen Verknüpfungen, in die der Mensch im Mittelpunkt des Geschehens verwoben war und ist. Dazu braucht es ebenfalls höchste Sensibilität.
Nicht jeder Mensch und jeder Ort möchte in die Erzählung aufgenommen werden. Genauso wenig kann jedes wesentliche Geschehen berücksichtigt werden, so wichtig, spannend und interessant das auch gewesen wäre. Verfremdungen, die dem Romanbiografen erlaubt wären, sind keine Lösung des Problems, zumal sie für Menschen aus dem direkten Umfeld der Hauptperson immer noch deutbar wären.
Aus diesen Gründen habe ich mich in meiner Erzählung des Lebens der Diakonisse Sr. Eva-Maria Mönnig dazu entschlossen, ihren Kampf um den eigenen Glauben und seine Bewährung im persönlichen und dienstlichen Bereich als roten Faden der Erzählung aufzunehmen. Dass die Ursachen und der Hintergrund dieses Kampfes zunächst dargestellt werden mussten, versteht sich. Deshalb der „frühe“ Einstieg in die Geschichte.
Die eigentliche Arbeit der Diakonisse an ihren einzelnen in sich sehr verschiedenen Einsatzorten in seinem möglichen Umfang zu erzählen, hätte den Rahmen dieser Romanbiografie bei Weitem gesprengt. Zudem hätte die Gefahr bestanden, die handelnde Person und ihre „Arbeits-Erfolge“ zu glorifizieren und damit letztlich Menschen die Ehre zu geben, steht sie doch selbst in der Gefahr, im Rückblick auf Erlebtes und Getanes durch eine getönte Brille zu schauen. Das darf und soll aber nicht die Absicht dieser Romanbiografie sein. Die Ehre gehört allein Gott!
Originales kann man übrigens von Sr. Eva-Maria Mönnig selbst nachlesen in Hermann Findeisen / Gisela Staib (Hg.): „Leben ungeschminkt – Diakonissen erzählen“, Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH, Marburg / 2. Auflage 2009, Seiten 25ff.
Prolog
Dieses Buch erzählt eine erstaunliche Geschichte. Da ist eine junge Frau, Gisela Mallin, im Jahr 1922 hineingeboren in eine tief anthroposophisch geprägte Berliner Familie, die mitten im Zweiten Weltkrieg mit vielen anderen jungen Frauen von der Führung des RAD, des nationalsozialistischen Reichsarbeitsdienstes, ins Umland von Vandsburg in Westpreußen geschickt wird. Dort leistet sie mit großer Begeisterung ihren Beitrag zur „Unterstützung bei der Resozialisation“ neu angesiedelter volksdeutscher Bauern, indem sie ihre ganze Persönlichkeit als junge deutsche Frau mit begonnener Ausbildung zur Krankenschwester einbringt in die Aufgaben einer tüchtigen Landhelferin. Das Ganze allerdings durchaus im Widerspruch zu den Lebenspositionen, die ihre Eltern vertreten und die sie selbst bereits ein Stück weit verinnerlicht hat.
Über eine ihrer „volksdeutschen Arbeitgeber-Familien“ – fromme Bauersleute aus Wolhynien – bekommt sie Kontakt zum Gemeinschafts-Schwesternhaus in der Stadt Vandsburg, das zum pietistisch ausgerichteten Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverband, dem DGD, mit Sitz in Marburg gehört. Fortan besucht sie die frommen Veranstaltungen dieses Hauses, wann immer sie die Gelegenheit dazu hat. Dabei spürt sie die besondere Atmosphäre dieser Einrichtung, die so ganz anders ist, als ihr eigener anthroposophischer Hintergrund sie hergibt, und noch einmal anders, als die nationalsozialistische Ideologie sie ermöglicht. Die junge Frau hört aus den Bibelarbeiten und Predigten im Schwesternhaus je länger desto nachdrücklicher die Stimme des allmächtigen Gottes und des Gottessohnes Jesus, die sie zum Glauben und in die Nachfolge ruft. Gisela Mallin folgt dieser Stimme, bekehrt sich und knüpft fortan enge Bande an und in die Vandsburger Schwesternschaft. Tief in ihrem Inneren entwickelt sie dabei den intensiven Wunsch, eines Tages selbst Diakonisse zu werden, um wie diese Vandsburger Frauen in einem Leben im schlichten Diakonissenkleid und unter der weißen Haube ihrem neuen Herrn zu dienen.
Mit ihrer Hinwendung zum christlichen Glauben verliert für Gisela Mallin alles anthroposophische Denken und alles Nationalsozialistische seine bisherige Bedeutung. Von Christus ergriffen ist – wie es dem Zeugnis des Neuen Testaments entspricht – Neues in ihr geworden, das sich seinen Weg sucht.
Als sie nach ihrer freiwillig verlängerten Dienstzeit als gläubiger Christenmensch im Herbst 1944 ins umkämpfte Berlin zurückkehrt und sich ihren Eltern entsprechend offenbart, trifft sie – wie erwartet – auf heftigsten Widerspruch. Ihre Eltern setzen Gisela Mallin unter starken Druck: Dass sie dem Nazi-Denken abgeschworen habe, sei in Ordnung. Das werde sich ohnehin demnächst in Rauch und Asche und in größtem Leid und vielen Tränen auflösen. Ihr neuer christlicher Glaube aber sei schlimmster Verrat an der anthroposophischen Sache, und die Vorstellung, einmal die Tracht einer Diakonisse zu tragen, solle sie sich schnellstens aus dem Kopf schlagen, wenn sie denn die Tochter ihrer Eltern bleiben wolle.
Die häufigen heftigen Diskussionen um dieses Thema und die Kontakte der jungen Frau zum Berliner Diakonissen-Mutterhaus Salem führen schließlich zum Zerwürfnis zwischen Gisela Mallin und ihren Eltern. Diese untersagen ihrer Tochter die Verbindung zu den Salem-Schwestern und schicken sie nach Wittenberg, damit sie dort ihre unterbrochene Ausbildung zur Krankenschwester wieder aufnimmt. Die junge Frau fügt sich nur widerstrebend. Aber sie tut es um ihres eigenen inneren Friedens willen und auch deshalb, weil sie damit den ständigen heftigen Rückholversuchen der Eltern in den Schoß der Lehre Rudolf Steiners entgehen kann. Den völligen Bruch mit den Eltern will Gisela Mallin aber doch nicht riskieren. Das konnte wohl auch nicht Gottes Wille sein. Deshalb vergräbt sie den Wunsch, Diakonisse zu werden, in die tiefsten Tiefen ihres Gemüts. Dort mochte er ruhen, bis vielleicht irgendwann ...
Als der jungen Frau in Wittenberg nach Ende des Krieges der junge Ingenieur Oskar Mönnig begegnet – russischen Häschern entkommen –, die beiden sich ineinander verlieben und bald ihre Bestimmung füreinander erkennen, bekommt der Wunsch, „unter die Haube“ zu kommen, für Gisela Mallin plötzlich ein neues Gesicht. Diese ganz andere „Haube“ auf dem ondulierten dunklen Haar der Berlinerin verdrängt die weiße gestärkte unter dem Kinn mit einer großen Schleife gebundene Diakonissenhaube mehr und mehr aus dem Bewusstsein. Schließlich bleibt sie nicht einmal mehr als Wunschbild vor Augen.
Gisela Mallin zieht wieder zurück nach Berlin, weil dort ihr künftiger Ehemann eine Arbeitsstelle gefunden hat. Die
anthroposophischen Eltern reichen ihrer christlichen Tochter die Hand zur Versöhnung und bieten den jungen Leuten, die im Sommer 1945 heiraten, eine Etage ihres von den Bomben des Krieges verschonten Hauses in Alt-Reinickendorf zur Wohnung an.
Als Gisela Mönnig ein Jahr später in einer Berliner Entbindungsklinik einer Miechowitzer Diakonisse begegnet, kommen alte Erinnerungen in ihr hoch ...
Eintritt ins Leben
„Oskar! – Oskar!“ Laut und dringend schallte der Ruf der jungen Frau nach ihrem Mann durch die Nachmittags-stille im Haus Hinter der Dorfaue 18 im ländlichen Berliner Stadtteil Reinickendorf. Keine Reaktion von irgendwoher.
„Oskaaar!“ Was machte der Mann nur wieder, dass er den Ruf seiner Liebsten nicht beantwortete? Er hatte sich wohl auch an diesem heißen Sommersonntag wie so häufig in den vergangenen Tagen in irgendwelche elektrotechnischen Papiere vertieft, sodass er seine Umwelt schier nicht mehr wahrnahm. Das passierte immer wieder, seit der junge Ehemann eine Anstellung bei der Firma Siemens gefunden hatte. Dieses weltweit bekannte Traditionsunternehmen hatte einige Monate nach Kriegsende in einem maroden Ruinengebäude in Siemensstadt im Osten des Bezirks Spandau die Arbeit wieder aufgenommen und hatte dort in einer neu formierten Arbeitsgruppe mehrere junge Elektroingenieure mit der kniffligen Aufgabe des Baus von Gasgeneratoren betraut. Diese Materie war Oskar Mönnig neu, und er musste sich intensiv in sie hineinarbeiten, damit er den Aufgaben seines Arbeitsplatzes gerecht werden konnte. Aus solchen Vertiefungen in seine Unterlagen war der fünfundzwanzigjährige Elektroingenieur nur schwer herauszuholen. Er schien dann immer wie versunken in einer fernen Welt.
Gisela Mönnig, ein Jahr jünger als ihr Liebster und seit einem guten Jahr mit Oskar verheiratet, versuchte es auf die energische Art: „Oskar August Wilhelm Mönnig!“, rief sie, so laut sie konnte. Auf diesen besonderen Anruf reagierte der junge Mann dann auch sofort. Er hatte inzwischen nämlich gelernt: Wenn seine Frau in der Anrede alle seine Vornamen verwendete, dann hatte das besondere Bedeutung, und der Anlass war dringend.
„Ich komme ja schon, Liebes!“, kam es sofort aus dem Arbeitszimmer vom anderen Ende der Wohnung zurück. „Ich muss nur noch erst ...“
„Du musst nichts mehr erst, Oskar. Du musst nur einfach kommen! Ich brauche dich unbedingt!“ Die Stimme der jungen Frau klang jetzt weniger energisch, dafür aber umso dringlicher.
Momente später stand Oskar seiner Frau gegenüber: „Was ist los ...? Geht es los? Ist es so weit?“
Seine Gisela hielt sich mit beiden Händen ihren Bauch und verzog ihr hübsches Gesicht, wie man das bei einem intensiven Schmerz tut. „Ich glaube, Oskar, du musst mich ins Stift bringen. Ich will das Kind nicht hier zu Hause kriegen.“
„Du glaubst wirklich ...?“, äußerte der werdende Vater einen vorsichtigen Zweifel.
„Ich bin mir sicher, mein Lieber“, bestätigte Gisela ihren Eindruck. „Die Wehen kommen schon alle zehn Minuten. Und bis zum Stift brauchen wir eine Weile.“
„Und wie kommen wir drei dahin, ich meine, wir zwei mit dem Kind? Soll ich ein Taxi oder eine Droschke besorgen?“
„Wie denn, Oskar, und woher denn?“, wies die Frau diesen Gedanken zurück. „Hierher hinter die Dorfaue verirrt sich kein Taxi und keine Droschke, die du einfach anhalten könntest. Und telefonieren geht ja wohl nicht ohne einen solchen Apparat.“
„Also, was dann?“ Oskar schien die Situation stark zu überfordern.
Gisela fasste sich wieder an den Bauch und hielt für ein paar Momente die Luft an. Dann atmete sie deutlich hörbar aus. „Ich glaube, es ist wieder vorbei. Aber wir sollten uns trotzdem auf den Weg machen. Wir müssen die paar Kilometer bis zum Stift wohl laufen.“
„Und wenn unterwegs ... oder wenn du mir schlapp machst?“, sorgte sich Oskar.
„Nehmen wir doch den Handwagen mit, mein Lieber. Wenn es mit dem Laufen nicht mehr geht, setz ich mich rein, und dann ziehst du mich.“
„... und mache mich vor den Leuten zum Affen, meine liebe Gisela“, wehrte sich der Mann gegen diesen Vorschlag.
„Doch nicht zum Affen, Oskar August Wilhelm, aber zum Zugtier. Du sollst mich doch nicht lausen“, korrigierte die junge Frau ihren Mann, lächelte für einen Moment dabei und setzte dann rasch wieder ein ernstes Gesicht auf.
Sofort wusste Oskar, dass er nicht weiter reden durfte, sondern handeln musste. „Gut“, willigte er ein, „für meine geliebte Ehegattin und für mein kommendes Kind tue ich alles. Da spiele ich auch den Ochsen oder den Esel.“
„Ochse oder Esel? Nicht schlecht“, bemerkte Gisela und lächelte dabei bedeutungsvoll. „Da haben schon mal ein Ochse und ein Esel eine Rolle gespielt bei der Geburt eines Kindes.“
„Aber nicht mitten im Jahr, meine Liebe“, gab Oskar ebenfalls lächelnd zurück. „Und wahrscheinlich auch nicht an einem sommerlichen Sonntagnachmittag. Außerdem waren das zwei Viecher, die der Legende nach im kalten Winter still staunend in ihrem warmen Stall standen; und ich bin nur einer, der das Zugtier für einen Handwagen geben soll.“
„Hast recht, du werdender Vater“, gestand Gisela. „Also weder Ochs noch Esel. Sag ich dafür: edles starkes Pferd. Von mir aus Hannoveraner oder Lipizzaner oder so ähnlich. Und jetzt mach dich fertig für unseren Weg. Wir brauchen fast eine Stunde bis zum Paul-Gerhardt-Stift.“
„Und schaffen wir das noch?“, sorgte sich Oskar.
Seine Gisela beruhigte ihn: „Nur wenn wir uns endlich auf den Weg machen. Hilf mir bitte aus dem Sessel.“
Oskar Mönnig half seiner Frau aufzustehen und gab ihr dabei einen Kuss auf die Stirn. Dann ging Gisela hinüber ins Schlafzimmer, griff nach ihrem leichten Sommermantel und dem kleinen Hut, die schon bereitlagen, während ihr Mann sich sein Jackett anzog und ebenfalls nach seinem Hut griff. „Ich nehme schon die Tasche“, sagte er und hängte im Hinausgehen noch an: „Sei vorsichtig auf der Treppe. Ein Ausrutscher könnte böse Folgen haben.“
„Ich pass schon auf, mein Lieber“, beruhigte Gisela. „Das Kind soll sich schon seine nötige Zeit lassen. Es braucht nicht auf der Haustreppe geboren zu werden, um vorzeitig die Alt-Reinickendorfer Nachkriegsluft zu atmen. Übrigens, ich finde es gut, dass die Eltern ihre Christengemeinschaft heimsuchen und nicht im Haus sind. Wilmersdorf, Ruhrstraße 10, der geistliche Nabel ihrer Welt. Die beiden würden sich jetzt furchtbar aufregen ...“
„... und Gräfin Berta Luise, verzeih, Liebes, deine Mutter würde vielleicht noch Verhaltensratgeber spielen wollen oder gar vornehme Begleitung in Hut und Handschuhen. Nein, das muss nicht sein“, stellte Oskar fest und begab sich nach unten und hinters Haus, um den Handwagen aus dem Schuppen zu holen.
* * *
Wenige Minuten später sah man die werdenden Eltern mit zügigen Schritten die Lindauer Allee überqueren und in die Aroser Allee einbiegen. Dass da ein Mann mit seiner hochschwangeren Frau unterwegs war, war nicht zu übersehen. Weshalb die beiden am Sonntag einen leeren Handwagen hinter sich herzogen, mochte sich allerdings mancher Passant fragen. Dass die grauen Sommermäntel im Wagenkasten eine Tasche, gefüllt mit Utensilien für eine Wöchnerin, unter sich verbargen und die beiden jungen Menschen sich auf dem Weg zur Entbindung befanden, war nicht erkennbar.
Wer die beiden Leute eine knappe Stunde später aus der Barfußstraße in die Edinburger Straße einbiegen sah, der konnte schon eher ahnen, worum es ging. Saß doch die junge Frau inzwischen im Fahrzeug und ließ sich von ihrem „edlen starken Pferd“ in leichtem Trab auf das Haus zufahren, in dem wohl bald ein neuer Erdenbürger zur Welt kommen würde.
Dabei gingen Gisela Mönnig in ihrem unbequemen Gefährt die merkwürdigsten Gedanken durch den Kopf: Es war ihre erste Geburt, und auf die freute sie sich schon lange. Aber ging das alles gut? Konnte es nicht auch Komplikationen geben? Hatte das Kind die richtige Lage? War der kleine Körper richtig proportioniert, dass das Köpfchen auch ...? Hatte der Junge oder das Mädchen sich vielleicht in die eigene Nabelschnur verwickelt? Man hörte so manches, was einem als Frau Angst machen konnte. Man hörte auch davon, dass es dem Kind nach der Geburt gut ging, die Mutter aber mit Kindbettfieber, Wochenbettpsychose und Wundsepsis zu kämpfen hatte. All das kam ihr plötzlich in den Sinn und ließ sie innerlich ein wenig erschrecken, während Oskar bemüht war, den Handwagen möglichst erschütterungsarm seinen Weg zu ziehen und dabei noch rasch vorwärts zu kommen.
„Geht es dir noch gut hinter mir?“, fragte er ein ums andere Mal.
„Sei unbesorgt, mein Lieber“, gab Gisela auf eine der Fragen mit einem Seufzer zurück. „Ich sage mir gerade von dem Paul-Gerhardt-Lied ‚Befiel du deine Wege‘ eine Strophe nach der anderen vor. Das nimmt mir meine Bangigkeit.“
„Sing doch das Lied, dann geht’s dir vielleicht noch besser“, schlug Oskar vor.
„Wie soll ich denn bei dieser holprigen Fahrt singen? Ich kriege bei der Hitze ja so kaum Luft. Und es rumpelt und pumpelt in meinem Bauch, dass es kaum zu ertragen ist. Was mag der kleine Mensch da drin nur empfinden?“
„Entschuldige, Gisela. Die Fahrbahn ist halt so wie sie ist. Aber bald geht es dir besser, meine Liebe, wirst sehen. Nur noch wenige Meter, und wir sind da“, versuchte Oskar sie zu trösten und bog auch schon in die Zufahrt zu dem Gebäude des Paul-Gerhardt-Stifts ein, in dem die Geburtsklinik notdürftig untergebracht war, seitdem die große Gesamtanlage bei einer der vielen Bombardierungen Berlins erhebliche Kriegsschäden erlitten hatte.
„Lass mich die letzten Schritte gehen, Oskar Mönnig“, bat die junge Frau. „Man muss nicht sehen, dass du mich ...“
„Wie die werdende Mutter wünschen“, gestand der Mann ihr zu, hielt den Handwagen an und half seiner Frau auf die Beine. „War es schlimm, so transportiert und gerumpelt zu werden?“
„Nein, war es nicht, mein edles starkes Pferd vor dem Wagen“, antwortete die junge Frau, blieb stehen, schloss in einem plötzlichen Wehenschmerz die Augen und hielt sich wieder ihren Bauch. „Auch wenn manche Leute sehr merkwürdig geschaut haben. Wenn das Kind bei der holprigen Fahrt nur keinen Schaden genommen hat.“ Gisela Mönnig stand für ein paar Momente auf der Stelle. „Es dauert wohl nicht mehr lange“, hauchte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht, um dann plötzlich doch ein leichtes Lachen hören zu lassen.
Oskar bemerkte es sofort. „Warum lachst du plötzlich mitten in der Wehe?“
Gisela Mönnig streckte ihren Körper, holte tief Luft und antwortete, wobei sie sich wieder in Bewegung setzte: „Mir ist gerade die zehnte Strophe des schönen Paul-Gerhardt-Liedes eingefallen. Die passt so gut in den Augenblick.“
„Sag sie mir“, forderte der Mann, weil er wohl nicht wusste, welche Strophe seine Gisela denn meinte. So gut kannte er das Lied des berühmten Kirchenlieddichters aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges dann doch nicht.
Die junge Frau zitierte: „Wird’s aber sich befinden, dass du ihm treu verbleibst, so wird er dich entbinden, da du’s am mindsten gläubst; er wird dein Herze lösen von der so schweren Last, die du zu keinem Bösen bisher getragen hast.“
Jetzt musste auch Oskar ein wenig lachen. „Passt wirklich, Gisela, auch wenn Paul Gerhardt bei seinen Gedanken sicher nicht an die Entbindung einer Frau von ihrem Kind gedacht hat. Wie schwer die Last dann war, werden wir bald sehen. Drei Kilo, vier Kilo? Dick genug ist dein Bauch. Aber jetzt rein ins Haus ...“
„... und ran an die Arbeit. Hoffentlich holt uns jemand an der Pforte ab. Es ist Sonntag, bald Abend und wahrscheinlich gar keiner da.“ Diese Bemerkung war wieder unter einem deutlichen Seufzer gemacht. Dabei war die enthaltene Sorge unbegründet. Den beiden Menschen kam bereits am Eingang des roten Backsteingebäudes eine Frau entgegen, die sich als Schwester Agatha und diensthabende Hebamme vorstellte. Zu welchem Mutterhaus mochte die wohl gehören, schoss es Gisela Mönnig für einen Moment durch den Kopf. Die Frau mittleren Alters trug nämlich keine Haube, wie das bei Schwestern eigentlich die Regel war. Nein, diese freundliche Hebamme trug ein weißes Tuch, das die Schultern eines ebenso weißen Diakonissenkleides bedeckte. Oder war das nur ihr Arbeitskleid? Eine Paul-Gerhardt-Schwester war sie jedenfalls nicht. Sie würde sonst – wie die Diakonissen, die sie aus ihrer Vandsburger Zeit kannte – eine gestärkte steife Haube tragen mit fünf oder sieben Falten und einer großen Schleife unter dem Kinn. Aber ein Tuch als Schwesternhaube ...?
Gisela konnte nicht weiter darüber nachdenken, denn schon kam eine neue und sehr heftige Wehe, die die Hebamme natürlich sofort bemerkte. „Es drängt wohl, junge Frau“, meinte sie und ließ dabei deutlich einen schlesischen Akzent hören. Nach einem kurzen, eher formalen und doch sehr freundlichen Austausch über das Wer?, Woher?, Wie geht’s?, Die wievielte Geburt?, Haben Sie alles dabei?, verschwand die Hebamme mit der Tasche in der einen Hand und der jungen Frau an der anderen dann auch bereits am Ende des tristen Ganges hinter einer Flügeltür mit angebrachtem Hinweis:
„Entbindungs- und Säuglings-Station
Medizinischer Bereich
Für Zivilpersonen verboten!“
Dem werdenden Vater hatte sie gerade noch den Hinweis gegeben: „Für Sie gilt’s zu warten, Herr Mönnig. Im Raum neben dem Eingang gibt es Sitzgelegenheit. Machen Sie es sich bequem. Es kann dauern.“
Oskar Mönnig blickte den beiden Frauen noch ein paar Momente nachdenklich hinterher. Dann betrat er den schlichten Warteraum und machte es sich so bequem, wie es das spärliche Mobiliar zuließ. Nun musste der Mann lange warten. Angekommen war er mit seiner Frau um fünf. Aber es wurde sechs und es wurde sieben, und es tat sich nichts in den Räumen hinter jener Flügeltüre. Da war auch niemand, mit dem er sich zum Zeitvertreib hätte unterhalten können. Kein Mensch bevölkerte diesen Teil des Hauses. Der Abend dieses Sonntags blieb einfach menschenleer.
Inzwischen begann Oskar Mönnig unruhig und ungeduldig zu werden und sich zu ärgern. Hätte er doch seine technischen Papiere dabei! Dann hätte er während der Wartezeit wenigstens eine sinnvolle Beschäftigung gehabt. Sollte er seine Unterlagen holen und dabei schon einmal den Handwagen nach Hause bringen? Mit dem leeren Gefährt würde er schnell unterwegs sein und sicher in anderthalb Stunden, also bis um neun, wieder hier sein können. Und wenn in der Zwischenzeit der kleine Mensch ...? Und wenn es Komplikationen gäbe und er gebraucht würde? Nein, Oskar war sich sicher, dass es keine Komplikationen geben würde. „Dem Herren musst du trauen ...“, schoss es ihm durch den Kopf, und er beschloss, den Weg nach Hause unter die Füße zu nehmen. Den Rückweg nach hier konnte er auf dem Fahrrad machen, dann war er längst vor neun wieder hier.
Gedacht, getan. Oskar Mönnig verließ das Haus, belud draußen seinen Handwagen mit Hut und Mantel seiner Frau und machte sich auf den Weg. Die beiden Kleidungsstücke brauchte Gisela ja jetzt nicht und in den kommenden Tagen im Wochenbett auch nicht.
Zu Hause angekommen, stellte er das hölzerne Fahrzeug an seinen Platz hinter dem Haus, holte sich seine Elektrotechnik-unterlagen aus der Wohnung, packte sie in eine Tasche und machte sich mit dem Fahrrad auf den Rückweg. Erneut war er dankbar dafür, dass die Gräfin, wie er seine Schwiegermutter zuweilen nannte, und ihr Mann, der Herr Oberlehrer, nicht im Haus waren. Auf irgendwelche kluge Konversation hätte er jetzt nämlich keine Lust gehabt.
* * *
Unterwegs zurück zum Paul-Gerhardt-Stift ließ Oskar Mönnig in seinem Kopf dann schon einmal Namen rotieren, vor allem Jungennamen. Wenn das Kind ein Mädchen würde, gab es für ihn nur die Eleonore. Warum dieser Name sein absoluter Favorit war, wusste er selbst nicht zu erklären. Aber es war nun einmal so. Irgendjemand in der Mönnig-Instrumentenbauer-verwandtschaft im Erzgebirge trug diesen Namen. Der Name hatte Klang. Ein Mädchen musste also Eleonore heißen. Aber ein Junge? Wie sollte der heißen? Oskar wusste nur so viel, dass ein Junge keinen Namen haben sollte, wie sie in der zum Glück beendeten Zeit des sogenannten Tausendjährigen Reiches üblich gewesen waren und wie sie unzählige Jungen ihr Leben lang zu tragen hatten. Nur keinen Siegfried oder Hagen oder Hartmut oder gar Adolf. Johannes, Markus, Michael, Matthias oder Thomas? Die Namen könnten ihm gefallen, die waren nicht vorbelastet durch arische Herkunft, sondern hatten biblischen Hintergrund. Joachim wäre übrigens auch nicht schlecht. Na ja, erst musste das Kind ja einmal auf der Welt und seine Mutter ansprechbar sein.
Warum hatten sie als künftige Eltern sich eigentlich nicht bereits auf einen bestimmten Namen für einen Jungen oder für ein Mädchen festgelegt? Oskar wunderte sich selbst darüber, dass sie beide diese wichtige Frage offengelassen hatten. Nun gut, bald würde sie sich klären, dachte er, als er wieder in seinem Warteraum Platz genommen hatte, jetzt freilich mit einer sinnvollen Beschäftigung für die kommenden Stunden.
Es wurden wirklich noch Stunden. Es dauerte schier unendliche Zeit, bis in den nächsten Tag hinein, bis der neue Mensch schließlich den ersten Schrei von sich gab. Oskar Mönnig brauchte endlos viel Geduld. Dass die wohl größere Geduld seine Frau aufbringen musste, war ihm nicht bewusst. Bei Gisela Mönnig hatten die Wehen einfach noch einmal ausgesetzt, sodass die Hebamme alle möglichen Tricks anwenden musste, um sie wieder in Gang zu kriegen: leichte Gymnastik, ein heißes Bad, ein paar Sprünge auf und ab, ein Medikament zur Steigerung der Wehen ...
Es wurde schließlich früher Montagmorgen, 22. Juli 1946. Endlich war es so weit, dass der kleine Mensch nun wirklich zur Welt drängte. Dabei verlief die Geburt ohne jegliche Komplikation und ein kleines süß-verschrumpeltes Mädchen konnte seiner zwar erschöpften, aber sehr glücklichen Mutter bald auf den Leib gelegt werden. Herrlich, dieses winzige rosig-faltige Wesen mit seinem schwarzen Lockenköpfchen und seinen kleinen zarten Fingerchen und Füßchen zu fühlen, zu riechen, zu hören, zu empfinden – einfach herrlich und zum Freuen und zum Danken!
„Ein Gotteswunder, Frau Mönnig“, strahlte auch die Hebamme, als sie nach getaner Arbeit am Bett von Mutter und Tochter stand.
„Sie haben recht, Schwester Agatha“, bestätigte die junge Mutter. „Ich bin ja so dankbar, Schwester. Unser Wunschkind, eine Gabe Gottes.“
„Das Letzte steht im Psalm 127 als Weisheit des Königs Salomo“, ergänzte die Diakonisse, um dann zu fragen: „Und wie soll die kleine Prinzessin heißen? Sie ist doch eine Prinzessin bei ihrer großmütterlichen Verwandtschaft, von der Sie mir erzählt haben, oder nicht?“
Gisela Mönnig hatte die Antwort parat, überhörte dabei allerdings die fragende Bemerkung: „Sie soll Eva heißen nach der Gründerin Ihrer Schwesternschaft, Schwester Agatha. Das war doch Mutter Eva von Tiele-Winckler, diese Frau, die die Kinder so sehr geliebt hat, wie Sie mir erzählt haben.“
„Das ist schön, Frau Mönnig“, freute sich die Hebamme. „Mutter Eva würde sich über die Namensgebung freuen. Gibt es einen zweiten Namen?“
„Ich würde gern Maria anhängen, auch wenn mir der Name katholisch erscheint. Also Eva-Maria als Doppelname, wenn mein Mann damit einverstanden ist.“
„Das ist ebenso schön und klingt auch gut, Frau Mönnig“, bestätigte die Hebamme, „Maria – nach der Mutter Jesu. Man muss sie achten und ehren. Aber man muss sie nicht anbeten. Sie selbst verweist ja die Leute auf ihren Sohn: ‚Was er euch sagt, das tut.‘ Eva-Maria Mönnig, schön! Der junge Papa wird sicher einverstanden sein. Ich denke, wir sollten ihn jetzt endlich aus seiner Unruhe befreien. Sind Sie einverstanden, dass ich Ihren Mann hole?“
„Gerne, Schwester Agatha“, freute sich die glückliche Mutter, „holen Sie ihn. Aber Vorsicht: Er könnte eingeschlafen sein und gar nicht wissen, wo er jetzt geweckt wird. Und dann möchte ich bald auch schlafen. Ich bin sehr müde.“
„Das kann ich gut verstehen, junge Mutter“, bestätigte Sr. Agatha. „Sie haben ja auch Großes vollbracht, und der kleine Mensch braucht auch seine Ruhe.“ Den letzten Satz sprach die Diakonisse bereits im Hinausgehen.
Nur wenige Momente später kam sie bereits zurück und schob den jungen Vater vor sich her in den Raum. Sie hatte ihn tatsächlich wecken müssen und er wirkte noch ein wenig verschlafen. „Ich lasse Sie beide für einen Moment allein“, befand die Hebamme und zog sich wieder aus dem Raum zurück. Ihr erstes Elternglück sollten die beiden Eheleute Mönnig dann doch zunächst einmal für eine Weile allein genießen. Das taten die dann auch für einige Momente schweigend und staunend und in stiller Freude.
Schließlich brach Gisela Mönnig das Schweigen: „Ein Mädchen, Oskar! Hat Gott nicht alles wohlgemacht, mein lieber Mann, du junger Vater?“ Dabei streichelte sie ihrem Kind mit dem Rücken ihres rechten Zeigefingers sanft über die Wangen. „Möchtest du sie nicht auch für einen Moment ...?“
Oskar wehrte ab: „Nein, meine Liebe, das ist mir zu gefährlich. Ich bin dafür zu ungeschickt. Für heute gebe ich mich gerne mit dem dankbaren Schauen und Staunen zufrieden. Wunderbar, dieses winzige Geschöpf unseres Gottes!“ Nach einem langen Blick auf das Kind, einer vorsichtigen Berührung der kleinen Händchen des Säuglings und einem folgenden Kuss auf die Stirn der Mutter fragte er: „Wie heißt denn nun unsere kleine Prinzessin?“ Weil da nicht sofort eine Antwort kam, schlug er vor: „Ich möchte, dass sie Eleonore heißt.“
Bei diesem Namen ging ein deutlicher Ruck durch die junge Mutter: „Nein, Oskar! Doch nicht Eleonore wie deine musikalische Verwandte! Bitte nicht, Oskar! Eleonore ist kein Name für unsere kleine Mönnig.“
„Und was schlägst du vor?“ Oskar Mönnig war ein wenig irritiert.
„Ich möchte“, antwortete seine Frau und gab ihrem Wunsch Nachdruck durch eine kleine Pause in ihrem Satz, „ich möchte, dass unser Töchterlein als eine Enkelin der gräflichen Familie von Trichinsky und als Urenkelin der fürstlichen Familie Koscheba Eva-Maria heißt. Eva-Maria Mönnig! Das klingt doch gut, ein wenig rest-adelig oder nicht, Oskar?“
„Und warum Eva-Maria, und nicht Eleonore?“, fragte der junge Vater, immer noch verunsichert. „Eleonore klingt doch auch vornehm.“
„Das erklär ich dir später, mein Lieber, lass sie uns bitte Eva-Maria nennen“, gab Gisela müde und mit einem deutlich flehenden Blick in die Augen ihres Mannes zurück. Dann vergrub sie ihren Kopf in ihrem Kissen, ließ die Augen einfach zufallen und war auch schon eingeschlafen – so als wollte sie dadurch jeglichen weiteren Widerspruch des jungen Vaters verhindern. Dabei hielt sie das kleine Menschenbündel fest in ihren Armen, als wollte sie es nie wieder loslassen.
Oskar Mönnig nahm die mütterliche Namensgebung hin, küsste seine Frau noch einmal sanft auf die Stirn und streichelte seinem Töchterchen vorsichtig eine Wange. Dabei flüsterte er: „Behüt euch Gott, Mutter Gisela und Prinzessin Eva-Maria. Ich liebe euch!“ Dann rief er leise nach der Schwester, die auch sofort hereinkam. Sie hatte wohl vor der Tür gewartet.
„Und, wie soll sie nun heißen, Ihre kleine Prinzessin?“, fragte sie leise, um die beiden Schläfer nicht zu wecken.
„Ich bin mit meinem Vorschlag durchgefallen, Schwester. Sie soll nicht Eleonore heißen!“, antwortete der Vater ein wenig kleinlaut und mit einem leichten Seufzer. „Ich muss wohl mit der Eva-Maria einverstanden sein.“
„Ihre Frau hat ihre Begründung dafür, Herr Mönnig“, wusste die Hebamme mit dem weißen Kopftuch. „Sie wird sie Ihnen bald sagen, und Sie werden sie dann sicher akzeptieren. Und jetzt ist die Besuchszeit für Sie leider zu Ende, junger Vater. Die junge Mutter bleibt zunächst einmal für zwei Wochen hier. Wir verlegen sie nachher auf die Wöchnerinnenstation. Prinzessin Eva-Maria kommt ins Säuglingszimmer. Und immer dann, wenn es dran ist, kommt sie zu ihrer Mama, so etwa alle vier Stunden. Und Sie als der Papa dürfen die beiden jeden Tag zwischen 17.00 und 18.00 Uhr besuchen. Aber bitte nur Sie. Die Verwandtschaft muss sich derweil gedulden. Weiterer Besuch kann leider nicht sein. Das Zimmer der Wöchnerinnen ist ein Sechs-Bett-Zimmer, und Ihre Frau bekommt das fünfte Bett. Da ist kein Platz für große Besucherscharen. Gut so?“
„Gut so!“, bestätigte Oskar Mönnig die Hinweise der Diakonisse. „Ich freu mich schon auf die täglichen Besuche. Und vielen Dank für alle Mühe und Hilfe!“
„Den jung-väterlichen Dank nehme ich gerne an, Herr Mönnig“, freute sich Sr. Agatha und hängte ein wenig ernster an: „Sie sollten nicht vergessen, vor allem Gott zu danken, dem Schöpfer allen Lebens. Er hat auch hier wieder alles wohlgemacht.“
„Ich werde es bedenken, Schwester, und Sie jetzt Ihrer Arbeit überlassen. Nochmals vielen Dank für alles und gute Ruhe, falls Sie noch irgendwann zum Schlafen kommen.“
Der Mann sprach’s und war dann auch bereits auf dem Weg aus dem Haus und im lauen sommerlichen frühen Morgengrauen mit wehendem Mantel und bester Laune auf dem Fahrrad zurück hinter die Dorfaue. Zwei Stunden Schlaf würde er sich noch gönnen, ehe er sich bereits auf den neun Kilometer langen Weg zur Arbeit machen musste. Bei den Kollegen würde es dann sicher ein großes Hallo geben, und eine Runde Berliner Weiße und ein paar belegte Schrippen waren wohl mindestens fällig. Da gab es einen Laden am Weg zur Arbeit, wo er solche Dinge bekommen konnte. Die Großeltern Mallin – das waren die Frau Gräfin und der Herr Oberlehrer in der unteren Etage des Hauses – und die Großeltern Mönnig – also seine eigenen Eltern aus der Familie der musikalischen und handwerklich begabten Instrumentenbauer im Erzgebirge – würde er nach Feierabend über die Geburt ihrer süßen Enkelin Eva-Maria informieren. Das war immer noch früh genug ...
Lothar von Seltmann
Lothar von Seltmann war Direktor einer Hauptschule. Nach seiner Pensionierung begann er mit dem Schreiben von Gedichten und
Romanbiografien. Er ist Vater von drei erwachsenen Kindern und lebt mit seiner Frau in Hilchenbach.