Nashville 1868
Eleanor Braddock ist eine pragmatische Frau, die gelernt hat zu kämpfen. Nachdem ihre Familie durch den Bürgerkrieg alles verloren hat, findet sie Aufnahme auf Belmont, dem herrschaftlichen Anwesen ihrer Tante. Diese ist eine der reichsten Frauen Amerikas. Doch Eleanor will nicht von Almosen leben und nicht den Mann heiraten, den ihre Tante für sie aussucht. Sie träumt von einem eigenen Restaurant. In dem gutaussehenden Architekten und Botaniker Markus Geoffrey findet sie einen Freund und Unterstützer. Doch Markus ist nicht der, der er zu sein vorgibt ...
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Prolog
15. Dezember 1864
Ein Feldlazarett der Konföderierten Armee unweit des Schlachtfeldes
Nashville, Tennessee
Eleanor Braddock zuckte zusammen, als der Soldat ihre Hand festhielt. Sein Griff war überraschend kräftig, obwohl seine Handfläche feucht von Blut, Schweiß und den grauenvollen Spuren des Krieges war. Mit vor Schmerzen zusammengekniffenen Augen hielt er sie fest, als wäre sie der letzte Mensch auf der Erde. Das war sie auch … für ihn.
Gewöhnlich durchsuchte sie die linke Brusttasche der Uniform des Soldaten nach seinem Namen, aber der Stoff – ein blutdurchtränktes Grau – war von einem Kanonenschuss in Fetzen gerissen worden.
Ähnlich wie der Rest dieses Mannes. Sie war dankbar, dass er bewusstlos gewesen war, als der Arzt ihn vor ein paar Minuten untersucht hatte. Dadurch war ihm das unmissverständliche Kopfschütteln des Arztes erspart geblieben.
„Schwester …“
Sein Blick suchte ihre Augen. Vor dem Hintergrund der Gewehr- und Kanonenschüsse in der Ferne wappnete sich Eleanor gegen die Frage, die jetzt unweigerlich käme. Auch wenn sie schon oft gezwungen gewesen war, diese Frage zu beantworten, fiel es ihr immer noch nicht leicht, einem Mann zu sagen, dass er sterben würde.
Und es war auch immer noch genauso schwer, mit anzusehen, wie ein Mann starb.
„Ja?“, sagte sie leise, ohne ihn zu verbessern, weil er sie fälschlicherweise für eine Krankenschwester hielt, obwohl sie diese Ausbildung nie gemacht hatte.
„Könnten Sie mir sagen …“ Er hustete, und sein bärtiges Kinn zitterte durch die Kälte oder den Schmerz, wahrscheinlich durch beides. Ein gurgelndes Geräusch kam aus seiner Kehle. „Haben wir … den Hügel eingenommen?“
Eleanor war überrascht, dass er sich nach dem Stand der Schlacht und nicht nach seinem Leben erkundigte. Die angespannte Hoffnung, die hinter seiner Frage steckte, rührte sie an. Ihre Kehle zog sich schmerzlich zusammen.
„Ja“, antwortete sie, ohne zu zögern, obwohl sie nicht die leiseste Ahnung hatte, welche Seite auf dem Schlachtfeld im Moment die Oberhand hatte. Sie wusste nur, dass unzählige Männer – Väter, Söhne, Ehemänner, Brüder – unweit von ihnen niedergemetzelt wurden. Und dass dieser Mann es verdiente, mit einem gewissen Frieden und dem Glauben, dass sein Leben nicht sinnlos geopfert worden war, zu sterben. „Ja, sie haben den Hügel eingenommen.“ Sie bemühte sich zu lächeln. „General Lee wird sich sehr freuen.“
Stolz, aber hauptsächlich Erleichterung leuchtete in den Augen des Soldaten, bevor sie zufielen. Er rang um Atem, obwohl ihn jeder Atemzug viel Kraft kostete. Sie betete, dass er von diesem Kampf bald erlöst würde. Aber sie hatte Männer mit ähnlichen Wunden gesehen, die sich stundenlang im Todeskampf gequält hatten.
Er war kein junger Mann mehr, schon mindestens Mitte dreißig, und seine Füße ragten zwanzig Zentimeter über die Pritsche hinaus. Beide Stiefel waren an den Zehen durchgelaufen. Sie hatte in seiner Stimme den Anflug eines Akzents gehört, eines Akzents von weit her, etwas, das sie schon immer bewundert hatte.
Sie betrachtete ihn und fragte sich, wie sein Leben wohl vor dem Krieg ausgesehen hatte, und warum er auf einem hoffnungslosen Schlachtfeld mitten in Tennessee gelandet war. Seine Wangenknochen traten in dem ausgemergelten Gesicht deutlich hervor, und sie wünschte, sie hätte noch etwas von der Fleischbrühe, die sie gestern wie fast jeden Abend für die Männer gekocht hatte. Auch wenn sie die Brühe sehr stark verdünnen musste, verschlangen die Männer sie immer sehr schnell. „So etwas Gutes haben wir seit Monaten nicht mehr gegessen“, sagten sie, wenn sie ihre Tassen geleert hatten.
Sie hatte schon immer gern gekocht, aber ihre Patienten essen zu sehen, auch wenn es nur ein wenig Brühe war, tat ihrem Herzen besonders gut. Bevor sie verwundete und sterbende Männer gepflegt hatte, hätte sie sich das nie vorstellen können.
Sie verlagerte ihr Gewicht und der Griff des Soldaten wurde fester.
Er verzog das Gesicht und biss stöhnend die Zähne zusammen, als wäre er fest entschlossen, nicht wie die anderen zu schreien.
Ihr Blick fiel auf die leeren Laudanumflaschen auf einem Tisch. Sie hätte ihm gern etwas davon gegeben. Doch die letzten Schmerzmittel, einschließlich Morphium, Chloroform und Äther waren heute Morgen verabreicht worden, bevor sie erfahren hatten, dass der erwartete Medikamentennachschub nicht ankäme, da die Unionsarmee die Medikamente abgefangen hatte.
Dass sie Munition und Geld abfingen, konnte sie verstehen. Sogar Nahrungsmittel. Aber Medikamente? Selbst im Krieg sollten doch bestimmte humanitäre Regeln gelten.
In der Ferne donnerte das Kanonenfeuer, und ein eisiger Wind wehte durch die Stoffwände des Lazarettzelts. Das Stöhnen und die Schreie der Verwundeten und Sterbenden durchschnitten die Luft. Eleanor erschauerte vor Kälte. Obwohl es absurd war, war sie fast sicher, die Erde selbst stöhnen zu hören, die sich unter ihren Füßen verkrampfte und sich vielleicht genauso wie sie fragte, wie lange dieser Wahnsinn noch weitergehen würde. So ähnlich musste es in der Hölle sein.
Trotzdem wusste sie, als sie an den entsetzlichen Wahnsinn und die sinnlosen Grausamkeiten dachte, die gleich hinter dem Hügel geschahen, dass sie in diesen Zelten nur den Randbereich der Hölle sah.
Wie hatte sie nur sechsundzwanzig Jahre leben können, ohne sich bewusst zu machen, wie kostbar und vergänglich das Leben und wie unbeständig der Friede war? Bis dahin hatte sie nicht darüber nachgedacht, ob sie ihr Leben vielleicht vergeudete. Doch wenn sie die Erfahrungen ihres ganzen Lebens mit dem, was sie in den letzten Monaten gesehen und getan hatte, verglich, war vergeudet eine schmerzlich zutreffende Beschreibung.
Ihr Blick wanderte an den Pritschen mit den Soldaten entlang, die beide Seiten des Zeltes säumten. Wie viele Menschen würden noch sterben, bis die beiden Kriegsparteien endlich einsahen, dass genug Blut vergossen war?
Als sie die Anzeige in der Murfreesboro-Zeitung das erste Mal gelesen hatte, die „schlicht aussehende Frauen im Alter zwischen 35 und 50“ aufforderte, ehrenamtlich in Feldlazaretten und Operationszelten mitzuarbeiten, hatte sie sich gefragt, ob ihr Alter ein Hinderungsgrund wäre. Aber da der Bedarf an ehrenamtlichen Helferinnen so groß gewesen war und sie die erste Anforderung zweifellos erfüllte, war sie schnell angenommen worden.
Der einzige andere Punkt, der sie wirklich gewundert hatte, war der Zusatz gewesen: „Keine fachliche Ausbildung oder Erfahrung in der Krankenpflege erforderlich.“ Aber sie hatte nicht lange gebraucht, bis sie den Grund dafür begriffen hatte, und gemerkt, dass die vor ihr liegende Aufgabe von ihr stark unterschätzt worden war.
Sie hatte nur gewusst, dass sie nicht einfach zu Hause sitzen und nichts tun konnte, nachdem ihr Bruder sich zusammen mit den meisten männlichen Verwandten und Freunden zur Armee gemeldet hatte. Dazu kam, dass ihr Vater die Konföderation so stark unterstützte.
Sie schloss kurz die Augen, als die Erschöpfung und die Sorgen zu erdrückend wurden. Mit schmerzlicher Klarheit stellte sie sich ihren jüngeren Bruder vor, der vielleicht irgendwo auf einem Schlachtfeld lag, verwundet, frierend und allein, während sein kostbares Lebensblut auf die Erde tropfte. Eine eisige Kälte erfasste sie.
Falls Teddy etwas zustieße, wüsste sie nicht, wie sie das ertragen sollte. Oder wie ihr Vater mit einem solchen Verlust leben könnte. Obwohl er die körperliche Kraft eines Mannes besaß, der nur halb so alt war wie er, und mit seinen ein Meter neunzig – nur fünfzehn Zentimeter größer als sie – immer noch eine aufrechte Körperhaltung hatte, ließen die geistigen Kräfte ihres Vaters allmählich nach. Der Tod ihrer Mutter vor fast zehn Jahren war besonders schwer für ihn gewesen. Er hatte sehr lange und stark um sie getrauert. Aber in den letzten paar Monaten war Eleanor eine deutliche Verschlechterung seines Gedächtnisses aufgefallen. Er konnte sich kaum noch an Dinge, die erst vor Kurzem geschehen waren, erinnern.
Ein plötzlicher, starker Windstoß erfasste das Zelt und für eine Sekunde fürchtete Eleanor schon, er würde die Verankerungen aus der Erde reißen.
Über den Kriegslärm in der Ferne hinweg kündigten das Poltern von Pferdehufen und das Quietschen von Wagenrädern die Ankunft des nächsten Krankenwagens an.
Zwei der anderen drei ehrenamtlichen Schwesternhelferinnen im Zelt rannten sofort hinaus, um die verwundeten Männer auszuladen. Eleanor wusste, dass sie auch helfen müsste und dass sie von Dr. Rankin getadelt würde, wenn er sah, dass sie zu lange bei einem einzigen Patienten blieb. Aber als sie an Teddy dachte, an die Möglichkeit, dass er irgendwo so liegen könnte – verängstigt, verwundet und allein –, brachte sie es nicht übers Herz, den Soldaten zu verlassen.
Er hielt immer noch ihre Hand umklammert.
„Die meisten Befürchtungen eines Menschen treffen nie ein, Eleanor.“ Der Rat ihres Vaters aus früheren Jahren ging ihr durch den Kopf, und sie wusste, wenn er hier wäre, würde er ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen um etwas machen solle, das sie sich nur einbildete. „Das Gehirn kann sehr trügerisch sein. Du musst vernünftig sein, Tochter, und darfst dich nicht der sorgenvollen Natur hingeben, die das weibliche Geschlecht so oft befällt. Konzentriere dich auf das, was du sehen kannst, und nicht auf das, was dir nur deine Fantasie einreden will.“
Sie wusste aus Erfahrung, dass er recht hatte, aber ihre Fantasie war manchmal so mächtig, dass sie sich kaum dagegen wehren konnte. Und die Erfahrung, dass ein kleiner Prozentsatz der Ängste doch wahr wurde, war Wasser auf die Mühlen ihrer Angst. Dieses provisorische Lazarett war ein trauriger Beweis dafür.
„Der Arzt …“, kam ein heiseres Flüstern.
Sie sah, dass der Soldat sie wieder anschaute.
„Wissen Sie zufällig, wa…“ Er biss die Zähne zusammen, und sein blasses Gesicht wurde noch bleicher. Ein Moment verging, ehe er weitersprach. „Wann kommt … er?“
Eleanor schmerzte ihre Hilflosigkeit, aber sie zwang sich, Ruhe in ihre Stimme zu legen. Die Einweisung, die sie und die anderen Frauen bekommen hatten, war zwar kurz, aber besonders in Bezug auf die Sterbenden eindeutig gewesen. „Quälen Sie einen Soldaten nicht mit Fragen, wenn er kurz vor dem Ende steht. Sie sind da, um ihn zu trösten. Und wenn er Sie fragt, wie es um ihn steht, sagen Sie ihm immer die Wahrheit.“ Eleanor stimmte diesem letzten Grundsatz von ganzem Herzen zu. Theoretisch.
Aber Theorie und Praxis waren zwei sehr verschiedene Dinge.
Sie bemühte sich, die Wahrheit vorsichtig zu formulieren. „Der Arzt war schon hier.“ Sie drückte seine Hand. „Es tut mir so leid, aber … er kann nichts mehr tun.“
Der Soldat kniff ungläubig die Augen zusammen. Dann hob er mit großer Anstrengung den Kopf und schaute an seinem schwer verletzten Körper hinab. Was er sah, ließ ihm den Atem stocken. Eleanor drückte seinen Kopf sanft wieder nach unten.
Eine einzelne Träne lief aus seinem Augenwinkel, und seine Schultern begannen zu zittern. Trotzdem gab er keinen Ton von sich.
Sie wollte ihm sagen, dass es in Ordnung sei, wenn er weinte, dass er sich deshalb nicht schämen müsse. Aber etwas hielt sie davon ab, diese Worte auszusprechen, und sagte ihr, dass sie kein Trost für ihn wären. Aber sie wollte ihm Trost spenden.
Wenn sie nur etwas hätte, mit dem sie ihm das Sterben erleichtern könnte, etwas, das ihm helfen würde …
Ihr Blick fiel auf einen Wasserkrug und eine Blechtasse auf dem Tablett neben den leeren Medikamentenflaschen. Ihr kam eine Idee.
Schnell, bevor ihr gesunder Menschenverstand sie daran hindern oder ihr Gewissen ihr widersprechen würde, löste sie sich aus seinem Griff, goss Wasser in die Tasse und tat so, als würde sie etwas aus der leeren Laudanum-Flasche hinzugießen. Sie achtete darauf, dass der Soldat sie sehen konnte, und hoffte, niemand sonst sähe sie. Sie rührte den Inhalt der Tasse um und hielt sie ihm dann an den Mund.
„Hier“, flüsterte sie und bemühte sich, vorsichtig zu klingen. „Aber nur ein wenig. Es ist ziemlich stark.“
Die Kraftanstrengung, die es ihn kostete, den Inhalt zu schlucken, zehrte an ihr. Keuchend bemühte er sich, möglichst viel zu trinken. Doch er schluckte zu schnell und hustete einiges wieder heraus. Sie wischte ihm die Flüssigkeit von den Lippen und aus dem Bart. Das Tuch wies Blutspuren auf.
„Oh, danke, Mädchen. Danke“, flüsterte er immer wieder, als hätte sie ihm ein Lebenselexir gegeben.
Er starrte sehr lange nach oben, während sein Atem mühsam ging und sein Körper immer wieder von Krämpfen geschüttelt wurde. Eleanor stand nahe neben ihm und wartete ängstlich darauf, dass er merken würde, was sie getan hatte. Besser gesagt, was sie versucht hatte.
Doch allmählich entspannten sich die scharfen Linien und schmerzverzerrten Züge in seinem Gesicht, und zu ihrer Verwunderung entspannte sich auch sein ganzer Körper. Wie recht ihr Vater hatte: Die Fantasie war trügerisch.
Der Soldat atmete ein und hielt dabei die Hand auf seine Brust. Tränen traten in seine Augen. „Ich wünschte … ich hätte es besser gemacht“, brachte er mühsam über die Lippen. „Ich wü-wünschte …“ Seine Stimme brach ab, und er griff wieder nach ihrer Hand.
„Pssst.“ Eleanor beugte sich nahe über ihn. „Alles wird gut werden.“
„Nein.“ Die Muskeln an seinem Hals spannten sich an. „Ich muss das sagen, Mädchen, solange ich noch Atem habe.“
Sie gab ihm die Zeit, die er brauchte, und strich ihm auf eine Weise die Haare aus der Stirn, die ihr vor wenigen Monaten noch viel zu intim erschienen wäre. Aber der Krieg schrieb die gesellschaftliche Etikette um.
„Ich … ich wünschte …“ Tränen liefen auf seine Schläfen. Sein Gesichtsausdruck wurde klarer, zielgerichteter. „Ich wünschte, ich hätte … das für dich gemacht … was ich dir versprochen habe, Mary-Mädchen. Wie ich es dir versprochen habe, bevor ich wegging.“ Eine tiefe Sehnsucht lag in seinem Seufzen. „Jeden Tag … war ich in Gedanken …“
Er schluchzte und streckte die Hand aus, als versuche er, ihr Gesicht zu berühren, aber Eleanor wusste, dass er nicht mehr sie sah, sondern eine andere Frau. Sie nahm seine Hand in ihre Hände, und ihm liefen erneut Tränen übers Gesicht.
„Was?“, fragte sie sanft, da sie den Schmerz in seinem Gesicht sah und dachte, wenn er sein Bedauern laut aussprechen könnte, würde es ihn erleichtern.
Er berührte zitternd den Saum seiner Jacke. Als sie begriff, was er vorhatte, half sie ihm, ein kleines Bündel aus seiner Tasche zu ziehen. Vorsichtig wickelte sie es aus.
Ein besticktes Taschentuch, blutgetränkt. Eine getrocknete Rose lag darin.
„Ich habe es immer bei mir, liebes Mary-Mädchen“, flüsterte er. „So, wie du mich gebeten hast.“ Seine Lippen zitterten. Seine blauen Augen lächelten. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass du mein bist, Liebste. Dass du zu jemandem wie mir Ja gesagt hast.“
Eleanor blinzelte, und erst jetzt spürte sie, dass auch ihre Wimpern nass waren. Sie hatte nie ein Problem damit gehabt, Blut zu sehen. Sie hatte im Operationszelt geholfen, wo der große Holztisch tagelang vom Blut rot gefärbt gewesen war, und sie hatte gesehen, wie Wagen für Wagen beladen mit amputierten Gliedmaßen wegrollte. Aber das …
Das Flüstern eines Menschen kurz vor seinem Tod zu hören, Zeuge davon zu sein, wie ein Mann einer Fremden sein Herz ausschüttete – das konnte sie nicht, ohne zu weinen. Auch wenn sie diese Frau, dieses Mary-Mädchen, nicht kannte, betete sie, dass sie wüsste, wie sehr sie geliebt wurde.
Beziehungsweise wie sehr sie geliebt worden war.
Ohne noch irgendwelche Zweifel an der Richtigkeit ihres Verhaltens zu haben, beugte sich Eleanor nahe über ihn, damit er sie hören konnte. „Ich bin stolz darauf, dass ich dein bin, und das war ich immer“, sagte sie und versuchte, sich vorzustellen, wie es sein musste, von einem Mann so sehr geliebt zu werden. Aber sie konnte es sich nicht vorstellen.
Sie blickte auf das Taschentuch und dachte daran, wie kurz das Leben doch war. Sie dachte an alles, was sie noch nicht getan hatte. Sie hatte noch nie einen Mann geküsst, geschweige denn, geheiratet oder Kinder zur Welt gebracht. Sie war nie außerhalb von Tennessee gewesen oder hatte die Wellen des Meeres gesehen. Sie hatte nie einem Mann die Hand gehalten, außer Teddy, und sie hatte nie die ganze Nacht unter dem Sternenhimmel gelegen und zugesehen, wie die Sonne wieder neu aufgegangen war. Unzählige andere Dinge, die sie noch nie getan hatte, schossen ihr durch den Kopf, und doch erschienen sie ihr jetzt in dieser Situation weit weg und unwichtig.
„Du bist stolz darauf, dass du mein bist“, flüsterte er, als genieße er diesen Gedanken, obwohl er Mühe hatte, ihn zu akzeptieren. „Wenn ich könnte, würde ich …“ Er verzog das Gesicht und atmete stockend ein. Obwohl ihr Herz mit diesem Mann litt, den eine schmerzliche Reue quälte, legte Eleanor ihm das Taschentuch in die Hand. „Was?“, flüsterte sie und drückte seine Hand. Sie fühlte, dass er sich langsam aus diesem Leben entfernte. „Was würdest du tun?“
Er schaute ihr in die Augen. „Ach, mein geliebtes Mary-Mädchen. Ich würde das tun, was ich dir versprochen habe, und …“
Ein kräftiger, kalter Luftzug erschütterte die Zeltwände. Eleanor fühlte, dass der Boden zitterte, und sie begriff, dass das dieses Mal nichts mit dem Wind zu tun hatte.
„Miss Braddock!“
Sie drehte sich um und sah Dr. Rankin eilig auf sich zukommen. Hinter ihm herrschte Chaos im Zelt.
„Schnell!“, rief er. „Laufen Sie zu den Krankenwagen! Die Unionstruppen haben den Hügel eingenommen!“
Ein hohes Pfeifen durchschnitt die Luft über ihrem Kopf, und in der kurzen Sekunde, die sie brauchte, um dieses Geräusch einzuordnen, explodierte die Welt um sie herum. Dr. Rankin packte sie an der Schulter, um sie zu stützen. Rauch breitete sich im Zelt aus. Der beißende Gestank von Schießpulver machte die Luft schwer.
„Gehen Sie, Miss Braddock! Alle Krankenschwestern zu den Krankenwagen! Schnell!“
„Aber wir können die Männer doch nicht hierlassen!“
„Wir verlegen so viele Männer, wie wir können.“ Er drehte sich um. „Aber wenn wir nicht bald verschwinden, sterben wir mit ihnen!“
Sie merkte es erst jetzt. Der Soldat hatte ihre Hand losgelassen.
Sie schaute ihn an, sah sein entspanntes Kinn, den unwirklichen Frieden in seinem Gesicht …
Als sie eine Gewehrsalve hörte, berührte sie eilig seine Wange und hoffte, sein Bedauern, weil er etwas in seinem Leben nicht getan hatte, das er gern getan hätte, würde im nächsten Leben von ihm genommen werden. Sie wandte sich zum Gehen.
Dann fiel es ihr wieder ein.
Eilig suchte sie das Taschentuch in der Hand des Soldaten. Eine erneute Gewehrsalve ließ sie zusammenzucken. Seine Hand war leer. Das Taschentuch mitnehmen zu wollen, ergab eigentlich keinen Sinn. Aber da sie wusste, wie viel es ihm bedeutet hatte, wollte sie es nicht hier liegen lassen, wo es niedergetrampelt und vergessen würde.
Schließlich entdeckte sie das blutgetränkte Tuch auf dem Boden und hob es auf. Aber die Rose war fort. Da sie nie eine besondere Liebe zu Blumen gehabt hatte, hielt sie die Rose zuerst für unwichtig, aber dann fiel ihr schnell wieder ein, dass der Soldat Marys Rose mit in die Schlacht genommen hatte.
Während ihr Herz raste und sie draußen die Kanoneneinschläge hörte, kniete sie sich auf die Erde und kam sich etwas albern vor, weil sie eine Rose suchte …
Da war sie! Ihre Handfläche schloss sich um die zarten getrockneten Blütenblätter, die sich unter ihrem Griff vom Stiel lösten. Sie legte die Blume vorsichtig in das Taschentuch und steckte es ein. Als sie sich zum Gehen wandte, sah sie die Verwundeten, die noch im Zelt lagen.
So viele …
Ihr Blick fiel auf einen Soldaten, der aufzustehen versuchte – ein Mann, den Dr. Rankin zur Operation auf die Liste gesetzt hatte – und mit einer Kraft, die sie sich nicht zugetraut hätte, zog sie ihn auf die Beine, legte seinen Arm über ihre Schultern und brachte ihn halb ziehend, halb tragend zum Krankenwagen. Jemand hinter ihr hob sie hoch und schob sie neben ihn in den Wagen, als ein zweiter schriller Pfiff über ihr ertönte.
Eleanor hielt sich die Arme über den Kopf und wappnete sich für den Einschlag. Sie dachte an Teddy und betete, dass er nicht tot wäre. Sie nahm sich fest vor, dass sie, falls sie überlebte und dieser furchtbare Krieg je zu Ende ginge, sich so weit vom Tod und von Sterbenden fernhalten wollte, wie sie nur irgend konnte. Und sie würde dafür sorgen, dass ihr Leben nicht sinnlos wäre.
Außerdem würde sie die Witwe dieses Soldaten suchen, sein Mary-Mädchen, wer auch immer diese Frau war, und ihr sagen, was er gesagt hatte. Und sie fragen, was er damit gemeint hatte.
1
2. September 1868
Nashville, Tennessee
Eleanor wusste in ihrem Herzen, dass das, was sie tat, richtig war. Wa-rum widersprach ihr Herz ihr dann jetzt, da der Tag endlich gekommen war, so vehement?
Ihr Vater saß ihr gegenüber in der Kutsche und starrte ernst und mit auf dem Schoß gefalteten Händen aus dem Fenster. Ganz anders als noch vor wenigen Momenten, als sie nach Nashville hineingefahren waren. Er hatte in seiner Begeisterung, als die Kutsche sie durch die Innenstadt gefahren hatte, fast kindlich gewirkt.
Sie hatte den Kutscher gebeten, zuerst vor dem Postamt anzuhalten. Sie bräuchte nur einen Moment und wäre gleich zurück. Sie wollte den unterschriebenen Vertrag für ihr Gespräch heute Nachmittag in der Hand haben, und der Eigentümer des Gebäudes, mit dem sie in den letzten Wochen korrespondiert hatte, hatte gesagt, dass er ihn für sie auf dem Postamt hinterlegen würde.
„Ich fahre dorthin, um mich zu erholen“, sagte ihr Vater leise, aber sein Tonfall grenzte eher an eine Frage als an eine Feststellung.
Da sie wusste, was er meinte, nickte Eleanor. „Ja … Papa, das ist richtig. Und es ist nur für kurze Zeit.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln, um ihre Aussage zu unterstreichen, und betete, dass der Arzt mit seiner Prognose recht behielte.
Wann genau ihre Rolle von der der Tochter in die der Pflegerin umgeschlagen war, konnte sie nicht genau sagen. Aber als sie den groß gewachsenen Mann, der ihr in der Kutsche gegenübersaß, anschaute – einen Mann, mit dem sie mehr Ähnlichkeit hatte, als für eine Tochter vielleicht gut war –, sehnte sie sich tief in ihrem Herzen danach, wieder sein kleines Mädchen zu sein. Sein Kind, das, wenn es in die warmen, braunen Augen seines Vaters sah, gewusst hatte, dass alles auf der Welt in Ordnung war. Dass sie bei ihm sicher sein konnte und alles einen Sinn ergab.
Aber dieses kleine Mädchen gab es nicht mehr. Und auch nicht diesen Vater.
Die Kutsche verlangsamte ihr Tempo, und Eleanor erblickte das Postamt vor sich. „Papa, ich muss kurz etwas erledigen. Aber ich brauche nicht lange.“
Er schaute aus dem Fenster. „Vielleicht sollte ich mitkommen. Ich könnte dir helfen …“
„Das ist nicht nötig“, sagte sie ein wenig zu schnell und bedauerte es sofort. Sie nahm sein Buch. „Warte doch einfach hier und lies an der Stelle weiter, an der wir aufgehört haben. Dann können wir über den Text sprechen, wenn ich zurück bin.“
Er sah nicht überzeugt aus, als er das Buch in seinen Händen betrachtete und dann schließlich nickte. „Du kommst wieder, nicht wahr?“
„Natürlich komme ich wieder, Papa.“ Sie drückte ihm beruhigend die Hand, aber die Schuldgefühle, die sie schon eine ganze Weile quälten, wurden noch stärker.
Der Kutscher öffnete die Tür, und Eleanor eilte ins Postamt. An der Tür blieb sie kurz stehen und schaute sich um. Ihr Vater las und bewegte dabei die Lippen. Sie hatte nicht das Risiko eingehen wollen, ihn mitzunehmen, da die Anfälle in letzter Zeit immer häufiger kamen. Seine Launen waren unvorhersehbar.
Es waren mehr Kunden im Postamt, als sie erwartet hatte. Die Schlange reichte fast bis zur Tür. Sie warf einen Blick auf die Uhr, die mit einem Anhänger an ihrem Rockbund befestigt war. Sie hatte bis zum Termin ihres Vaters noch ein wenig Zeit, und sie brauchte diesen Vertrag.
Die Schlange bewegte sich langsamer vorwärts, als ihr lieb war. Nach einer Weile fiel ihr Blick aus dem Fenster auf die Kutsche, und sie erstarrte, da sie ihren Vater nicht mehr sah.
Sie verdrehte sich den Hals und neigte sich auf eine Seite. Vielleicht hatte er sich auf die andere Bank in der Kutsche gesetzt. Er hatte heute Morgen auf der Fahrt von Murfreesboro hierher schon zweimal darauf bestanden, die Plätze zu tauschen, und behauptet, es bringe Unglück, wenn man während der ganzen Fahrt immer nur in einer Richtung säße. Dann fiel ihr Blick auf die Kutschentür.
Sie stand offen.
Sie raste aus dem Postamt und sah, dass der Fahrer immer noch auf dem Kutschbock saß, aber die Kutsche war leer. Ihr Vater war nirgends zu sehen.
„Armstead!“, rief sie zum Kutscher hinauf und suchte die Straße ab. „Mein Vater. Er ist verschwunden.“
Der Fahrer stand eine Sekunde später verwirrt neben ihr. „Entschuldigung, Miss Braddock. Gerade war er noch da.“
„Gehen Sie in diese Richtung.“ Sie deutete mit der Hand. „Wenn Sie ihn zuerst finden, versuchen Sie bitte, ihn zu beschwichtigen, damit er sich nicht aufregt. Wir wollen eine Szene vermeiden.“
„Ja, Madam!“
Eleanor lief in die andere Richtung los und schaute in Geschäfte und Läden hinein. Sie versuchte, nicht daran zu denken, was ihr Vater in letzter Zeit alles angestellt hatte, oder was passieren könnte, falls ihn jemand ansprechen würde und er sich aufregte.
Das hohe Lachen erregte ihre Aufmerksamkeit als Erstes. Dann sah sie ihn auf der anderen Straßenseite. Er schaute in das Schaufenster eines Kurzwarenladens.
Sie wich einem Lastkarren und einer anderen Kutsche aus und erreichte die andere Straßenseite, aber ihr Vater hatte bereits den Laden betreten und eine Schleifenrolle und eine Schere aus dem Regal genommen.
Er erblickte sie. „Eleanor! Ist das nicht hübsch? Ich dachte, das würde dir gefallen. Du trägst doch gern Schleifen in den Haaren.“
Es gelang ihr, ihm die Schere abzunehmen, aber die Schleifenrolle steckte er in die Tasche.
„Papa, sie ist hübsch, aber ich trage keine Schleifen mehr in den Haaren.“ Eleanor holte die Rolle aus seiner Tasche und stellte sie wieder ins Regal zurück. Ihr Blick fiel auf einen Mann, wahrscheinlich der Ladenbesitzer, der direkt auf sie zusteuerte. Der Mann sah bestürzt in ihre Richtung.
Er schaute zuerst ihren Vater und dann sie finster an. „Kann ich Ihnen helfen?“
Eleanor bemühte sich, ihre Verlegenheit nicht zu zeigen. „Wir haben uns nur umgesehen, Sir. Und jetzt …“ Sie nahm ihren Vater am Arm. „Wenn Sie uns bitte entschuldigen.“
Eleanor fühlte den Blick des Ladenbesitzers in ihrem Rücken, während sie eilig das Geschäft verließ. Sie war dankbar, als sie Armstead auf sich zukommen sah. Mit seiner Hilfe gelang es ihr, ihren Vater ohne weitere Zwischenfälle wieder in die Kutsche zu setzen.
„Dieses Mal passe ich auf, Miss Braddock“, versprach der Kutscher. „Sie können ruhig ins Postamt gehen, Madam, wenn Sie wollen.“
Als sie daran dachte, was sie heute Nachmittag erwartete, hatte Eleanor das Gefühl, dass ihr keine andere Wahl blieb.
Markus Geoffrey atmete tief ein und stellte erneut seinen Wunsch, das Leben eines gewöhnlichen Bürgers zu führen, infrage. Die Schlange auf dem Postamt reichte fast bis zur Tür, und er rechnete damit, dass er mindestens zehn Minuten warten müsste. Anscheinend war Geduld eine Tugend, die Gott ihn lehren wollte.
Die Tür zum Postamt ging hinter ihm auf, und eine ältere Frau trat ein. Sie ging leicht gebeugt und bewegte sich mit unsicheren Schritten. Im selben Moment ließ ein Windstoß die Tür weit auf- und wieder zurückschwingen. Die Frau wollte sie festhalten und stolperte dabei. Markus fing sie auf und hielt die Tür fest, bevor sie mit Wucht an die Wand knallen konnte.
„Oh, danke, Sir.“ Sie berührte dankbar seine Hand, die sie stützte, und fand das Gleichgewicht wieder. „Ich bin nicht mehr so flink wie früher.“
„Wer von uns ist das schon, Madam?“
Sie schaute ihn freundlich an, und Markus, der an seine eigene, geliebte Mutter dachte, die viel zu früh gestorben war, lud die Frau ein, sich vor ihn in die Schlange zu stellen. Er zog ein Blatt Papier und einen Stift aus seiner Jackentasche und nutzte die Gelegenheit, um eine Idee für das Lagerhaus zu skizzieren, das seine Leute zurzeit renovierten. Ihm war die Idee schon heute Morgen gekommen, aber er hatte noch keine Zeit gehabt, um …
„Ja, das ist richtig. Der Herr hat gesagt, dass er es hier für mich hinterlegen würde“, erklärte eine Frauenstimme vor ihm. „Könnten Sie bitte noch einmal nachsehen?“
Markus hob langsam den Kopf und war neugierig, welcher Frau diese betörende Stimme gehörte.
„Ja, Sir“, sprach sie weiter. „Wenigstens habe ich das so verstanden.“
Markus sah zum Schalter und entdeckte die Frau. Besser gesagt, die rosa Farbenpracht, in der irgendwo eine Frau steckte, die mit dem Postbeamten sprach. Ihr Akzent verriet, dass sie hier aus der Gegend von Nashville stammte, aber es lag ein angenehmer, fast sinnlicher Unterton in ihrer Stimme. Ihre Stimme klang so erfrischend wie ein kühler Windhauch an einem heißen Sommertag. Aber ihre Kleidung …
Ihr Oberteil und ihr Rock waren maßgeschneidert und bildeten mit der auffallenden Farbe einen deutlichen Kontrast zu den Schwarz-, Grau- und Dunkelblautönen, die die meisten anderen Kunden im Postamt trugen.
„Es tut mir leid, Madam, aber hier ist nichts, auf das Ihre Beschreibung passt. Es gibt auch keinen Vermerk, dass etwas nach Belmont geschickt worden wäre.“
Sie seufzte und ihre Schultern sackten nach unten.
Obwohl er sie nur von hinten sah und ihr nicht vorgestellt worden war, wusste Markus, wen er vor sich hatte. Persönliche Angelegenheiten führten ihn fast jeden Tag auf das eindrucksvolle Anwesen ihrer Tante, und er hatte gehört, wie Mrs Adelicia Acklen Cheatham davon gesprochen hatte, dass diese Frau bald einträfe. Sie hatte ihren Wunsch geäußert, dass die junge Dame jeden auf Belmont kennenlernen sollte.
Aber da er schon mehr als genug reiche, gebildete, übereifrige Frauen auf der Suche nach einem Ehemann in seinem Leben kennengelernt hatte – obwohl diese Frau größer war als die meisten anderen Frauen und die Nichte der reichsten Frau Amerikas –, hatte er nicht die Absicht, ihre Bekanntschaft zu suchen oder eine solche Bekanntschaft irgendwie zu fördern.
Falls sie versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen, wäre er freundlich, beschloss er, sogar halbwegs umgänglich, da Adelicia Acklen Cheatham sehr entgegenkommend war. Aber darüber hinaus würde er alle Versuche aufseiten der jungen Frau, ihn für sich zu gewinnen, bestimmt, aber freundlich im Keim ersticken.
In diesem Moment drehte sich die Dame um und steuerte direkt auf ihn zu.
Er bemühte sich um eine gleichgültige Miene und wiederholte im Geiste die Worte noch einmal. Bestimmt, aber freundlich.
Die Frau warf jedoch noch nicht einmal einen kurzen Blick in seine Richtung, als sie an ihm vorüberging.
Markus fühlte sich irgendwie zurückgewiesen, und dieses Gefühl gefiel ihm überhaupt nicht, während er ihr nachschaute, wie sie das Postamt verließ. Er war es nicht gewohnt, ignoriert zu werden. Ihre Aufmerksamkeit war eindeutig auf etwas anderes gerichtet. Er beobachtete sie, als sie auf eine wartende Kutsche zuging, wo der Kutscher sie bereits an der Tür empfing.
Sie war groß und blond und hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrer Tante, die eine zierliche, brünette Frau war. Trotz ihres reifen Alters war Adelicia Cheatham immer noch eine faszinierende, dunkelhaarige Schönheit. Diese Frau hingegen war zwar ganz gewiss nicht unattraktiv, aber ihre Züge waren weniger auffallend und auf jeden Fall weniger zart. In ihren Gesichtszügen lag mehr Stärke. Man könnte sie sogar als gut aussehend beschreiben. Und er vermutete, dass sie älter war, als er im ersten Moment gedacht hatte …
„Sir?“
Markus drehte sich um.
Die ältere Frau, der er vorher geholfen hatte, stand bereits ein gutes Stück vor ihm in der Schlange. Sie lächelte und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, weiterzugehen.
Etwas peinlich berührt, schloss Markus zu ihr auf, warf dann aber noch einmal einen Blick durch das Fenster und sah, dass die Frau gerade in die wartende Kutsche einstieg.
Es war lange her, dass er auf eine Frau aufmerksam geworden war, die ihm nicht mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit entgegengebracht hatte. Doch wenn er es wirklich darauf angelegt hätte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, wäre ihm das selbstverständlich gelungen, beruhigte er sich.
Aber das war eigentlich bedeutungslos, denn er hatte von solchen Frauen genug. Und die Frau, mit der er verlobt war, wollte er nicht. Er atmete schwer aus. Aber daran könnte er nichts ändern.
Einige Minuten später stand er am Schalter.
„Guten Tag, Mr Geoffrey“, begrüßte ihn der Schalterbeamte und stand schon von seinem Hocker auf. „Wir haben etwas für Sie, Sir. Es traf heute Morgen ein.“
Markus freute sich über diese Auskunft und wartete. Aber als er einen Briefumschlag statt einer Schachtel oder Kiste sah, wurde seine Freude schnell getrübt. „Sonst nichts?“, fragte er.
Der Postbeamte schüttelte den Kopf. „Das ist alles. Tut mir leid, Sir.“
Markus zwang sich zu einer höflichen Antwort und trat mit dem Brief in der Hand zur Seite. Der Poststempel verriet ihm, woher der Brief kam, noch bevor er den Absender las. Er riss den Umschlag auf und fand einen zweiten Umschlag darin. Als er das königliche Wachssiegel sah, versteckte er es schnell. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, eine unsichtbare Schlinge ziehe sich um seinen Hals zusammen.
Onkel Franz hatte ihm noch nie geschrieben, und Markus wusste nur zu gut, wer ihn dazu veranlasst hatte. Er wollte den Brief schon wegstecken, um ihn später zu lesen, dachte aber an die Gesundheitsprobleme seines Vaters und entschied sich anders. Er trat in eine ruhige Ecke des vollen Postamts und öffnete den Brief.
Sein Blick fiel auf die Begrüßung und die ersten Zeilen des Briefes, und er erkannte schnell, dass der Gesundheitszustand seines Vaters nicht der Grund für dieses Schreiben war. Es ging darin um etwas anderes.
An den Erzherzog Gerhard Markus Gottfried von Habsburg …
Dass sein Onkel seinen offiziellen Namen und Titel benutzte, unterstrich auf unangenehme Weise die Absicht dieses Briefes. Markus war erneut sehr dankbar, dass ihn ein ganzer Ozean von dem trennte, was er hinter sich zurückgelassen hatte – wenigstens noch eine Weile.
Sein Blick überflog die Begrüßungsfloskeln und wanderte nach unten.
Im nächsten Juni, Gerhard, läuft die Frist, die du dir erbeten hast, ab. Dann kehrst du, entsprechend unserer Abmachung, zurück, um deine Pflichten gegenüber der Krone und deinem Land zu erfüllen. Wer privilegiert geboren ist, muss seine Verantwortung mit Anstand und Ehre tragen, unabhängig von seinen persönlichen Gefühlen und ungeachtet seiner …
Markus faltete den Brief zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück. Wenn er einen Befehl seines Onkels, des Kaisers von Österreich, nur genauso leicht ignorieren könnte, wenn er persönlich vor ihm stünde. Er kannte die Worte seines Onkels auswendig. Er hatte sie als Junge unzählige Male gehört, weil er einer der möglichen österreichischen Thronfolger war, hinter seinem Vater und seinem älteren Bruder.
Aber in den Wochen, bevor er das Land verlassen hatte und nach Amerika gegangen war, hatte er sie noch viel öfter gehört. Damals hatten die österreichischen Zeitungen berichtet, dass er „dank glücklicher Umstände“ jetzt in der Thronfolge aufgerückt war.
Er hatte nie das Ziel gehabt, Kaiser von Österreich zu werden, und hatte nicht einmal im Traum daran gedacht, dass es eines Tages dazu kommen könnte. Er glaubte auch jetzt noch nicht, dass es dazu käme. Immerhin erfreute sich sein Onkel bester Gesundheit.
Er konnte es nicht fassen, dass schon fast ein Jahr vergangen war, seit er seine Heimat verlassen hatte. Er war immer noch ein wenig überrascht, dass sein Onkel und sein Vater damals eingewilligt hatten, dass er eine Weile nach Amerika ging. Aber nach Rutgers Tod hatte sich alles verändert.
Auch er hatte sich verändert.
Sowohl sein Onkel als auch sein Vater waren sich einig gewesen, dass eine gewisse Zeit außer Landes gut für ihn wäre, und angesichts der Gerüchte, die wegen Rutgers Tod kursierten, auch gut für das Haus Habsburg. „Es ist besser, wenn man dich eine Weile in der Öffentlichkeit nicht sieht“, hatte Onkel Franz geraten. „Warten wir, bis Gras über den Skandal gewachsen ist und die Leute die Sache vergessen. Das ist in solchen Fällen immer so. Man braucht nur Zeit und muss warten, bis etwas anderes kommt, auf das sich die Zeitungen stürzen können. Und wenn du dir unbedingt noch die Hörner abstoßen musst, dann sei bitte diskret. Wir brauchen auf keinen Fall auch noch einen amerikanischen Skandal.“
Der letzte Brief seines Vaters hatte bestätigt, dass Onkel Franz’ Vorhersage eingetroffen war. Die Gerüchte verstummten immer mehr. Die Leute vergaßen, was passiert war.
Aber Markus könnte es nie vergessen.
Wenn es im Land politische Unruhen gegeben hätte, hätten sein Onkel und sein Vater ihm nie erlaubt, Europa zu verlassen. Aber im Kaiserreich herrschte Frieden. Das Schiff segelte in ruhigen Gewässern, wie sein Onkel bei seiner Abreise gesagt hatte.
Trotzdem – Markus schaute auf den Umschlag – hielt es Onkel Franz offenbar für nötig, ihn an seine Pflichten zu erinnern. Als ob er sie je vergessen könnte! Er liebte sein Land und seine Familie, auch wenn viele in der Familie von Ehrgeiz und Habgier getrieben wurden. Der Grund, warum er gern auf die Krone verzichten würde, war nicht mangelnde Liebe oder fehlender Respekt.
Er hatte einfach nicht den Wunsch, sein Land zu regieren. Diese Seite des Lebens kannte er bereits zu Genüge. Jetzt wollte er eine andere Seite sehen.
Als er wieder auf der Straße stand, atmete Markus die frische Luft ein und roch, dass der Herbst in der Luft lag. Er suchte die Hauptstraße nach der Kutsche ab. Und nach Mrs Cheathams Nichte. Ihm fiel wieder ein, dass sie ihn völlig übersehen hatte, aber jetzt konnte er sogar darüber schmunzeln. Vielleicht ging ihm allmählich seine Anziehungskraft auf Frauen verloren.
Oder Adelicias Nichte hatte mehr Ähnlichkeit mit ihrer Tante, als man auf den ersten Blick sah. Er lächelte. Adelicia Cheatham war in jeder Hinsicht eine selbstbewusste Frau. Er hatte sie schon öfter in der Stadt gesehen. Sie hielt den Kopf hoch und schaute weder nach rechts noch nach links. Sie schien gegen gesellschaftlichen Druck immun zu sein.
Nach seinem nächsten Termin wollte er nach Belmont reiten, um nach seinen Pflanzen im Gewächshaus zu sehen. Vielleicht hätte er dabei Gelegenheit, die Bekanntschaft von Adelicia Cheathams Nichte zu machen. Natürlich aus rein gesellschaftlichen Gründen. Internationale Beziehungen, sozusagen.
Er hielt kurz in seinem Zimmer in der Pension an und verstaute den Brief seines Onkels in der Zederntruhe am Fußende des Bettes. Als er den Deckel zuklappte, blieb seine Hand auf der kunstvoll geschnitzten Holzarbeit liegen. Er hatte verständlicherweise nicht viele Möbel mitgenommen, als er Österreich verlassen hatte. Aber diese Truhe hatte er nicht zurücklassen können.
Sein Großvater mütterlicherseits – ein bescheidener, unauffälliger Mann – hatte erstaunliche Fertigkeiten besessen, eine Gabe, die Markus geerbt hatte. Er fuhr mit der Hand über die Kanten der Truhe und erkannte mit Leichtigkeit die künstlerischen Versuche eines weniger begabten, neunjährigen Jungen. Erneut schätzte er die Erinnerung an den Mann, dem die Zeit, die er zusammen mit seinem Enkel beim Bau der Truhe verbracht hatte, wichtiger gewesen war als Perfektion.
Markus stand auf und war froh, dass er die Truhe mitgebracht hatte. Sie passte gut in diese Umgebung.
Er hatte sich an die spärliche Einrichtung seiner derzeitigen Unterkunft, die das genaue Gegenteil des Palastes und der Privatresidenz seiner Familie war, gewöhnt und schätzte sie sogar. Er hätte bei seiner Ankunft in Nashville ein Haus mieten oder gar kaufen können. Aber das hätte im Widerspruch zu der Entscheidung gestanden, die er getroffen hatte, bevor er in dieses Land gekommen war.
Er wollte erfahren, wie gewöhnliche Bürger lebten, und lernte dabei sehr viel über sich selbst, auch wenn ihm vieles, das er bei sich entdeckte, nicht gefiel.
Sein Onkel hatte ihn ermahnt, in diesem Land keinen Skandal auszulösen, aber das war das Letzte, worum sein Onkel sich Sorgen machen musste. Mit diesem Teil seines Lebens hatte Markus abgeschlossen. Keine Frauen mehr und keinen Alkohol mehr. Wenigstens nicht im Übermaß. Er wollte sein Leben nicht länger vergeuden, wie er es bisher getan hatte.
Er unterbrach diesen Gedankengang und schritt in Richtung des Gerichtsgebäudes der Stadt. Ein leichtes Pochen setzte in seinem Hinterkopf ein. Vielleicht hatte er zu viel gearbeitet. Er hoffte, seine Leute, die das Textillager auf der anderen Seite der Stadt renovierten, kämen weiterhin so gut voran. Sie waren mit der Arbeit eine Woche weiter als geplant, und er wollte, dass es so bliebe.
Er betrachtete den endlosen, blauen, wolkenlosen Himmel und ließ seinen Blick über die saftigen Hügel wandern, die die Stadt umgaben. Im Geiste sah er die schneebedeckten Alpen seiner Heimat vor sich.
Als er auf sein Leben zurückblickte, wurde ihm bewusst, wie viel Zeit er vergeudet hatte und dass ein großer Teil seines Lebens von anderen bestimmt worden war. Er war privilegiert aufgewachsen, daran bestand kein Zweifel, mit reichlich Gelegenheit zu studieren und zu lernen. Aber auch mit reichlichen Verpflichtungen. Immer wieder Verpflichtungen.
Der Süden der USA war durch den Krieg und seine Nachwirkungen viel stärker zerstört, als er sich vorgestellt hatte. Sein Können wurde hier gebraucht. Das war so anders und so befreiend, dass er das Leben, das er in Österreich geführt hatte, fast vergessen konnte. Er hatte nach Amerika kommen wollen, seit er als Junge von seinem Hauslehrer das erste Mal von den „dreizehn tapferen kleinen Kolonien“, den ursprünglichen Kolonien der ersten Siedler, gehört hatte. Aber erst als ein Lehrer ihn mit Luther Burbanks Schriften bekannt gemacht hatte und Markus Gelegenheit bekam, den berühmten Botaniker persönlich kennenzulernen und sein Gewächshaus in Boston mit Tausenden von Pflanzen zu besuchen, hatte sein Traum Wurzeln geschlagen.
Auch wenn dieser Traum vielleicht nur von kurzer Dauer wäre.
Tamera Alexander
Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.
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